Mit jeder neuen Wortmeldung zum Ukraine-Krieg rückt sich CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer weiter ins politische Abseits. Wieso tut er das? Eine Spurensuche.
Will man das Verhältnis vom sächsischen CDU-Landeschef Michael Kretschmer zum russischen Präsidenten Wladimir Putin beschreiben, eignet sich am besten ein Foto vom April vergangenen Jahres. Es zeigt Kretschmer, wie er in Moskau allein auf einem barocken Gobelin-Sofa sitzt, vorne an der Kante, den Hörer eines alten Wählscheibentelefons in der Hand. Er wirkt auf dem überdimensionalen Möbel wie ein kleiner Junge, der gerade am Telefon gemaßregelt wird. Am anderen Ende der Leitung war Putin, der nur Zeit für ein Telefonat hatte, obwohl der sächsische Ministerpräsident extra nach Russland gereist war. Andere Politiker hätten das als Affront aufgefasst, der »Laufbursche«, wie der Tagesspiegel Kretschmer daraufhin bezeichnete, veröffentlichte hingegen stolz das Foto auf Instagram. »Den Freistaat Sachsen und Russland verbinden 30 Jahre intensiver Kooperation und Beziehungen«, konnte man dort lesen, und dass auch »kritische Punkte wie die Ukraine-Krise und die Situation um Nawalny« angesprochen wurden. Offenbar hat Putin weder in Bezug auf den Oppositionsführer Alexej Nawalny – während Kretschmers Russlandreise wurden bei Demonstrationen für seine Freilassung fast zweitausend Menschen verhaftet – noch bezüglich der Ukraine auf seinen alten Freund aus Sachsen gehört. Ganz im Gegenteil: Noch während der sächsische Ministerpräsident in Russland weilte, warnte der Kreml-Chef den Westen vorm Überschreiten der »roten Linie«: Alle, die »die Kerninteressen unserer Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten so bereuen, wie sie lange nichts bereut haben«.
Rote Linien hatte auch Kretschmer für viele mit seinem Russlandbesuch überschritten. Schließlich stand Putin spätestens mit der Besetzung der Krim 2014 außenpolitisch im Abseits und sollte mit Sanktionen zur Vernunft gebracht werden. Kretschmer war dagegen und hielt weiter zu Putin, der einst als KGB-Agent fünf Jahre in der Landeshauptstadt Dresden verbrachte, und am Russland-Handel fest. Zweimal reiste der Ministerpräsident auf eigene Faust nach Russland, mit einem Tross aus der sächsischen Wirtschaft im Schlepptau. Und auch sonst wollte man sich im Freistaat von weltpolitischen Streitigkeiten das regionale Geschäft nicht vermiesen lassen. Im Rahmen der Sächsischen Außenwirtschaftswoche fand auch nach Beginn des Embargos weiter der traditionelle »Russlandtag« statt, der 20. und bisher letzte im Mai 2021. Kretschmers fortwährendes Engagement für ein Ende der Sanktionen – gegen die Linie seiner Partei und der Bundesregierung – und seine außenpolitischen Alleingänge brachten ihm große Kritik ein. Nach einer Russlandreise im Juni 2019, auf der Kretschmer sich mit Putin fotografieren ließ und den Kreml-Chef gar nach Sachsen einlud, schrieb der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, auf Twitter: »Herr Ministerpräsident, haben Sie einen außenpolitischen Berater? Falls ja, sofort feuern.« Kretschmer ließ sich davon nicht beirren.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar schwankt der Ministerpräsident zwischen Solidaritätsbekundungen für die Ukraine und Forderungen nach »Maß und Mitte« in den Reaktionen. Die Sanktionen hält er weiterhin für falsch. Als Putins Armee bereits angefangen hatte, ukrainische Städte dem Erdboden gleichzumachen, erklärte der CDU-Bundesvize im März gegenüber dem MDR, dass auch weiterhin »ein vernünftiges Verhältnis zu Russland« wichtig sei. Als er im Juli forderte, den Konflikt »einzufrieren«, und damit großen Widerspruch erntete, freute sich AfD-Parteichef Tino Chrupalla, dass Kretschmer nun auf die Linie der AfD einschwenke. Zuletzt sorgte Kretschmer im Oktober für Empörung, als er sich für die Wiederaufnahme russischer Gaslieferungen nach Kriegsende aussprach. Mitte November wiederholte er diese Forderungen im Interview mit dem MDR: Es brauche ein schnelles »Ende des Krieges zu fairen Bedingungen«, auch um dann wieder Gas aus Russland beziehen zu können. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete ihn bereits als »Russlandapologeten« und »prominentesten Putin-Versteher der Konservativen«. Auch in der CDU wächst der Unmut über ihn. CDU-Parteichef Friedrich Merz sprach im Sommer, auch an Kretschmer gerichtet, von einer »etwas naiven Haltung gegenüber Russland« im Osten Deutschlands. Die deutlichste Kritik äußerte Parteikollege Marco Wanderwitz im September in der LVZ: Kretschmer agiere »wie ein Geisterfahrer«, der glaube, »alle anderen würden in die falsche Richtung fahren«, so der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung. Aber wieso ist Kretschmer das Thema so wichtig, dass es ihm wert ist, sich damit den Ärger fast sämtlicher Parteikollegen einzuholen?
Eine Frage des Geldes?
Einen ersten Hinweis gibt er selbst: »Wir dürfen uns nicht in die Ecke drängen lassen von anderen Ländern, die andere wirtschaftliche Interessen haben«, sagte Kretschmer im März. Tatsächlich hat Sachsen als Wirtschaftsstandort eigene Interessen, die von der Krise zwischen dem Westen und Russland tangiert werden. So trafen die im Sommer 2014 erlassenen Sanktionen den Freistaat am härtesten: Von 2013 bis 2018 ging das Handelsvolumen mit Russland um 72,5 Prozent zurück. Im Rest der ostdeutschen Länder lag der Rückgang im Schnitt bei rund 30, in Westdeutschland gar nur bei 17 Prozent. Mittlerweile gehört Russland nicht mal mehr zu den 20 wichtigsten Handelspartnern Sachsens. Schon in den letzten Jahren lag das Exportvolumen nur noch bei rund einer halben Milliarde Euro. Im ersten Halbjahr 2022 ist es nach Angaben der Staatskanzlei im Vergleich zum Vorjahr um weitere 22 Prozent auf 227 Millionen Euro gesunken. Kretschmers Forderung nach einem Ende der Sanktionen liegt die Hoffnung zugrunde, irgendwann wieder an die goldenen Zeiten des sächsisch-russischen Handels anzuknüpfen. Jedoch sind die schon seit der Wende vorbei. Denn auch vor Beginn der Sanktionen gingen nur 4,2 Prozent der sächsischen Exporte nach Russland, nicht gerade ein lebenswichtiger Absatzmarkt. Der gesamtwirtschaftliche Schaden für den Freistaat hält sich also in Grenzen.
Jedoch trifft er ein Milieu verhältnismäßig stark, nämlich den sächsischen Mittelstand, und damit eine besonders wichtige Wählerklientel der Sachsen-Union. Es sind vor allem Maschinen- und Anlagenbauer, die auf den Handel mit Russland angewiesen sind. Auch die Kreishandwerkerschaft Leipzig und die Konsum-Genossenschaft Dresden haben diesen Sommer in offenen Briefen an die Bundesregierung ein Ende der Sanktionen gefordert. Insgesamt ist deren Bedeutung für die Landeswirtschaft jedoch viel geringer, als es der Ministerpräsident darstellt und sein Engagement vermuten lässt. 2019 erklärte das (SPD-geführte) sächsische Wirtschaftsministerium auf Anfrage der Welt, dass ein Ende der Sanktionen »lediglich geringfügige positive Effekte« auf Sachsens Wirtschaft hätte. Selbst mit Kriegsbeginn sei keine »allgemeine Alarmstimmung« zu verzeichnen gewesen, wie der Sprecher der IHK Dresden, Lars Fiehler, dem Handelsblatt sagte. Regierungssprecher Ralph Schreiber betonte auf Nachfrage des kreuzer an erster Stelle eine sich bereits seit 2014 entfaltende »nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung« auf Unternehmen im Freistaat, die sich nicht mehr trauten, Handel mit Russland zu betreiben. Darüber hinaus würden die Sanktionen durchaus »viele sächsische Unternehmen vor existenzielle Herausforderungen« stellen, schrieb er. Kretschmers Einsatz für Russland ist also ein Engagement für diesen Mittelstand. Alleine aus den ökonomischen Verflechtungen lässt er sich aber nicht erklären. Da ist noch etwas Anderes, das ihn und Teile des sächsischen Bürgertums mit dem letzten Imperium im Osten verbindet.
