Im Juni 2021 erhält Madlen Krause einen Anruf: Sie bekommt für ein Jahr das bedingungslose Grundeinkommen. Es gibt ihr Auftrieb, trotzdem bleibt zwischen ihr und dem Geld ein Abstand, denn sie hat dafür nichts geleistet. Statt die Füße hochzulegen, arbeitet sie mehr als je zuvor – wenn auch für ihr Herzensprojekt.
An dem Abend im Juni, nach dem befreienden Anruf, ging Madlen Krause zu Aldi und kaufte einen Rotkäppchensekt und ein Radler, um mit ihrem Freund Rico auf die 1.000 geschenkten Euro im Monat anzustoßen. »Man muss ja nicht gleich alles verprassen«, lacht sie. Sie und Rico haben ein gemeinsames Lied, ein Zeichen ihrer Liebe: »I wasn’t expecting that« von Jamie Lawson, zu Deutsch: Das habe ich nicht erwartet. Sechs Jahre nach ihrem gegenseitigen Kennenlernen wird die 34-Jährige wieder überrascht – mit dem Gewinn eines bedingungslosen Grundeinkommens.
Madlen Krause sitzt an einem Freitagmorgen in ihrer Küche, bei Pfannkuchen und Kaffee, und muss sich erst mal sammeln. Sie ist ein bisschen nervös. Durchs Fenster ihrer kleinen Maisonettewohnung in Plagwitz scheint die Sonne, das alte Fabrikgebäude aus rotem Klinker ist ein Leipziger Postkartenmotiv. Das Paar bemüht sich um Fortführung des industriellen Designs in der Wohnung, an den Wänden hängen folienverpackte Schallplatten, ein altes Motorrad steht unter der Wendeltreppe. An der Poledance-Stange in der Raummitte hat Krause seit Corona nicht mehr getanzt.
Sie und ihr Freund haben viele Interessen und angefangene Hobbys, ein Teleskop liegt auf dem Schreibtisch, in der Ecke lehnen zwei E-Gitarren. Sie übt »House of the Rising Sun«, Rico einen Song der Böhsen Onkelz, aber beide meinen, dass sie nicht so viel dazu kommen. »Wir haben uns 2016 bei einem virtuellen Banküberfall im Playstation-Spiel ›Grand Theft Auto‹ kennengelernt, später haben wir uns auch im echten Leben getroffen«, sagt Rico, der seinen Nachnamen ungern der Öffentlichkeit preisgeben möchte. Nach relativ kurzer Zeit zieht die Berlinerin Krause zu ihm nach Leipzig. Wenn das Paar über gemeinsam Erlebtes spricht, scheint es, als würden sie sich immer wieder beieinander rückversichern, dieselbe Perspektive auf alles zu haben. »Wir waren uns immer einig, auch darüber, wie wir mit Geld umgehen«, sagt Krause. »Madlen hat mich von Anfang an bei allen Hobbys unterstützt«, sagt Rico, der in der Autoproduktion arbeitet. Dafür habe er 2017 ihren Motorradführerschein bezahlt.
Auch jetzt geht die Hälfte des Grundeinkommens auf das gemeinsame Konto, um gespart zu werden. »Es stört mich überhaupt nicht, dass Rico davon profitiert, wir wollen ja gemeinsam wachsen«, sagt Krause. Die andere Hälfte des Geldes nutzt sie für ihr Projekt Blymchen, einen Youtube-Kanal, auf dem sie über Zyklus und hormonfreie Verhütung aufklären will.
