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Stadtleben

Der unterschätzte Cousin

Verfeinerte Methoden und technologischer Fortschritt veränderten in den letzten Jahren unser Bild vom Neandertaler grundlegend – ein Versuch, die nun nobelpreisprämierte Forschung zu umreißen

  Der unterschätzte Cousin | Verfeinerte Methoden und technologischer Fortschritt veränderten in den letzten Jahren unser Bild vom Neandertaler grundlegend – ein Versuch, die nun nobelpreisprämierte Forschung zu umreißen

Unkultiviert und grobschlächtig: Lange galt es als klare Sache, dass der moderne Mensch den Neandertaler verdrängte, weil der zu primitiv war. Vor etwa 40.000 Jahren verschwand der Neandertaler von der Bildfläche. Er lebte in Europa, dem Nahen Osten, Zentralasien und Westsibirien. Hier traf der Homo sapiens mit ihm zusammen und brachte – so lange die wissenschaftliche Überzeugung – endlich Kultur nach Eurasien.
Der Homo sapiens brach vor über 50.000 Jahren in Afrika auf, die ersten Gruppen schon vor 90.000 bis 100.000 Jahren, und besiedelte die restliche Erdkugel: Asien, Australien, Europa, schließlich Amerika. In Mitteleuropa kam er vor 45.000 Jahren an. Er bemalte Höhlen, nutzte Werkzeuge, schuf Skulpturen und Musikinstrumente, orientierte sich an den Sternen, begrub seine toten Angehörigen.

Stark, aber doof: Im Gegensatz dazu galt der Neandertaler lange als tumber Geselle, ein kurz gewachsener Grobmotoriker mit fliehender Stirn und mit erheblich mehr Muskelmasse ausgestattet als der moderne Mensch. Er wirkt entfernt verwandt, aber es war Konsens, dass er intellektuell minderbemittelt und kulturlos war: unfähig, soziale Beziehungen zu anderen zu pflegen oder das reiche Speisenangebot zu nutzen, das seine Umwelt ihm präsentierte, weil er nicht in der Lage war, vorausschauend zu denken und eine ordentliche Jagd zu planen.

Diese Vorstellung vom plumpen entfernten Verwandten stammt aus dem 19. Jahrhundert. Es war 1856, als Arbeiter in einem Steinbruch im Neandertal bei Düsseldorf 40.000 Jahre alte Knochen und Teile eines Schädels fanden, die die damalige Fachwelt einem »rohen Urvolk« von »Flachköpfen« zuordnete. Es ging um nicht weniger als das Selbstbild des modernen Menschen als Krone der Schöpfung. Folglich wurden Schmuck oder Werkzeuge, die sich bei Grabungen fanden, selbstverständlich dem Homo sapiens zugerechnet. Wer sonst sollte sie hergestellt haben? Die Beziehung zwischen Homo sapiens und Neandertaler stellte man sich als gewaltvoll vor: Der Neandertaler verschwand deshalb, weil der Homo sapiens ihn erfolgreich bekriegt hatte. Der war zwar nicht stärker, aber kulturell überlegen, vom »Krieg der ersten Menschen« etwa titelte der Spiegel.

Erst später kam die Hypothese auf, dass beide Menschenformen friedlich koexistiert und miteinander Nachwuchs gezeugt hatten. Während die Auslöschung auf kriegerischem Wege jedenfalls nicht schnell verlaufen sein kann – immerhin lebten beide einige Jahrtausende zusammen –, schien nichts für ihre Vermischung zu sprechen. Als ein gewisser Svante Pääbo in den Neunzigern an Methoden arbeitete, DNA-Untersuchungen an jahrtausendealtem Material anstellen zu lassen, rekonstruierte er DNA aus einem Neandertaler-Armknochen, genauer: aus den Mitochondrien, das sind die Kraftwerke der Zellen, die eine eigene Erbsubstanz enthalten. Die verglich er mit menschlicher Mitochondrien-DNA. Im Jahr 2000 zitiert ihn ebenjener Spiegel-Beitrag: »Es gibt keinerlei Hinweise, dass die Neandertaler einen wesentlichen Beitrag zum Genpool des heutigen Menschen geleistet haben.«

Innerhalb weniger Jahre wurde dieses Bild grundlegend erschüttert, durch verfeinerte Methoden und technologischen Fortschritt. Außerdem deuteten archäologische Funde, die nicht der Homo sapiens hinterlassen haben konnte, darauf hin, dass die Dinge komplexer waren. Die Untersuchung durch das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie konnte zeigen, dass Gegenstände vom Neandertaler stammten, die man bis dahin dem modernen Menschen zugeordnet hatte. Auch die Neandertaler nutzten spezialisierte Werkzeuge, machten Feuer und jagten Huftiere und Großwild in Gruppen. Die Proteine versorgten unter anderem das Neandertaler-Gehirn, das in Schädeln steckte, die so groß waren wie die von heutigen Menschen. Sie konnten abstrakt denken, schufen Malereien und Körperschmuck; manche bestatteten auch die Verstorbenen in Gräbern. Ganz ähnlich also wie der moderne Mensch.

