An dieser Stelle veröffentlichen wir das Editorial der März-Ausgabe des kreuzer. Chefredakteur Tobias Prüwer verrät, worum es diesmal in der Titelgeschichte geht.
Der Rufer in der Wüste schweigt. Zu diesem hübschen Detail am Alten Rathaus schaue ich häufig und gern hinauf. In guten Zeiten ist es einfach ein morbider Wink, in schlechten Zeiten eine Vergewisserung: Nur die Stunde ist unsicher. Ob wir in guten oder schlechten Zeiten leben, ist eine Frage der Perspektive. Die pandemische Gesamtsituation fordert aber allen von uns zahllose Härten ab, das kann man wohl sagen. Unter diesem Eindruck wird es nur zu verständlich, dass die meisten Menschen Wege finden mussten und fanden, mit der Lage irgendwie umzugehen. Wege, um das Gefühl der Unsicherheit zu verarbeiten, das Ausgebranntsein zu kompensieren oder zu ertragen, die seelische Leere zu füllen, Mensch zu sein unter menschenunmöglichen Umständen. Da geht es eben den Menschen wie den Leuten – einige aus dem kreuzer-Umfeld haben mal aufgeschrieben, was sie am Laufen hält und bisher durch den Corona-Schock brachte. Einigen half ein Hobby, das sie schon länger pflegten – Besenreiten, Schwertkämpfen, Nixe-Sein –, andere haben Neues für sich entdeckt: Farben-Kloppen, Rostentfernung, Leberwurstleckerli. Das haben wir für Sie notiert, mögen Sie das als kleine Anregungen verstehen, selbst nicht zu verzweifeln. Oder haben Sie einfach Freude am Lesen der Beiträge (ab S. 22). Und wenn Sie selbst einen Tipp zur Ablenkung geben möchten, eine Überlebensstrategie, den stillgestellten Alltag zu bewältigen, dann schreiben Sie uns.
Einfach mal weg sein, mit dem Kopf nicht im Hier, mit dem Körper etwas anderes fühlen. Diesen Wunsch kennen viele, in zwei Jahren Pandemie hat er sich immens verstärkt. Und doch haftet dem Wort »Weltflucht« noch etwas Negatives an. So, als würde man unvernünftig sein, dabei ist es doch sehr vernünftig, mal die Fantasie übernehmen zu lassen. Darum ist es eine frohe Botschaft, dass nach der Buchmesseabsage – sie war nach dem Stand-Kündigen einiger, besonders großer Verlage nicht mehr finanzierbar –, nun eine Buchmesse im kleineren Spontan-Format stattfinden wird (S. 68). Im Veranstaltungskalender finden Sie alle zugehörigen Termine und Lesungen aufgelistet. Darüber hinaus wartet unsere Buchmessebeilage :logbuch mit circa neunzig Rezensionen auf, auch diese können sich als Anleitungen zur Weltenflucht verstehen lassen. Was sonst so in diesem Heft zwischen Unterhaltung, Information, Ausflugstipp und Ablenkung zu finden ist, entnehmen Sie bitte wie immer dem exzellenten Inhaltsverzeichnis.
Haben Sie schon Ihren ersten Frühblüher erspäht? Ich hoffe doch. Bei mir war es in diesem Jahr erstmals kein Schneeglöckchen, sondern ein Winterling. Also diese satt-gelben Blümchen, die den Eindruck von Butterblumen vorwegnehmen. Fast hätte ich Ihnen an dieser Stelle ein Bild davon gezeigt, wie mich die kleine Winterlingversammlung überrascht und verzückt hat. Aber dann habe ich mich doch für obiges Foto entschieden, als Foto der Stunde quasi beziehungsweise des Monats. Auch das könnten Sie als Anleitung verstehen, doch einmal das Alte Rathaus zu umrunden. Und dort noch andere Details zu entdecken. Man sagt, es fechten auch an einem Kapitell zwei Figuren gegeneinander. Aber das interessiert Sie vielleicht gar nicht und ist Teil meiner Weltflucht.
Mögen Sie die Ihre finden und gut durch den März kommen. Und niemals vergessen, Ihrem Spiegelbild ein Lächeln zu schenken!
Ihr wüster Rufer
TOBIAS PRÜWER
PS: Der Trommelwolf ist Spinne des Jahres, wir gratulieren! Der seltene Achtbeiner kommt in ganz Europa vor, Auwälder zählen leider nicht zu seinen Lieblingshabitaten. Ob sich die Spinnenfreunde mit den Musikfans abgesprochen haben? Fast scheint es so, denn das Schlagzeug ist – Trommelwirbel – zum Instrument des Jahres gekürt worden. Auch ihm gilt mein ausdrücklicher Glückwunsch. Darauf einen Blastbeat!