Zwei Opfer von exhibitionistischen Taten sind die beiden Studentinnen Emma* und Maria*. Ihre Beschreibungen ähneln sich, sowohl was das Aussehen des Täters als auch sein Vorgehen betrifft. Trotzdem lässt sich nicht ausschließen, dass es sich um verschiedene Männer handelt. Emma beschreibt, am Mittwoch, den 8. Dezember 2021 im Lesebereich West der Albertina gesessen zu haben. Gegen 21:20 Uhr setzte sich ein Mann an denselben Tisch, berichtet die Studentin ─ »obwohl es leer war«. Er habe zunächst in Soziologiebüchern gelesen und vermutlich begonnen zu masturbieren. »Ich habe die Hose rascheln gehört.«Als sie aufblickte, habe Emma gesehen, dass der Mann seinen Penis in der Hand hielt. Daraufhin habe sie die Bibliothek verlassen.
Am 27. November 2021 ─ einem Samstag ─ sei Maria nachmittags in dem Lesebereich Mitte im dritten Stockwerk der Albertina gewesen. Der Täter habe sich an denselben Tisch gesetzt, direkt gegenüber. »Wir schauten beide auf unsere Bildschirme. Nach einer halben Stunde habe ich aus dem Augenwinkel gesehen, dass er ein Bein angewinkelt über das andere gelegt hatte. Ich hatte das Gefühl, er würde masturbieren.«Maria berichtet, weggeschaut und weitergelernt zu haben. Zwischendurch seien vereinzelt Personen vorbeigelaufen. Kurze Zeit später sei der Täter aufgestanden und vor dem Tisch stehengeblieben. »Er hatte die Hose geöffnet und zeigte mir seinen Penis. Ich habe ihn entgeistert angeschaut und meine Sachen zusammengepackt.« Von ihm sei keine Reaktion gekommen.
»Das Haus war rappelvoll«
Die Studentin Amelie* hat ebenfalls einen masturbierenden Mann auf frischer Tat erwischt. Sein Aussehen beschreibt sie ähnlich wie Emma und Maria, allerdings verbunden mit einem anderen Tathergang. Am 12. Januar 2022, einem Mittwoch, habe sie sich mittags für einige Stunden in der Albertina im Lesebereich West aufgehalten. Dabei sei Amelie ein Mann unangenehm aufgefallen: »Er stand die ganze Zeit zwischen den Bücherregalen, als würde er sich dort verstecken.« Als sie die Bibliothek verlassen wollte, habe er an derselben Stelle gesessen, ein Buch vor seinem erigierten Penis. Sie habe daraufhin den Mitarbeiter am Empfang informiert.
Die Bereichsleiterin Lucia Hacker berichtet auf diesen Fall bezogen: »Die Wachdienste sind sofort losgelaufen und haben Extra-Runden gedreht, aber niemanden gefunden.« Der Fall habe sie fassungslos gemacht, »vor allem, da es keine ruhige Randstunde war, das Haus war rappelvoll und offensichtlich hatte sich der Täter in einem stark frequentierten Teil aufgehalten.« Lucia Hacker ist neben den Schilderungen von Emma, Maria und Amelie noch ein vierter Fall bekannt, der sich in der Campus-Bibliothek abspielte. Auch dort habe sich das Opfer an den Wachdienst gewandt, der Täter sei daraufhin geflohen.
»Das kann gar nicht sein«
Exhibitionismus ist eine Straftat. Laut § 183 Exhibitionistische Handlungen des Strafgesetzbuches (StGB) kann »ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung belästigt« mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden. Für weibliche und diverse Menschen, die exhibitionistische Handlungen durchführen – was sehr selten vorkommt –, gilt § 183a StGB Erregung öffentlichen Ärgernisses, der die selbe Strafe vorsieht. Auf Anfrage berichtet die Polizei Leipzig, ihnen seien für das Jahr 2021 Fälle im oberen zweistelligen Bereich bekannt. Genaue Fallzahlen werden erst in diesem Frühjahr veröffentlicht.
