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Kultur

Öffentliche Liebesgeständnisse an das Lesen

kreuzer-Autorin Michelle Schreiber will mehr Lesende in der Öffentlichkeit sehen

  Öffentliche Liebesgeständnisse an das Lesen | kreuzer-Autorin Michelle Schreiber will mehr Lesende in der Öffentlichkeit sehen

Unzählige Bücher überfluten den Markt. Martina Lisa, Josef Braun und Michelle Schreiber helfen einmal wöchentlich auf »kreuzer online« bei der Auswahl und teilen Gedanken, die in die Lektüre hineingenommen werden können. Diesmal plädiert Michelle Schreiber für mehr Lesen in der Öffentlichkeit.

Letztens komme ich in der Straßenbahn mit einer älteren Dame ins Gespräch. In meinem Schoß liegt ein Buch, sie klammert sich an ihre Handtasche. »Das finde ich aber toll, dass so junge Menschen wie Sie noch lesen«, sagt sie zu mir. Ich freue mich, weil die Aussage süß ist und irgendwie ermutigend. Ich merke allerdings, wie es mich überrascht, das zu hören: Ich sehe ständig Lesende in der Öffentlichkeit, im Bus, in der Straßenbahn, auch in Cafés und Parks. Vielleicht weil ich besonders darauf achte.
Wenn ich Lesende in der Straßenbahn sehe, stelle ich mich gerne aus einem Gefühl der Solidarität dazu. Manchmal habe ich eigentlich gar nicht vor zu lesen, sondern lasse meine Gedanken unterwegs wie Drachen steigen, während ich ihnen zuschaue und nachhänge. Wenn ich dann jedoch in der Nähe einer lesenden Person bin, fühlt es sich an wie eine Verpflichtung als Zeichen der Solidarität, das eigene Buch hervorzuholen.

Was ich fordere: Mehr Lesen in der Öffentlichkeit!

Einmal setze ich mich an den Fenstersitzplatz in der Straßenbahn, schräg gegenüber von mir eine junge Frau mit einem dicken Buch auf dem Schoß. Ich bemerke, dass es ein Selbsthilfebuch ist, und es tut mir irgendwie leid. Ich bekunde also Solidarität und krame ein Buch hervor. Eine Station später nimmt noch jemand mit einer Lektüre neben mir Platz, wir alle bleiben in unsere Bücher vertieft. Ich horche jedoch auf, als sich später noch eine Frau mir gegenübersetzt, ihre Tochter auf den Schoß nimmt und schließlich beginnt, ihr aus »Bobo Siebenschläfer« vorzulesen.

Wir sitzen also zu fünft in diesem Vierer und lesen. Eigentlich hören wir der Mutter zu, lauschen, erinnern uns an die eigene Kindheit, wie es wohl gewesen sein muss, nicht selbst in die Worte eintauchen zu können, und sich stattdessen an Bildern entlanghangeln zu müssen. Die beruhigende Stimme eines Elternteils, es ist warm, man ist eingekuschelt, die Augenlider schwer. Die anderen Fahrgäste sehen gesenkte Köpfe und vier aufgeschlagene Bücher. Wir sehen Worte und Ideen; wir fühlen und staunen.

Ich fordere: Mehr Lesen in der Öffentlichkeit! Sichtbares Lesen! Weniger im Schlafzimmer verstecken! Lesen wird als Intimität verstanden. Vielleicht wegen der Markierungen, den Eselsohren oder der Tatsache, dass der gut sichtbare Titel und der Klappentext darüber Auskunft geben, womit wir uns gerade beschäftigen. Die Bücher, die wir lesen, erzählen auch immer eine Geschichte über uns.

Es gibt diverse Gründe, warum man andere nicht beim Lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln antrifft: Weil sie einfach gar nicht gerne lesen, lieber Fahrrad als Straßenbahn fahren, weil sie unterwegs andere (soziale) Medien konsumieren oder nichts tun, außer auf ihre Haltestelle zu warten.
Ich jedoch fordere: Mehr Lesen in der Öffentlichkeit! Solidarität bekunden! Sichtbares Lesen für mehr Austausch! Offene Liebesgeständnisse an das Lesen!


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1 Kommentar(e)

Anna 07.02.2022 | um 11:58 Uhr

Das ist so schön! Ich liebe es auch, wenn Menschen in den Öffis lesen. Dann sind sie mir sofort sympathisch aus irgendeinem Grund. Es ist tatsächlich Selbstoffenbarung, die Mut erfordert, da jede*r ohne mit dir zu sprechen, weiß, was du gerade liest, was gerade in deinem Kopf ist, womit du dich beschäftigst. Inspiring💫