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Kultur

Briefe aus der Ukraine

Andrij Lyubka warnt vor Orientalismus

  Briefe aus der Ukraine | Andrij Lyubka warnt vor Orientalismus

An dieser Stelle veröffentlicht kreuzer Briefe von Autorinnen aus der Ukraine. Der Schriftsteller Andrij Lyubka warnt davor, den Krieg mit orientalistischem Denken zu erklären.

Brief von Andrij Lyubka

Andrij Lyubka (geb. 1987) schreibt Prosa und Lyrik, tritt daneben auch als Essayist und Übersetzer in Erscheinung. 2012 erschien in der Edition Baez unter dem Titel »Notaufnahme« ein Band mit ausgewählten Gedichten auf Deutsch.

 

»Dieser Text kommt für die Ukrainer zu spät, für euch Deutsche und andere Europäer mag er einen Nutzen haben. Es geht in ihm um einen Gedanken, der euch beschäftigt: Ihr glaubt, in der Ukraine herrscht ein schrecklicher Krieg, aber bei euch sei so etwas nicht möglich. Denn… Und hier lassen sich hundert Gründe nennen, die alle mit Orientalismus zu tun haben.

Ich weiß das, weil ich bis zum 24. Februar genauso dachte. Ich war sicher, die Russen würden uns überfallen, vermutete aber, es käme nur zu punktuellen Schlachten irgendwo zwischen Donbass und Krim. Raketen auf Iwano-Frankiwsk und Lwiw, die Zerstörung von Tschernihiw und Trostjanez, der Genozid bei Kyjiw und die bestialische Belagerung von Mariupol kamen nicht einmal in meinen schlimmsten Alpträumen vor.

Vor einigen Jahren fanden identische Kriegsverbrechen in Syrien statt, vor dreißig Jahren praktisch in unserer Nachbarschaft, in Bosnien, das sich bis heute nicht von den Folgen erholt hat. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien, habe ein Dutzend Bücher dazu übersetzt, aber unterbewusst war ich wohl überzeugt: Das war bei denen, bei uns ist das nicht möglich. Außerdem las ich viel über den Zweiten Weltkrieg und war sicher, Europa würde nie wieder in einem solchen Alptraum versinken, weil alle Länder ihre Lektion gelernt hätten. Ich wette, eine Menge Menschen in der EU denken genauso. Sie denken, der Krieg in der Ukraine ist ein schrecklicher Alptraum, aber bei uns ist das unmöglich, wir sind doch Europa, wir sind doch in der NATO… Das ist »orientalistisches« Denken. 

Unter Orientalismus verstehe ich das im gleichnamigen Buch formulierte Konzept von Edward Said, einem US-amerikanischen Intellektuellen palästinensischer Herkunft. Die Wurzeln des Orientalismus reichen Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück; insbesondere in der Malerei gründete er sich auf der unrealistisch-oberflächlichen Wahrnehmung außereuropäischer Kulturen, der unlogischen Verwendung einzelner Elemente der arabisch-muslimischen Kultur und Architektur.

Bei der Orientalisierung ist Geografie zweitranging, schließlich geht es um Stereotype, nicht um Längen- und Breitengrade. So können sich zum Beispiel die Bewohner der Visegrád-Staaten (Tschechen, Polen, Slowaken, Ungarn) als Mitteleuropäer fühlen, gleichzeitig aber von Franzosen und Deutschen als Osteuropäer wahrgenommen werden. Die deutsche oder französische Vorstellung von der Ukraine ist auch orientalistisch – genau deshalb können sich Westeuropäer denken, dass ein Krieg wie jetzt bei ihnen nicht möglich ist.

Genau so dachte bis zum 24. Februar auch ich. Denn Syrien, das ist der Nahe Osten, Araber, Moslems, kein Wunder, dass da ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht und Chemiewaffen eingesetzt werden. Die geopolitische Situation ist ganz anders, die Nachbarn radikaler und rücksichtsloser, außerdem ist die Region ein Schlachtfeld für weit entfernte und mächtige Player. Diese »Logik« ist typisch orientalistisch, interessant an ihr ist höchstens, dass es die Logik eines Europäers ist, und sei er auch aus dem Osten des Kontinents.