»Die Polizei rät bei solchen Delikten immer auf die eigene Sicherheit zu achten. Suchen Sie nach Möglichkeit Hilfe bei anderen Personen und entfernen Sie sich zügig vom Ort«, heißt es außerdem von Seiten der Stabsstelle Kommunikation der Polizeidirektion Leipzig.
Georg Teichert leitet die Stabsstelle Chancengleichheit, Diversität und Familie der Universität Leipzig. Er betont, dass es gut möglich sein kann, in solch einer Situation wie gelähmt zu sein. Das bestätigt auch Marias Erzählung. Sie sei sehr schockiert gewesen. »Mein Wunsch bestand nur darin nach Hause zu kommen«, erzählt sie. »Heute wäre ich besser darauf vorbereitet, ich würde den Täter direkt ansprechen und ihm sagen, dass ich der Security Bescheid gebe.« Auch Amelie reflektiert ihre Reaktion auf die Straftat: »Ich finde es schade, dass man erst einmal an sich selbst zweifelt und denkt: Das kann gar nicht sein.«
Anzeige erstatten
Emma und Maria haben sich beide gegen eine Anzeige entschieden. Emma war sich zunächst unsicher, ob sie die Situation richtig interpretiert hatte. Außerdem könne sie den Täter nicht gut beschreiben. Insgesamt schätzt sie die Chancen gering ein, dass er aufgrund ihrer Beschreibungen gefunden werden könnte. Maria geht es ähnlich. Außerdem habe sie zu dem Zeitpunkt der Tat wenig Kapazitäten gehabt, um Anzeige zu erstatten. Die Sorge, dass eine Anzeige viel Zeit in Anspruch nehmen könnte, wird von Seiten der Polizei bestätigt. Denn in den meisten Fällen sei eine nochmalige Vernehmung nötig, um Angaben zu konkretisieren.
»Man darf Opfer solcher Straftaten nicht unter Druck setzen«, betont der Gleichstellungsbeauftragte Georg Teichert. Er wolle Opfer unterstützen und ihnen Optionen aufzeigen; aber die Entscheidung für oder gegen eine Strafanzeige sei ihnen selbst überlassen. Eine Option: Anzeige erstatten mit Begleitung der Frauenbeauftragten und Ansprechperson für LSBTTIQ* der Polizei Leipzig, Susann Neuber.
Langfristige Folgen
Lucia Hacker hat in ihrer Funktion als Bereichsleiterin im Januar dieses Jahres Anzeige gegen unbekannt erstattet. Denn die Polizei geht einem Fall unabhängig davon nach, wer sie darüber in Kenntnis gesetzt hat. Für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist nicht zwingend erforderlich, dass sich das Opfer bei ihr meldet.
Hanna König ist Referentin vom Referat für Gleichstellung und Lebensweisenpolitik (RGL) des Student_innenRat der Universität Leipzig. Am 21. Januar hat sich das RGL mit der stellvertretenden Bibliotheksdirektorin Charlotte Bauer und mit Caroline Bergter, der Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Universitätsbibliothek getroffen. »Wir fanden gut, wie engagiert sich die beiden gezeigt haben«, erzählt Hanna König. Seitens der Bibliothek gebe es nun konkrete Pläne, gegen die Vorfälle vorzugehen. Seit Montag klärt die Universitätsbibliothek auf ihrer Website, Instagram, Twitter und Facebooküber die Taten auf.
Dort heißt es: »Wir sind erschüttert über die Vorfälle und nehmen diese sehr ernst. Die Mitarbeiter*innen der UBL und das Wachpersonal in den Standorten sind informiert und sensibilisiert, es werden zusätzliche Rundgänge vorgenommen.« Das RGL des StuRa fordert außerdem, Schulungen für das Sicherheitspersonal im Bereich Awareness durchzuführen. Langfristig wolle die Bibliothek dies umsetzen.
Zudem plant das RGL eine eigene Kampagne, bei der Erfahrungsberichte von Opfern sexualisierter Gewalt anonymisiert veröffentlicht werden sollen. »Betroffene können sich immer gerne an uns wenden«, so Hanna König. Man wolle so mit der weit verbreiteten Ansicht brechen, im akademischen Kontext gebe es keine sexuellen Übergriffe.
Pauline Reinhardt
* Namen geändert, die richtigen liegen der Redaktion vor