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Politik

Der Optimist oder Die Flucht aus Russland

Leipziger Autor berichtet von seiner Flucht aus Russland

  Der Optimist oder Die Flucht aus Russland | Leipziger Autor berichtet von seiner Flucht aus Russland

Jan Schaldach ist Autor und Literaturwissenschaftler an der Universität Leipzig. Anfang Februar brach er zu einem längeren Forschungsaufenthalt nach St. Petersburg auf, dann kam der Krieg. Ein Gastbeitrag.

Die letzten Tage hatten Tränen gekostet. Vor sechsundsechzig Stunden hatte der Krieg begonnen. Einzuschlafen war jetzt schwer, darum betete ich: Bitte, lieber Gott mit deinem langen Bart, hilf, dass morgen alles vorbei ist, hilf, die Regierung zu stürzen. Lass einen Putsch aus dem Sicherheitsapparat geschehen oder sei wundertätig und beende den Krieg über Nacht. Errette mich vor dem Fatalismus und bewahre mir den ewigen europäischen Optimismus. Vor dem Fenster brannte eine Straßenlaterne ein Loch in die Petersburger Finsternis.

Ich wachte auf. Und hoffte, es hatte sich etwas verändert. Das schwache Morgenlicht deutete es an.

Mein Herz klopfte hastig. Das konnte nur die frohe Erregung sein nach einer langen grauen Woche. Der Hals weigerte sich, das Frühstück zu schlucken. Es musste doch eine ausgezeichnete Wirkung auf die Gesundheit haben, am Morgen nüchtern zu bleiben. Der überanstrengte Kopf schwamm im Nebel, ich konnte mich kaum auf das Rasieren konzentrieren, die verquollenen Augen ließen wenig Licht ins Gehirn dringen – ich fühlte mich in dieser warmen Umarmung der Nacht geborgen und umfangen.

Im Messenger meldete sich ein ukrainischer Freund, seine Stadt sei eingenommen, wenige Explosionen bloß, wie beruhigend. Freundinnen schrieben von Nächten im Luftschutzkeller. Ich verstand: Danke, lieber Gott mit deinem Bart, dass du sie in Sicherheit behältst.

Ich ging in den neuen Alltag hinaus. Geld besorgen. Die meisten Automaten akzeptierten keine europäischen Karten mehr. Bereits nach drei Stunden hatte ich genug Geld für ein paar Tage zusammen. Auf dem Weg traf ich Bekannte. Ob ich schon Bescheid wisse, dass seit heute alle Lufträume Richtung Westen gesperrt waren. Keine Möglichkeit mehr, das Land mit dem Flugzeug zu verlassen. Außer über Istanbul oder Zentralasien. Auf mehrere Wochen ausgebucht, versteht sich. Das wusste ich noch nicht. Aber war das nicht wunderbar? Warum denn immer so viele Flugzeuge am Himmel? Das geht ja nicht gut mit dem Klima.

Nebenbei las ich auf dem Handy einen Liveblog. Unglaublich. Jede Form der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland war eingestellt worden. Vom Forschungsreaktor bis zum Sprachlektorat. Opernauftritte abgesagt, Wettkämpfe eingefroren, Firmen geschlossen. Der Imperator Peter ließ den Bojaren die Bärte abschneiden, um Europa nach Russland zu bringen. Der russische Winter aber war kälter als gedacht, die Russen begannen ohne die Bärte zu frieren. Ich verstand, dass sich Europa jetzt zurückzog, um zu helfen, damit man sich hier wieder Bärte wachsen lassen konnte.

Es war Nachmittag geworden und ich noch von der strahlenden Zukunft Russlands überzeugt. Konflikte waren nichts Neues, ich hatte in der Ukraine studiert, als der Maidan und die ersten Kämpfe stattfanden. Mit der Krisenerfahrung könnte ich mich bei der Polizei bewerben. In den letzten Tagen hatte ich sowieso einen neuen Eindruck von der Polizei gewonnen.

Die russische Polizei erinnerte sich an alte Traditionen des guten Umgangs miteinander und begann, wieder an Türen zu klopfen, auf Besuch zur Bevölkerung zu gehen. Ein ernsthaftes Interesse. Ob es ihnen gut gehe, ob sie genügend Freunde haben, beispielsweise in der Ukraine, ob sie sich als Bürger für die Gesellschaft einsetzten... Sie zeigten ein freundliches Gesicht und konnten lachen über Memes und Chatverläufe, die ihnen die Passanten gern auf ihren Handys zeigten. Die Polizei stellte geräumige Busse für den Nachhauseweg von den Demonstrationen zur Verfügung. Zuletzt war es üblich, den Demonstrierenden schon direkt bei Ankunft auf der Demo einen Sitz im warmen Bus anzubieten, bevor man sich auf dem zugigen Nevskij Prospekt erkältete.

Ich ging nach Hause. Plötzlich flammte das Display auf. Ein französischer Austauschstudent schrieb, sein Konsulat habe gewarnt, dass Russland morgen auch die letzten Landgrenzen schließe. Oh Gott, dass es so schnell gehen würde, hätte ich nicht geglaubt. Dann musste ich wohl hier raus. Sofort.

Lieber Gott mit deinem Bart, ich wende mich an dich. Du hast mir bisher geholfen, dass alles nicht so schlimm wurde, nun hilf mir, innerhalb weniger Stunden das Land zu verlassen. Es blieb nur ein Weg offen: zu Fuß über die estnische Grenze.

Ich stopfte meine Sachen in den Koffer. Bestellte ein Überlandtaxi in Richtung Grenzübergang Ivangorod.

Kurz darauf wuchtete der Taxifahrer meinen Koffer ins Auto. Ein Patriot aus der Vorstadt. Bitterer Blick, Georgsbändchen, in seiner Playlist die Zeile »und jeden Morgen wird ein neuer Soldat geboren«. Nach zwanzig Minuten die Frage, ob ich in der Armee war. Ein echter Russe. Ich nahm ihm das nicht übel; schließlich rettete er mich gerade. Er musste so etwas wie Gott sein. Ohne Bart, aber immerhin schon einmal schlecht rasiert. Also fast mit. Ein russischer Gott. Russische Götter brauchen keinen langen weißen Bart. Sie haben ja den Krieg. Ich dachte an meine Freunde, die ich zurückließ. Das waren keine echten Russen. Sie waren nicht für den Krieg. Sie waren nicht in der Armee. Sie hatten keinen Bart. Sie hatten keine Zukunft und seit kurzem auch keine Rechte mehr. Plötzlich verstand ich alles. Gott wollte, dass ich, als Europäer, sie verlasse. Gott stellte sie auf die Probe. Entweder einen Bart. Oder den Krieg. Oder auch nach Europa.


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