Bonus statt Basis
Das Grundeinkommen ist kein Lottogewinn, man ist nicht plötzlich reich. Es wird wie ein Gehalt monatlich überwiesen, genauer 1.000 Euro netto mehr pro Monat für ein Jahr. Es zwingt zumindest manche der Gewinnerinnen, ihr Leben drastisch zu verändern, manchmal schmerzhaft das eigene Dasein zu reflektieren, das Geld verantwortungsvoll einzusetzen. »Ich habe wirklich verdrängt, dass es am Anfang gar nicht so einfach war«, sagt die 34-Jährige. Einfach nur etwas zu kaufen, ein Auto oder einen Urlaub, wäre ihr wie Verschwendung vorgekommen. Krause sieht das so: »Wenn man sich keine Zeit nimmt und über Dinge nachdenkt, die man schon immer mal machen wollte, dann wandert zusätzliches Geld schnell einfach nur in Konsumgüter.« In Autos, Reisen, Klamotten, Friseur. »Ich wollte es lieber in meine persönliche Weiterbildung investieren.« Weiterbildung, Seminare oder ein Projekt. Ihr Partner Rico war darüber erleichtert. »Man könnte sich natürlich auch einen Fernseher kaufen, aber das ist nur für den Moment toll. Wir wollten beide vermeiden, es für Konsumgüter auszugeben. Das macht ja auf Dauer nicht glücklich.«
Gemeinsam mit Rico ging Madlen Krause letzten Herbst zu einem Finanzberater, nun investieren sie einen kleinen Teil des gesparten Geldes in Fonds. Es ist die erste Altersvorsorge, die Krause anlegen kann, erzählt sie. Ihre Ausgaben hält sie in einer Excel-Tabelle fest. Krause findet verschiedene Begriffe, die das Grundeinkommen für ihr Leben beschreiben: Brandbeschleuniger für ihr Projekt, ein Bonus, der Sicherheit gibt, ein Türöffner für Gespräche über Geld. »Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas Entscheidendes für mich machen konnte, mich ausprobieren, ohne Angst zu haben, dass es am Ende des Monats knapp wird.«
Aber sie sagt auch: »Unser Leben hat sich nicht dramatisch verändert.« Krause hat nicht gekündigt, sie arbeitet weiterhin im Vertrieb eines Unternehmens, nur eben 35 statt 40 Stunden in der Woche. »Wir hätten es auch so geschafft, jetzt geht es eben schneller.« Obwohl die Berlinerin ihre Mitgewinnerinnen bewundert, die ihren
Job kündigen, wäre ihr das nie in den Sinn gekommen – zu unsicher, zu wenig zum Leben, zu kurz. »Durch das Grundeinkommen kannst du das Geld, was du erwirtschaftest, so einsetzen, wie du wirklich willst, da ja deine Grundbedürfnisse abgesichert sind.« Aber warum nicht gleich das Geld so erwirtschaften, wie man es will? Krause denkt nach. »Ja, das ist komisch, oder?« Der Druck, hart arbeiten zu müssen, und die Wertung dessen, wie man sein Geld verdient, kommt aus dem System. Es kommt aber auch aus ihrer eigener Vergangenheit.
Der Staub aus tausend Jahren
Madlen Krause führt ihr Verhältnis zu Geld auf zwei Glaubenssätze zurück: Über Geld spreche man nicht und Geld müsse hart erarbeitet werden. Krause wächst am Ku’damm in Berlin auf, ihre Mutter arbeitet in einer Bank, ihr Stiefvater hat einen An- und Verkaufladen. Typische Arbeiterklasse, Mittelschicht, sie wisse gar nicht, wie sie das nennen soll, sagt Krause. Bereits als Kind hat sie für ihr Taschengeld im Haushalt geholfen, was sie selbst positiv in
Erinnerung hat. Später, als sie studieren will, verweigert die Mutter ihr die finanzielle Unterstützung. Sie solle arbeiten, studieren bringe nichts. Also macht Krause eine Ausbildung, weil sie keinen Anspruch auf BAföG hat – ihre Mutter verdient zu viel. »Ich habe meiner Mutter nie Vorwürfe gemacht, ich wollte einfach nur verstehen, warum sie so denkt«, sagt Krause. Sie haben ein gutes Verhältnis, aber dieses Ereignis sei sehr einschneidend gewesen. Und dann, im Juni letzten Jahres, erhält Krause plötzlich 1.000 Euro im Monat, für die sie keine Lohnarbeit verrichtet hat. Dazu kommt zusätzlich der Twist: Sie hat über die sogenannte Freundschaftsregelung gewonnen, ursprünglich wurde der Name ihrer Mutter aus dem Lostopf gezogen. Sie wurde anschließend aus dem Umfeld ihrer Mutter als Mit-Gewinnerin ausgelost. »Es ging ein Raunen durch die Familie«, erzählt sie. Plötzlich habe man in der Familie endlich mal über Geld gesprochen, sagt Krause. »Dieses verstaubte Thema ist endlich zur Sprache gekommen.«
Ihre Mutter sah das anders, sie riet ihrer Tochter dazu, für eine Reise zu sparen. Generell hatten viele in ihrem Umfeld eine Meinung dazu, wie das Geld gut einzusetzen sei. »Das war so komisch«, erzählt Krause. Und auch Neid kommt auf. »Du kannst es dir doch jetzt leisten«, hörte sie öfter. »Das war so anstrengend und nervig. Nur weil ich jetzt etwas mehr Geld zur Verfügung habe, muss ich es ja nicht gleich gedankenlos einsetzen.«
Das andere Geld
Auf dem Kanal Blymchen auf Youtube findet man ein Kurzvideo. Die Kamera schwenkt leicht wackelnd auf den Unterschenkel von Marlen Krause, der zunächst noch glattrasiert ist. Im nächsten Moment wird die Musik dramatisch, unter der Überschrift »Zehn Sekunden später« sieht man plötzlich viele Haare an ihrem Bein. »Wenn du deine Beine rasierst« heißt der Clip. Er beschreibt das Gefühl, dass Beinhaare schnell nachwachsen, die Kamera hat in diesem Fall Krauses Partner Rico übernommen. Das nur wenige Sekunden lange und etwas plakative Video wirkt aus der Reihe
gefallen, denn eigentlich ist es Krause sehr ernst mit ihrem Youtube-Kanal: Es geht um hormonfreie Verhütung, um das Sich-Kennenlernen und Aufklärung, auch ein bisschen um das Patriarchat.
