Kurz nach der Wiedereröffnung der Kinos werden wir mit einem der am meisten erwarteten Filme des Jahres beschenkt: Fünf Jahre nach »Der seidene Faden« gibt es ein neues Werk von Paul Thomas Anderson. Mit gerade mal acht Filmen hat der 51-Jährige bereits Filmgeschichte geschrieben. Sein Neunter, »Licorice Pizza«, entführt uns ins San Fernando Valley in den Siebzigern und erzählt eine Liebesgeschichte und – seien wir doch mal ehrlich – genau das ist es, was wir gerade jetzt brauchen. Ganz viel Liebe für das Kino des New Hollywood gibt es als Sahnehäubchen oben drauf. Unsere Empfehlung: Gehen Sie ins Kino!
Film der Woche: Ganz selten gibt es Filme, die melancholisch und sehnsüchtig machen, ohne dass man je in der Zeit oder an dem Ort der Handlung gelebt haben muss. Regisseur und Drehbuchautor Paul Thomas Anderson (»Magnolia«, »There Will Be Blood«) bringt mit seinem neuen Coming-Of-Age-Drama eine Liebeserklärung zur eigenen Jugend im Kalifornien der 70er Jahre auf die Leinwand. Er begleitet den 15-jährigen Gary (Cooper Hoffman) und die 25-jährige Alana (Alana Haim) auf ihrem schweren Weg zum Erwachsenwerde, dem Finden und Lösen von Vorbildern, der wahren Liebe und dem Drang nach Bedeutung. Eine weiche Farbgebung, das wunderschöne Szenenbild und ein körniges Bild helfen ihm dabei, die Zuschauer in die diffuse, von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägte Welt der US-amerikanischen Siebziger mitzunehmen. Anderson lässt die Zuschauer über 133 Minuten mit seinen verschrobenen und doch irgendwie immer liebenswürdigen Figuren mitlachen und mitfühlen und wer drauf achtet, wird sich fast dauerhaft mit einem breiten Grinsen im eigenen Gesicht erwischen. Mit der Musik von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood, die unter weiten Teilen der Handlung liegt, wirken viele Szenen melodisch und rhythmisch. So entsteht ein insgesamt lockerleichtes Feeling, das den Problemen und Emotionen der Figuren allerdings nie entgegensteht. Der Film mag eine leichte Länge im letzten Drittel haben und – genregegeben – werden die Randfiguren nur auf einem Stück ihres Weges begleitet und eben nicht in einen abgeschlossenen Handlungs- und Spannungsbogen gezwängt. Trotzdem (oder gerade deshalb) bleibt ein zutiefst persönliches und authentisches Werk, was sich den Lebensrealitäten junger Menschen in gewissenhafter Weise annimmt. »Licorice Pizza« dürfte damit schon jetzt einer der emotionalsten und trotzdem lustigsten Filme des Jahres sein.
KAI REMEN
»Licorice Pizza«: ab 27.1., Passage Kinos, Regina Palast
Eine trostlose chinesische Trabantenstadt in der flirrenden Hitze des Sommers. Ming Xue wandelt durch die Nacht wie ein Untoter. Seit er auf dem Heimweg einen Mann angefahren hat, kann er nicht mehr schlafen. Die Schuld verfolgt ihn. Er provoziert Schlägereien, um sich selbst zu bestrafen, findet aber keine Vergebung. Als der Installateur für Klimaanlagen der Witwe des Verstorbenen begegnet, kann er ihr nicht die Wahrheit gestehen. Zu Ming Xues Überraschung scheint die Frau auch keine Trauer zu empfinden, über den Verlust des Ehemanns. In dem Fremden findet sie eine Schulter zum Anlehnen. Was als Drama über Schuld und Verlust beginnt, wandelt sich zum düsteren Thriller. Regisseur Wen Shipei jongliert in seinem eindrucksvollen Regiedebüt virtuos mit Genres und Stilmitteln. Seine Inspiration findet er im deutschen Expressionismus. Die langen Schatten der Verfolger, das fahle Neonlicht, die rotgefärbten Bilder der Nacht erinnern an das europäische Kino und die Meister des Film Noir wie Polanski und Hitchcock. Die fiebrige Atmosphäre, der mächtige Monsunregen in den hünenhaften Bambuswäldern, Leichen in verlassenen Industrieruinen und Shoot-Outs in dunklen Gassen sind zugleich deutliche Verweise an das Hongkong-Kino von Johnny To oder John Woo. Die atmosphärischen Bilder von Kameramann Andreas Thalhammer (»Wilde Maus«) und die disharmonischen Klänge von Hank Lee schrauben zusätzlich am Suspense-Meter.