Aufschluss geben kann auch die Analyse der DNA im Zellkern. 2014 konnte das Team am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie das Neandertaler-Genom fast komplett entschlüsseln. Das ermöglichte den Vergleich mit den Genomen heutiger Menschen. Derzeit sind drei Neandertaler-Genome von guter Qualität publiziert, weitere sind in Arbeit. Dank dieser Vergleiche weiß man, dass Neandertaler und moderne Menschen vor etwa 50.000 Jahren gemeinsamen Nachwuchs zeugten. Das heißt: Der Neandertaler ist der engste Verwandte der heutigen Menschen. Dieser Cousin war an die raue Welt während der letzten Eiszeit gut angepasst. In seinen großen Nasenhöhlen konnte sich kalte Luft beim Einatmen gut erwärmen, durch seinen gedrungenen Körperbau verlor er weniger Wärme. Auch wenn Neandertaler-Gehirne ungefähr so groß waren wie die heutiger Menschen, gibt es Unterschiede in ihrem Aufbau und in ihrer Entwicklung, so dass der Neandertaler womöglich in puncto Intellekt, Emotionen und Kommunikation anders aufgestellt war. Die aktuelle Forschung geht aber davon aus, dass der Neandertaler sprechen konnte, jedenfalls war er wohl anatomisch dazu in der Lage. Und er konnte Wissen weitergeben und so erst Fähigkeiten wie Werkzeuggebrauch oder Gruppenjagd entwickeln. Allerdings wurden Neandertaler-Kinder schneller erwachsen, dies zeigen Zahnuntersuchungen, die Forscherinnen und Forscher unter anderem vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie vornahmen. Die längere Kindheit des heutigen Menschen verschaffte diesem eine längere Phase des Reifens und Lernens, was ein Vorteil gegenüber dem Neandertaler gewesen sein könnte – weg von »Live fast and die young«, hin zu »Live slow and die old«. Warum der Neandertaler ausstarb, ist jedoch nach wie vor ungeklärt.

Die Analyse von DNA im Zellkern veränderte außerdem das Bild von der Evolution der verschiedenen Menschenformen. Bis vor wenigen Jahren ging die Forschung noch davon aus, dass sie sich unabhängig voneinander entwickelten. Die DNA-Analysen deuten darauf hin, dass Homo sapiens und Neandertaler eine gemeinsame evolutionäre Linie hatten, die sich vor 600.000 Jahren teilte. Der moderne Mensch entwickelte sich in Afrika, der Neandertaler parallel dazu in Eurasien. Als sie miteinander in Kontakt kamen, gab der Neandertaler erhebliche Anteile seines Erbguts an den modernen Menschen. Heute lebende Menschen, deren Wurzeln außerhalb Afrikas liegen, haben ein bis drei Prozent Neandertaler-DNA, die auf den Kontakt vor 47.000 bis 65.000 Jahren zurückgehen. Und es gibt auch DNA des modernen Menschen im Neandertaler: Sie stammt vermutlich aus einem früheren Kontakt vor etwa 100.000 Jahren.

Was genau heißt das nun? »Anhand von DNA lassen sich Verwandtschaftsverhältnisse gut erkennen«, sagt Matthias Meyer, Molekularbiologe am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. »Also: dass Mensch und Neandertaler Verbindungen haben. Festzustellen, was Einzelstellen des Genoms ausmachen, was Neandertaler-DNA dort ausmacht, ist unglaublich kompliziert.« Meyers Kollegin, die Bioinformatikerin Janet Kelso, erläutert: »Seit dem Kontakt waren die Menschen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt, lebten in unterschiedlichen Umgebungen, ernährten sich unterschiedlich und so weiter. Die Frage ist, ob die Neandertaler-DNA ihnen dabei jeweils half oder nicht. Dafür schauen wir uns Häufungen an, wenn also viele Menschen an einer bestimmten Stelle Neandertal-DNA aufweisen. Das war dann für die menschliche Evolution vermutlich positiv – zumindest zeitweise.« Die Wissenschaft kann somit in eine Art Zuchtexperiment der Natur hineinschauen und beobachten, wie der Austausch das Erbgut verändert und welche Auswirkungen das auf die Biologie hat. Die Neandertaler-DNA brachte demnach Vorteile für das Immunsystem und die Gehirnentwicklung mit sich. Sie beeinflusst Eigenschaften wie Haut- und Haarfarbe, Stimmung und Schlafrhythmus und sogar Verhaltensweisen wie das Rauchen oder Nichtrauchen. »Immunität ist ein besonders wichtiger Faktor«, so Kelso. »Aber auch die Anpassung an die Höhenlage und Breitengrade, an das Sonnenlicht und an das Nahrungsangebot. Um es sehr vereinfacht auszudrücken: Neandertaler waren an ihre Umgebung gut angepasst, und einiges von dem, was sie uns weitergegeben haben, hat uns erlaubt, uns auch anzupassen.«


Titelfoto: Svaante Pääbo. Copyright: Frank Vinken.


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