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Kultur

»Ich gebe niemandem eine Stimme, weil alle bereits eine Stimme haben«

Katalanische Bestsellerautorin Irene Solà im Interview

  »Ich gebe niemandem eine Stimme, weil alle bereits eine Stimme haben« | Katalanische Bestsellerautorin Irene Solà im Interview

Die katalanische Bestsellerautorin Irene Solà lässt in ihrem preisgekrönten Roman alle und alles zu Wort kommen.

Drei Bücher hat die junge katalanische Autorin Irene Solà bisher veröffentlicht – und alle drei, ein Gedichtband und zwei Romane, brachten ihr Lob und mehrere Auszeichnungen. Vor allem mit ihrem letzten Buch »Singe ich, tanzen die Berge« machte sie Furore – und das nicht nur in Spanien. Neben vielen anderen Preisen erhielt sie dafür 2020 den Europäischen Literaturpreis. Im selben Jahr hat Fabian Leonhard in Berlin den unabhängigen Trabanten-Verlag gegründet – auch er hat mit der Lyrik begonnen –, und nun, zwei Jahre später, wurde hier die deutsche Übersetzung von Solàs Roman veröffentlicht. Bei den Verhandlungen um die Rechte konnte sich der Independent-Verleger zu seiner eigenen Überraschung gegen Penguin Random House durchsetzen. Für den Herbst ist auch die deutsche Ausgabe von Solàs Gedichtband geplant, ihrem literarischen Debüt. Schon in den Gedichten zeigt sich ihr Gespür für besondere Perspektiven. Mit dem :logbuch sprach sie über den ewigen Kreislauf von Leben und Tod sowie Freiheit und Spaß beim Schreiben.

Ihr Roman »Singe ich, tanzen die Berge« wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, nicht nur aus der menschlichen. Die Eröffnungsszene wird aus der Perspektive eines Blitzes erzählt, der einen Menschen erschlägt; ein Rehbock erzählt von seiner Flucht vor einem Jäger; eine Hündin beschreibt den Sex zwischen einem Mann und einer Frau … 

Eine meiner Grundideen für das Buch war von Anfang an die Annäherung an einen Teil der Welt, der überall sein konnte, aber ich entschied mich für die Katalanischen Pyrenäen und versuchte, in diesem Ort herumzulaufen, ihn anzusehen, zu verstehen und ihn aus möglichst vielen Perspektiven zu beschreiben. Dabei wollte ich den menschlichen Blick überwinden und mir andere Möglichkeiten vorstellen, einen Ort zu beschreiben und sich auf ihn zu beziehen.

Ihr Roman gibt denen eine Stimme, die normalerweise keine haben…

Ich denke, ich gebe niemandem eine Stimme, weil alle bereits eine Stimme haben. Ich versuche, mir bestimmte Stimmen vorzustellen, die wir noch nicht gehört haben, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht gibt. Ich versuche, über die Erzählstimme nachzudenken und über die Tatsache, dass die meisten Stimmen, die wir hören, ganz bestimmte Stimmen sind, die die Welt aus ihrer Perspektive sehen, verstehen und konstruieren. Deshalb war mir das Kapitel sehr wichtig, in dem einige Frauen als Hexen angeklagt, verurteilt, gefoltert und ermordet werden. Als ich die noch erhaltenen Prozessunterlagen solcher Gerichtsverfahren las, wurde mir klar, dass sie von den Männern geschrieben wurden, die die Frauen verhaftet, gefoltert und ermordet hatten. Was wir also über diese Frauen und ihre Geschichten wissen, ist nur das, was diese Männer geschrieben haben. So ist es mit dem größten Teil der Geschichte und der Geschichten.

In der Eröffnungsszene des Romans wird der Tod eines jungen Bauern beschrieben. Kurz danach hört der Regen auf, kommen die Vögel aus ihren Verstecken zurück, das Leben geht einfach weiter und die Tragödie verliert ihren dramatischen Ton.

Diesen Roman so zu schreiben, erlaubte mir, über Erzählstimmen und Perspektiven nachzudenken: Wer hat uns die meisten Geschichten erzählt, die wir gehört haben? Welche Stimmen durften ihre Geschichte erzählen, und welche nicht? Welche Macht haben die, die eine Geschichte erzählen, über diejenigen, deren Geschichten erzählt werden? Für mich war dieser Anfang sehr interessant, weil Domènec so etwas wie ein klassischer Held ist: ein junger attraktiver Mann, der Gedichte schreibt, ein Vater und Ehemann, intelligent, kreativ. Wir könnten denken, dass er der Protagonist wird und dass wir wieder so eine Geschichte lesen werden, die wir mit dieser Art männlicher Figuren bereits kennen. Ich aber töte ihn auf der zweiten Seite, um zu sagen: Wir werden anderen erlauben, die Welt anzusehen, zu erklären und zu konstruieren. Und so kam es, dass ich nicht nur aus menschlicher Sicht erzähle und nicht nur aus einer einzigen Perspektive. Ich fand es auch wichtig, mit der Idee zu spielen, dass bereits eine Sekunde nach seinem Tod das Gras weiter wächst, die Rehböcke weiter futtern, die Wolken weiterziehen – das Leben geht weiter und absolut nichts hört auf. Es ist fürchterlich, nicht wahr? Es ist beängstigend, wenn nichts aufhört, aber zum Glück kann nie alles aufhören. Mir war es wichtig, über diese optimistische Grausamkeit des Lebens zu sprechen.

Der Roman ist in kurzen Episoden aufgebaut, und auf den ersten Blick gibt es keinen richtigen roten Faden ...