»Are you lonesome tonight?«: ab 27.1., Luru Kino in der Spinnerei
Weitere Filmtermine der Woche
Ammonite
GB 2020, R: Francis Lee, D: Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, 120 min
Regina-Palast: 30.01., 17:00
Britisches Drama, in dem sich zwischen der Fossilienforscherin Kate Winslet und der sich von einer Krankheit erholenden Saoirse Ronan in den Vierzigern des 19. Jahrhunderts eine unerwartet enge Freundschaft entwickelt.
In den Uffizien
D 2019, Dok, R: Corinna Belz, Enrique Sanchez Lansch, 100 min
Passage-Kinos: 30.01. 13:00; 31.01., 15:30
Die berühmten Uffizien in Florenz, ein Bürogebäude der Medici, in dem schon 1581 legendäre Kunstsammlungen ausgestellt wurden.
The Meaning of Hitler
USA 2021, Dok, R: Petra Epperlein, Michael Tucker, 92 min
Cinémathèque in der Nato: 27.01. 19:00 (OmeU, Vor dem Film gibt es eine Einführung von Sebastian Paul,Referent für kulturelle Bildung, Leipzig)
Die Filmemacher Petra Epperlein und Michael Tucker schufen mit ihrem Dokumentarfilm eine provokante Befragung der Faszination unserer Kultur für Hitler und den Nationalsozialismus vor dem Hintergrund des aktuellen Aufstiegs der weißen Vorherrschaft, der Normalisierung des Antisemitismus und der Bewaffnung der Geschichte selbst.
Mulholland Drive
USA 2001, 141 min
R: David Lynch, D: Naomi Watts, Laura Harring, Justin Theroux
David Lynch in Hochform: Außergewöhnlicher Mystery-Thriller um zwei Frauen. Regiepreis in Cannes 2001.
Cineplex, Regina Palast: 01.02. 20:00
Cinestar: 01.02. 19:30
Swingers
RUS 2021, R: Andrejs Ekis, Dmitriy Fiks, D: Dmitriy Nagiev, Irina Pegova, Ilya Noskov, 97 min
Regina-Palast: 30.01., 17:00 (OF)
Cinestar: 30.01., 17:05 (OF)
Cineplex: 30.01., 17:30 (OF)
Zwei Paare wollen ihren Beziehungen neuen Schwung verleihen. Russisches Kino im Original ohne Untertitel.
The Father
GB/F 2020, R: Florian Zeller, D: Anthony Hopkins, Olivia Colman, Mark Gatiss, 97 min
Kinobar Prager Frühling: 28.01., 16:00 (OmU)
Der Franzose Florian Zeller adaptierte sein Theaterstück über einen Demenzkranken, der den Halt verliert, meisterhaft verkörpert von Sir Anthony Hopkins. Ein zutiefst erschütterndes Drama, das lange nachwirkt.
Titane
F/B 2021, R: Julia Ducournau, D: Agathe Rouselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, 108 min
Kinobar Prager Frühling: 31.01., 19:45 (OmU)
Wilder Genremix für Hartgesottene: Der Gewinner der Goldenen Palme in Cannes ist in seiner Radikalität die Herausforderung der Herbstsaison.