anzeige
anzeige
Kultur

Schritt zurück nach vorn

Die Kinostarts der Woche

  Schritt zurück nach vorn | Die Kinostarts der Woche

Nachdem die Französischen Filmtage 2020 pandemiebedingt ausfallen mussten und im Jahr darauf vorzeitig beendet wurden, hoffen wir in diesem Jahr endlich wieder auf die ganze Bandbreite des frankophonen Kinos. Zu sehen gibt es mitunter den einfühlsamen belgischen »Close« von Lukas Dhont, das berührende Sterbe-Drama »Mehr denn je« von Emily Atef und Hommagen an Jean-Luc Godard, Claude Lelouche und Jean-Louis Trintignant.

»27. Französische Filmtage«: 16.-23.11., Passage-Kinos, Schaubühne Lindenfels

Film der Woche: Erwachsenwerden kann beglückend, erdrückend, magisch und albtraumhaft zugleich sein. All das fängt Guðmundur Arnar Guðmundsson in seinem zweiten Langfilm »Beautiful Beings« ein und erzählt einnehmend von der Jugend in den Vororten von Reykjavik. Der 14-jährige Balli (Áskell Einar Pálmason) ist ein Einzelgänger. Zuhause findet er keinen Halt, in der Schule wird er gemobbt. Seine Mutter ist drogenabhängig, der Vater sitzt im Knast. Seine Mitschüler Addi (Birgir Dagur Bjarkason), Konni (Viktor Benóný Benediktsson) und Siggi (Snorri Rafn Frímannsson) tyrannisieren ihn nach der Schule. Aus Langeweile enden sie eines Nachmittags in dem verwahrlosten Haus, in dem Balli meist mit sich allein ist. Langsam entwickelt sich zwischen den vier Jungs eine Art Freundschaft. Sie alle stammen aus zerrütteten Verhältnissen und halten zusammen, als Ballis Vater aus dem Gefängnis entlassen wird und plötzlich wieder zu Hause auftaucht. Gemeinsam bieten sie dem gewalttätigen Schläger die Stirn.

Klug und einfühlsam reflektiert Guðmundsson (»Herzstein«) in seinem bemerkenswerten Film die Auswirkungen von Gewalt und emotionaler Verwahrlosung. Er zeigt die Täter als Opfer ihrer Lebensumstände und gewinnt beim Betrachter Sympathien für seine Protagonisten. Die Atmosphäre drohender Gewalt verlagert sich, bleibt aber steter Bestandteil in der Welt der Heranwachsenden. Dazwischen finden Guðmundsson und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hypnotische Traumbilder, in denen Addi sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Mutter und dunkle Vorahnungen verarbeitet. Guðmundssons Coming-of-Age-Drama pendelt gekonnt zwischen hartem Sozialrealismus und sanfter Freundschaftsgeschichte. Im Panorama der diesjährigen Berlinale wurde er dafür mit dem Europa Cinemas Label Preis als bester europäischer Film ausgezeichnet.

»Beautiful Beings«: 12., 14., 16.11., Schaubühne Lindenfels

Es mag am fortgeschrittenen Alter des Rezensenten liegen, dass die Filme von Hong Sang-Soo im Kopf verschmelzen. Aber im Prinzip sind die Werke des Koreaners, die mit steter Gewissheit ein bis zweimal im Jahr in die Festivalkinos und hin und wieder auch in die hiesigen Lichtspielhäuser gelangen, ein einziger selbstreferenzieller Gedankenstrom. Selbst im vergangenen Corona-Jahr war er mit einem Film im Wettbewerb von Cannes (»In Front Of Your Face«) und einem auf der Berlinale (»Introduction«) vertreten. Und auch in diesem Jahr gibt es zwei Ergänzungen zum Œuvre: Den in Toronto uraufgeführten »Walk Up« und »The Novelist’s Film«, der nun mit einem etwas ausladenden deutschen Titel auch in unsere Kinos kommt. Inhaltlich bietet er wenig Neues: Wir begleiten eine angesehene Schriftstellerin bei dem Besuch einer alten Freundin, dem Aufeinandertreffen mit einem von sich selbst überzeugten Regisseur und seiner Frau und dem obligatorischen Trinkgelage mit einem befreundeten Poeten. Man kann Hong Sang-Soos Blick auf die Kulturschaffenden seiner Heimat als elitär und selbstbezogen kritisieren. Die endlosen Dialoge seiner Figuren sind jedoch entlarvend, von feinem Humor durchzogen und immer wieder überraschend. Das verleiht seinen Filmen eine Leichtigkeit, die den europäischen Intellektuellen oftmals abgeht. Vielleicht werden auch deshalb seine Filme weltweit auf den großen Festivals so sehr verehrt.

»Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall«: ab 10.11., Luru-Kino in der Spinnerei

In einer nahen Zukunft entwickeln manche Menschen durch reine Willenskraft zusätzliche, teilweise auch völlig unbekannte Organe. Viele haben zudem kein klassisches Schmerzempfinden mehr, sodass ein Herumoperieren am geöffneten Leib bei vollem Bewusstsein nichts Ungewöhnliches ist. Saul Tenser und seine Assistentin Caprice haben letzteres sogar zur Kunstform erhoben: In öffentlichen Darbietungen lässt sich Saul Innereien wachsen, von Caprice tätowieren und entnehmen. Der Staat will nun gegensteuern und neuartige Organe registrieren lassen. Auf der anderen Seite setzt eine Untergrundgruppe sich dafür ein, dass die Evolution ungehindert ihren Lauf nehmen darf. Bodyhorror-Altmeister David Cronenberg, berühmt-berüchtigt durch Abgründiges wie »Scanners« und »Die Fliege«, meldet sich nach zwanzig Jahren Pause in dunklen Dramen wie »A History of Violence« wieder in seinem Leib- und Magengenre zurück – wortwörtlich, versteht sich. Seine wilden bis wirren Ideen sind nach wie vor einzigartig und spitzen diesmal gesellschaftliche Entwicklungen und Trends visuell verstörend und höchst atmosphärisch zu. Leider entgleiten ihm jedoch irgendwann einige Handlungsfäden komplett und führen ins Leere, sodass am Ende ein kammerspielartiges, mit Stars wie Viggo Mortensen, Léa Seydoux und Kristen Stewart gespicktes Spätwerk ohne stringente Geschichte steht, in dem sich irgendwo ein guter Film versteckt. PETER HOCH

»Crimes of the Future«: ab 10.11., Passage-Kinos (am 12.11. digitales Live-Q&A mit Regisseur David Cronenberg), Regina-Palast, 16.11., Schauburg

Weitere Filmtermine der Woche

Maguy Marin – L’urgence d’agir
F 2019, Dok, R: David Mambouch, 108 min
Dokumentarisches Porträt von Maguy Marin, die sich seit mehr als 40 Jahren als eine bedeutende und unverzichtbare Choreografin auf der Weltbühne etabliert hat.
Passage-Kinos, 11.11., 16 Uhr (euro-scene, mit Einführung von Maguy Marin, OmeU)

El país sin indios
UR 2019, R: Nicolás Soto, Leonardo Rodríguez, 115 min
Über die Kolonialgeschichte Uruguays und die Nachkommen indigener Menschen. Im Anschluss Gespräch mit Wendy Bermolen. Im Rahmen des GlobaLE-Filmfestivals
Neues Schauspiel Leipzig, 10.11., 20 Uhr (OmeU, Eintritt frei, Diskussion mit Wendy Bermolen)

Under the Underground
A 2019, Dok, R: Angela Christlieb, 54 min
Zuerst taucht Angela Christlieb in die Underground-Musikszene Wiens der 1980er Jahre ein. Im Anschluss sprengt die dort verwurzelte Band »Blueblut« die musikalischen Grenzen.
Cinémathèque in der Nato, 11.11., 20 Uhr (Film & Musik, OmeU)

Der marktgerechte Mensch
D 2020, R: Leslie Franke, Alexander Grasseck, Laura Dean, 100 min
Der Dokumentarfilm untersucht, wie zunehmend unsicherere Arbeitsplätze Menschen verändern und soziale Beziehungen zu anderen beeinflussen.
D 5, 11.11., 19 Uhr

Der Tod in Venedig
I 1970, R: Luchino Visconti, D: Silvana Mangano, Romolo Valli, Marisa Berenson, 125 min
Luchino Viscontis atmosphärisch eindrucksvolle Umsetzung der 1912 erschienenen Novelle von Thomas Mann.
Schaubühne Lindenfels, 11.11., 18:30 Uhr (mit Einführung von Margherita Siegmund und Alessandro Zuppardo, im Rahmen des Kolloquiums »Eros und Tod bei Marcel Proust«)

Blindfold
UKR 2020, R: Taras Dron, D: Maryna Koshkina, Oleg Shulga, Larisa Rusnak, 105 min
Die junge MMA‐Kämpferin Yuliya hat ihren Freund verloren. Er starb im Krieg in der Ost‐Ukraine. Sie beginnt eine neue Beziehung, damit es irgendwie weitergeht in ihrem Leben.
Kinobar Prager Frühling, 18.11., 18 Uhr (mit Einführung, OmeU)

Dalit Defenders
D 2021, Dok, R: Kaier Rest & Kenny Klein, 84 min
Dokumentarfilm über die Dalit-Frauen, die in vielen Teilen Indiens als unrein gelten. Die Aktivistin Manjula Pradeep kämpft für die Rechte der Frauen.
Cineding, 17.11., 19 Uhr (anschl. Gespräch mit dem Filmteam)

Der Entschluss
D 2020, Dok, R: Nancy Brandt, 62 min
Die bewegende Geschichte der letzten Flüchtlinge aus der DDR.
Zeitgeschichtliches Forum, 15.11., 19 Uhr

Do the Right Thing
USA 1989, R: Spike Lee, D: Spike Lee, Danny Aiello, John Turturro, 120 min
Ein Italo-Amerikaner gerät in seinem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel in Brooklyn an einem heißen Sommertag mit einem Gast aneinander. Tragik, Komik, Lebenslust und Tod liegen in Spike Lees bis heute bestem Film nah beieinander.
Bibliotheca Albertina, 15.11., 20 Uhr (Eintritt frei, Filmreihe »New York! New York!«)