Seit letztem Juni arbeitet Krause zwar fünf Stunden weniger pro Woche in ihrem Brotjob, aber trotzdem nach wie vor im Schichtdienst. Und eigentlich arbeitet sie viel mehr als zuvor. Zehn bis zwanzig Stunden steckt sie pro Woche in den Dreh von Videos, ins Schneiden, Gestalten ihrer Website und ihren Blog. Der Name »Blymchen« ist ihr alter Zockername, weil sie damals die kleine Pflanze in »Mario Kart« so gerne mochte. Nun steht er für einen großen Traum: Selbstständig werden, irgendwann komplett davon leben können.
Am Anfang hat sich Krause einmal online mit den anderen Menschen getroffen, die mit ihr und ihrer Mutter gewonnen hatten. »Die meisten haben gesagt: Toll, jetzt kann ich mal durchatmen«, erzählt Krause. Und sie? Hatte große Erwartungen an sich, alles sinnvoll einzusetzen. Gleichzeitig tut es ihr weniger weh, das Geld des Grundeinkommens in Blymchen zu investieren. Es ist anderes Geld, Geld, das nicht erwirtschaftet wurde, für das Krause nichts von sich hergegeben hat. Rico geht das genauso. »Wenn mein Chef sagen würde, knie dich mehr rein, dann bekommst du 1.000 Euro netto mehr, dann wäre das ein anderes Gefühl«, sagt er. »Im schlimmsten Fall habe ich nicht eigenes Geld investiert, sondern Grundeinkommen. Ich sehe das super-separat«, sagt Krause.
Eine Lanze brechen für den Zyklus Sie geht die Wendeltreppe hoch und zeigt auf den Schreibtisch mit ihrem Schnittrechner. Wenn sie dort sitzt, kann sie aus dem riesigen Fenster blicken – man könnte sagen, es ist der schönste Platz der Wohnung, an dem ihre Vision Gestalt annehmen soll. Im Schlafzimmer steht Lichtequipment, ihre Videos dreht sie vor einer petrolfarbenen Wand. Sie spricht in ihrem Kanal über natürliche Familienplanung, die sie selbst seit vielen Jahren anwendet. Buchstäblich ihr halbes Leben nahm sie die Pille Valette und kämpft seit dem Absetzen vor fünf Jahren mit den Nachwirkungen. Über viele Dinge wurde in Krauses Leben nicht geredet, sie tut es jetzt umso mehr. In einem Mitgliederbereich ihrer Website können Bilder von Zervixschleim ausgetauscht werden, dessen Beschaffenheit sich je nach Zyklusphase unterscheidet.
Sie will ein Mensch werden, der übers Internet Geld verdient – auch damit führt sie ihren Kampf. »Ich dachte früher, das sei keine richtige Arbeit, ich habe den Aufwand total unterschätzt«, sagt sie. Influencerin möchte sie sich nicht nennen, wenn überhaupt »Sinnfluencerin«. Meistens sagt sie, sie sei Gründerin. Madlen Krause sagt außerdem von sich, ein emotionaler Mensch, optimistisch-positiv zu sein. Dennoch ist sie überzeugt, dass das Grundeinkommen für alle keine gute Idee ist. Mehr Geld bewege die Menschen nicht zum Guten. Sie trinkt einen Schluck Kaffee, blickt unsicher auf, fragt, ob man das als Gewinnerin überhaupt sagen dürfe. »Das Geld verstärkt nur dein wahres Ich«, sagt sie. Das hieße: Menschen, die Drogen nehmen, würden mehr Drogen nehmen, Menschen, die Schulden haben, würden mehr Schulden machen, glaubt sie. Sie war vorher schon vorsichtig, nun will sie auch ihr Geld vorsichtig einsetzen, sparsam. An diesem Tag wartet deshalb noch eine Abendschicht im Vertrieb auf sie.
Eine Woche später erreicht man Krause beim Videoschneiden. Sie hat noch mal über vieles nachgedacht, zwei Mal mit ihrer Mutter telefoniert. »Mir ist durch den Gewinn extrem bewusst geworden, wie sehr Geld einfach der Beschleuniger für alle Lebensbereiche ist.« Sie finde das nicht komisch oder schlecht, sie sei nur eben das erste Mal in der Position, das zu begreifen: Was es für einen Unterschied macht, sich etwas beiseitelegen zu können und vor allem
Dinge auszuprobieren. Wenn jeder Euro zählt, kann man es sich eben nicht leisten, überhaupt auf die Suche zu gehen.