Aber kehren wir kurz zurück zum jugoslawischen Bürgerkrieg, insbesondere zu den Ereignissen in Bosnien und Herzegowina. Aus der Ukraine ist man mit dem Auto in einem halben Tag dort, es handelt sich also um einen nicht nur kulturell, sondern auch geografisch nah verwandten Kontext. Der Krieg dort dauerte von 1992 bis 1995, man geht von zehntausenden Todesopfern aus, es wurden über 35.000 Vergewaltigungen dokumentiert, die Hauptstadt wurde jahrelang belagert. Auch diesen Krieg nannte man den größten europäischen Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg, Srebrenica – dieses Gemetzel, dem fast 8000 männliche Bosniaken (also muslimische Bosnier) zum Opfer fielen – verglich man mit dem Holocaust.

Die öffentliche Meinung im Westen nahm zumeist eine orientalistische Perspektive ein: Es hieß, das wäre doch der Osten, wilde Slawen, Moslems, dazu das bittere Erbe des grausamen Osmanischen Reiches. Nicht umsonst war der Balkan früher das »Pulverfass Europas«!

Ich vermute, die Mehrheit der Europäer blickt heute genauso auf den Krieg in der Ukraine. Sie sagen, so etwas sei nur in Osteuropa möglich (denn dort sind Orthodoxe, Slawen, das ist nicht die EU, man kann sich weitere Begründungen ausdenken), im »alten« Europa werde es so etwas sicher nie wieder geben. Denn Europa ist in der NATO, es hat aus der Geschichte gelernt, es erinnert sich an die zerstörten Städte und die Millionen Toten. Deshalb: Nie wieder!

Als jemand, der vor Monaten genauso dachte, sage ich euch: Wartet auf den Krieg. Dieser Krieg ist nicht ausgebrochen, weil die Ukraine nicht in der NATO ist oder im Osten des Kontinents liegt, oder weil mit unserer Religion oder unserem kulturellen Background etwas nicht stimmt. Er ist ausgebrochen, weil ein entfesselter Diktator, der an der Spitze einer kriegshungrigen Nation steht, entschieden hat, seine kränksten Fantasien wahr werden zu lassen. Putin und die Russen wollen Siege und Triumphe sehen, ihr Ziel ist es, die Ukrainer zu vernichten, damit die Welt sieht, wie stark Russland ist. Und wenn die Ukraine vernichtet ist, kommen andere Länder an die Reihe: Litauen und Polen, Ungarn und Tschechien; auch die Deutschen werden was abbekommen, denn Furcht sowie der Wunsch nach Verständigung machen dem Aggressor nur Appetit. Und das wird kein Ende nehmen.

Liebe Bürger der EU, hier ist mein ehrlicher Rat an euch: Erklärt das Böse nicht mit dem Orient oder dem Osten, sondern vernichtet es! Sonst kommt es auch zu euch.

Seid keine Orientalisten – schützt euch!«        

Aus dem Ukrainischen von Jakob Walosczyk

Foto: Privat


»Der Krieg ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt«, schrieb der in Charkiw lebende Serhij Zhadan in seinem Band »Warum ich nicht im Netz bin« – es war 2014. Der Krieg fing an.

Der Krieg reaktiviert die Geschichte – auch ich habe schon an 1938/39 gedacht, an Sudetenland und Polen, an die Panzer in Prag 1968, an Jugoslawien... Seit dem 24.Februar führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Einen zerstörerischen Krieg, der nicht zu begreifen ist. Einen Krieg, der – wie Zhadan schreibt –, auch die Farben verändert: »Für viele Menschen verschwinden ein für alle Mal die Schattierungen, plötzlich ist die Welt schwarz-weiß, fest umrissen, streng konturiert. Und auch die Sprache ist für viele plötzlich schwarz-weiß.« Das Schreiben verändert der Krieg auch. Relevant bleibt es nach wie vor, oder gar notwendig, so wie die Poesie als solche lebensnotwendig bleibt.

Wir haben Autorinnen aus der Ukraine gebeten, ihre Gedanken mit uns zu teilen. Einmal wöchentlich werden an dieser Stelle Briefe aus der Ukraine erscheinen. Ein besonderer Dank gebührt Jakob Walosczyk, vor kurzem noch DAAD-Lektor in Odessa, Übersetzer aus dem Polnischen, Ukrainischen und Russischen, der die Texte unserer Kolleginnen ins Deutsche überträgt.

Martina Lisa, kreuzer -Literaturredakteurin


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