Driving North – E-Autos am Limit
D 2022, Dok, R: Felix Bahlinger, Jonas Falk, Jonah Plank, 128 min
Die bekannten Youtuber Felix, Jonas und Jonah begeben sich mit einem Elektroauto an den nördlichsten Punkt Europas und halten ihre Tour dokumentarisch fest.
Cineplex, 12.11., 16 Uhr (in Anwesenheit der YouTuber und Filmemacher Felix,Jonas und Jonah mit Q&A zum Film)

Final Girls Berlin – Best of 2022
Das Final Girls Berlin Film Festival präsentiert Horror-Kurzfilmkino, in welchem Frauen Regie geführt haben, und Filme, die von Frauen geschrieben oder produziert wurden.
Cineding, 18.11., 19 Uhr

Hopper – Eine amerikanische Lovestory
GB 2022, Dok, R: Phil Grabsky, 95 min
Doku über Edward Hopper, den vermutlich einflussreichsten Künstler der USA.
Passage-Kinos, 16.11., 13 Uhr (Kunst trifft Film, OmU)

Ithaka – A Father. A Family. A Fight For Justice
AU 2022, R: Ben Lawrence, 110 min
Doku über den Vater von Wikileaks-Gründer Julian Assange. Im Anschluss Gespräch mit Christian Mihr (Reporter ohne Grenzen). Im Rahmen des GlobaLE-Filmfestivals.
Passage-Kinos, 15.11., 20:30 Uhr (OmU)

L’homme de la cave
F 2021, R: Philippe Le Guay, D: François Cluzet, Jérémie Renier, Bérénice Bejo, 114 min
Simon und Helen beschließen, ihren Keller in dem Pariser Wohnhaus zu vermieten. Der Käufer stellt sich jedoch als zwielichtiger Typ mit dunkler Vergangenheit heraus.
Institut Français, 14.11., 19 Uhr (OmeU)

Into the Ice
DK/D 2022, Dok, R: Lars Ostenfeld, 86 min
Regisseur Lars Ostenfeld reist mit dem weltweit führenden Glaziologen tief in das schmelzende Herz des Klimawandels auf der Suche nach dem, was uns das Eis über unser Klima, unsere Vergangenheit und mögliche Zukunft verraten kann.
Regina-Palast, 13.11., 17 Uhr (Der Sonntagsfilm um 5)

Sorry Genosse
D 2022, Dok, R: Vera Maria Brückner, 94 min
Die Medizinstudentin Hedi aus der DDR und der BRD‐Student Karl‐Heinz lieben sich in Zeiten des Kalten Krieges. Sie leben zwar beide in Deutschland, sind aber getrennt durch den Eisernen Vorhang. Damit sie zusammen sein können, muss es einer der beiden auf die andere Seite schaffen.
Kinobar Prager Frühling, 12.11., 18 Uhr (Filme gegen das Vergessen, Preview)

Stollen 
D 2020, Dok, R: Laura Reichwald, 85 min
Der Ort Pöhla im Süden Sachsens blickt auf eine 800-jährige Geschichte des Bergbaus zurück. Zur Weihnachtszeit herrscht dort heute Hochsaison. Porträt einer Arbeiterregion zwischen Tradition und Moderne.
Budde-Haus, 13.11., 16 Uhr

Wendemigra
Interaktives Filmprojekt zu Migranten und Migrantinnen in der DDR
Denkmalwerkstatt, 14.11., 19 Uhr

Wie friedlich war die Friedliche Revolution? Ost-Migrantische Perspektiven auf den Mauerfall
Interaktiver Film und Gespräch mit Zeitzeugin Mona Ragy Enayat und der Projektleiterin Judith Schein.
Denkmalwerkstatt, 14.11., 19 Uhr

Nachtwald – Das Abenteuer beginnt! 
D 2020, R: André Hörmann, D: Levi Eisenblätter, Jonas Oeßel, Marc Limpach, 100 min
Paul und sein Freund Max machen sich bei einem Sommerurlaub auf die Suche nach Pauls Vater. Dabei erleben sie etliche Abenteuer in den Bergwäldern der Schwäbischen Alb.
Passage-Kinos, 13.11., 15 Uhr (European Arthouse Cinema Day, Preview)

Grump 
FIN/D 2022, R: Mika Kaurismäki, D: Aake Kalliala, Heikki Kinnunen, Rosalie Thomass, 109 min
Grump ist Anfang 70 und eigentlich dauerhaft schlecht gelaunt. In Deutschland macht er sich auf die Suche nach einem 72er Ford Escort, denn seinen alten hat er zu Schrott gefahren.
Passage-Kinos, 13.11., 18:15 Uhr (European Arthouse Cinema Day, Preview)

 

Foto: Filmstill aus »Beautiful Beings«, Copyright Salzgeber & Co. Medien


Kommentieren


0 Kommentar(e)