anzeige
anzeige
Kultur

Schrei! - Bis du du selbst bist

  Schrei! - Bis du du selbst bist |

Faultier oder Tiger: Welches Streittier bist Du? Die neue Inszenierung des English Theaters Leipzigs bringt eine Menagerie der Brüllwunder auf die Bühne.

Grmpf! Arghh! Grummel! – Wut hat in der Weltliteratur viel in Bewegung gebracht. Die Illias, ein von zornesgeröteten Männern betriebener Feldzug, findet einen Höhepunkt in der Rache des Achilleus an Hektor, der seinen Freund Patroklos erschlug. Michael Kohlhaas, der von Heinrich von Kleist erdachte Wutbürger, brennt ganze Städte nieder, weil ihm zwei als Pfand eingesetzte Pferde abgemagert zurückgegeben wurden. Kleine Missgeschicke und Tollpatschigkeiten reichen aus, um Donald Duck zu einem cholerischen Anfall zu treiben. Werden die männlichen Brüllwunder auf dem Papier zu Treibern epochaler und zuweilen komischer Entwicklungen, sind sie im echten Leben doch eine große Belastung, die in hierarchischen Strukturen allzu gut gedeiht.

In »3 Rounds of Screaming« probiert sich das English Theatre Leipzig in den verschiedenen Tonlagen des Geschreis. In drei von Peter Hubbard zusammengestellten Szenen, der mit Letizia Rivera den Abend inszenierte, brüllen, keifen und krakeelen die Schauspieler und Schauspielerinnen mal das Publikum des Neuen Schauspiels, mal die Kollegen und Kolleginnen an. Dass sich am besten über die größten Nichtigkeiten streiten lässt, zeigt der Einakter »Der Heiratsantrag« von Anton Tschechow. Iwan Lomov besucht das Landgut seines Nachbarn Stepan Tschubukow, bereit, um die Hand seiner Tochter Natalja zu bitten. Dem Gesuch scheint wenig entgegenzustehen, bis die zwei jungen Menschen allein in einem Raum zusammentreffen. Bevor Lomov die Frage zu stellen wagt, entzündet sich ein Streit an der Frage, wem eine kleine Wiese zwischen ihren Grundstücken gehört. Auf die Zehenspitzen wippt die Schauspielerin Josiane Segar, wenn sie ihrem Gegenpart Jasper Runge die Meinung geigt und erreicht so seine Größe. Während sich sie und ihr Vater, der, gespielt von Christine Richter, vom Lärm in den Raum zurückgetrieben wird, in ihr Opfer verbeißen, wählt Lomov eine defensive Streittaktik. Die Aufregung setzt seinem Körper so zu, dass er schließlich scheintot zusammensackt. Zwischen seinen Ohnmachtsanfällen kommt die Hochzeit dennoch zustande.

Ein paar Stühle reichen, um die Szenenstudien auf der leeren Bühne auszuprobieren. Die professionellen und nicht-professionellen Darstellerinnen des englischspielenden Ensembles versuchen sich im komischen Ausflippen. Ihre enthusiastisch vorgetragenen Hasstiraden und Wutanfälle, die neben Tschechow die Dramen »Struggle Session« und »Debate« von Ethan Coen zur Grundlage haben, geben sich der albernen Hilflosigkeit des Cholerikers hin. Den komischen Rahmen bilden Ehe, Hetero-Beziehungen und Chef-Angestellten-Verhältnisse. Zwar werden diese normativen Strukturen bloßgestellt, aber schließlich bleiben sie Fixpunkt des Geschehens. Wie bei einer guten Sitcom subvertiert der Humor Bestehendes, um es schließlich wieder fest an seinem Platz zu verankern. Mit einem guten Gespür für Timing bringt die Collage trotzdem (und gerade deswegen) den geleugneten Kleinbürger in uns zum Lachen.

 

Titelbild: »3 Rounds of Screaming«, English Theatre Leipzig, Neues Schauspiel Leipzig


Kommentieren


0 Kommentar(e)