Der Roman hat schon einen roten Faden. Er erzählt die Geschichte einer Familie, die zwei gewaltsame Todesfälle in den Bergen erlebt. Domènecs Tod ist einer davon, und er verbindet alle anderen Geschichten. Im Schreibprozess habe ich entschieden, dass jede Figur, ob menschlich oder nicht, nur einmal im Verlauf zu Wort kommt. Ich musste beim Aufbau der Kapitel sehr präzise und zugleich sehr spielerisch vorgehen, damit der Leser diesem roten Faden folgen kann. Beim Schreiben stellte ich mir alle Stimmen als eine Art Berg vor. Unter diesem Stimmberg fließt die Familiengeschichte. Es gibt einige Kapitel, in denen der Fluss – also die Familiengeschichte – riesengroß ist, und alles, was man sieht, ist ein einziger riesiger Strom, und es gibt andere Kapitel, in denen das Wasser fast versiegt. Aber wenn man ihm lauscht, hört man es weiterrauschen. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, dass der Fluss unterirdisch weiterfließt, bevor er anderswo wieder an die Oberfläche dringt.

Sie kombinieren beim Schreiben nicht nur den erzählenden Stil mit Poesie, sondern auch mit anderen Elementen. Warum ist Ihnen diese Ausdrucksvielfalt wichtig?

Der Roman ist eine sehr flexible Gattung, in die vieles passt: Forschen, Fragen, Lernen und so weiter. Auf der anderen Seite bietet er auch Raum für kreative Freiheit, Spiel und Freude beim Schreiben. In meinem Roman denke ich darüber nach, dass wir alle ein und denselben Moment ganz unterschiedlich wahrnehmen oder uns an ihn erinnern, auch wenn wir ihn gleichzeitig erleben. Wenn man nicht-menschliche Stimmen einbezieht, wird alles noch komplexer. Also versuche ich, verschiedene Wege zu finden, um dieselbe Welt zu beschreiben. Deshalb gibt es ein Kapitel nur mit Gedichten, weil Poesie eben eine andere Ausdrucksform ist, sowie ein bebildertes Kapitel, weil ich bei der Recherche festgestellt habe, dass nicht alles nur über Sprache funktioniert. Es gibt vieles, das wir visuell lernen oder verstehen.

Sie schreiben auf Katalanisch, in einer Sprache, die im Schatten eines verlegerisch dominierenden Spanisch steht. Allerdings wurde Ihr Roman schon in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Was bedeutet das für Sie?

Katalanisch ist meine Sprache. Ich habe mich nie hingesetzt und überlegt, in welcher Sprache ich schreiben sollte. Nie ging es mir durch den Kopf, eine andere Sprache zu wählen, um meine Projekte zu entwickeln und zu veröffentlichen. Der Europäische Literaturpreis und der Umstand, dass der Roman in so viele Sprachen übersetzt wird, bestätigt, dass es absolut berechtigt ist, in der eigenen oder in einer anderen selbst gewählten Sprache zu schreiben. Katalanisch ist eine kraftvolle Sprache mit einer uralten literarischen Tradition und obwohl ich Englisch und Spanisch spreche und mit beiden spielen kann – wenn das nützlich für mein Schreiben ist –, schreibe ich auf Katalanisch.

Es ist nicht so selbstverständlich, dass eine junge Autorin schon so viele Auszeichnungen und so viel Anerkennung bekommt. Wie gehen Sie mit dem Erfolgsdruck um? Wie beeinflusst er Ihre kreative Arbeit?

Das Wichtigste für mich ist eben der kreative Prozess. Es ist der Teil, der mir am meisten Spaß macht, mich am meisten interessiert und mir am besten gefällt. Ich versuche, so weiterzuarbeiten, wie ich es immer getan habe: mit so viel Freiheit, Neugier, Lust zu fragen und nachzudenken, zu forschen und zu lernen, wie möglich. Es ist mein großer Wunsch, viel Spaß beim Schreiben zu haben. Im Moment arbeite ich an meinem nächsten Roman. Wenn ich schreibe, bin ich ein bisschen wie eine Bärenmama: Ich komme sehr langsam voran, aber ich kann dir sagen, dass ich eine großartige Zeit habe.

INTERVIEW: MARÍA IGNACIA SCHULZ

María Ignacia Schulz ist afrokolumbianisch-deutsche Autorin und Übersetzerin. Sie ist Mitbegründerin der Literaturzeitschrift Alba. Lateinamerika lesen, deren Herausgeberin und Redakteurin sie bis 2019 war.


Irene Solà wurde 1990 in Malla geboren, einem kleinen Dorf in der Provinz Barcelona. In der katalanischen Hauptstadt studierte sie an der Akademie der Künste sowie Literatur, Film und visuelle Kultur an der University of Sussex. Bereits ihr 2012 veröffentlichtes Lyrikdebüt »Bèstia« (Biest) wurde mit dem Amadou-Oller-Lyrikpreis ausgezeichnet. 2017 folgte ihr erster Roman »Els dics« (Die Deiche). Für ihren zweiten Roman, »Canto jo i la muntanya balla« (»Singe ich, tanzen die Berge«), wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Literaturpreis 2020. Derzeit wird der Roman weltweit in 26 Sprachen übersetzt.


Dieses Interview erschien zuerst im logbuch, das kreuzer-Sonderheft zum Bücherherbst 2022. Das Heft liegt der Oktober-Ausgabe des kreuzer bei. Hier können Sie die kostenlose ePaper-Version des Logbuch lesen. 

Foto: Ignasi Rovir


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