Kultur als Mittel zur Macht
Eine von Sachsen und Russland gemeinsam konzipierte Ausstellung, die im April 2021 erst in der Moskauer Tretjakow-Galerie und im Anschluss im Albertinum Dresden gezeigt wurde, kann Aufschluss geben. Ihr Titel: »Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland«. Sie vereint Werke von russischen und deutschen Künstlerinnen und Künstlern aus der Zeit der Romantik. Ausgangspunkt war, so kann man im Begleittext lesen, »die Krise des Subjekts zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der damit verbundene Kampf um Freiheit«. Bekanntermaßen war die Romantik die kulturelle Bewegung der Gegenaufklärung, sie setzte angesichts der Umbrüche jener Zeit auf das Gefühl, das Mystische, auf Heimat- sowie Naturverbundenheit. Ihr Freiheitsbegriff wandte sich gegen die damals aufkommenden Emanzipationsbestrebungen, sie war der kulturelle Ausdruck der Sehnsucht nach der guten alten Zeit und nach vergangener Größe. Eine »wunderbare Gelegenheit zu zeigen, was uns verbindet«, betonte Kretschmer zur Ausstellungseröffnung, zu der er extra nach Moskau gereist war. Tatsächlich lässt sich jene Sehnsucht auch heute noch finden, auf russischer wie sächsischer Seite.
Sie zeigt sich nicht zuletzt jedes Jahr beim Dresdner Semperopernball, wo das sächsische Bürgertum sich und seine einstige elbflorentinische Größe feiert: Hier ist die Welt noch in Ordnung, hier haben die Klassen und Geschlechter noch ihren angestammten Platz. 2019 und 2021 wurde der Semperopernball auch in Dresdens Partnerstadt St. Petersburg abgehalten. Auch das war ein Zeichen: Während Putin international immer mehr in Bedrängnis geriet, organisierte Hans-Joachim Frey, der Leiter des Semperopernballs, mit großer Unterstützung durch Kretschmer und andere sächsische Prominenz aus Politik, Sport und Wirtschaft einen pompösen Ball im Herzen Russlands, begleitet von einer Hofberichterstattung durch den öffentlich finanzierten MDR. Fast drei Stunden übertrug dieser den St. Petersburger Opernball 2019 live im Hauptprogramm, den Putin per Videobotschaft persönlich eröffnete. Die Einschaltquote von 11 Prozent zeigte, dass die Sehnsüchte des Zielpublikums des Senders erfolgreich angesprochen wurden. Der Freistaat Sachsen präsentierte sich hier als eigenständige »Kulturnation«, prunkvoll und wohlhabend, »uralte Traditionen« verkörpernd, die Elbflorenz vereint mit dem »Venedig des Ostens«, wie der MDR den Ball bewarb. Auch bei der 2. Auflage im September 2021 wurden sowohl Kretschmer als auch Putin per Video zugeschaltet, »getanzt wurde ungeachtet der politischen Spannungen zwischen Berlin und Moskau ganz ungezwungen« hieß es danach in der Pressemitteilung. Die Ausrichtung des Balls in St. Petersburg, Putins Geburtsstadt, soll auf seinen persönlichen Wunsch erfolgt sein. Er soll ein großer Fan sein, seit er 2009 in der Semperoper vom damaligen CDU-Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich den »Sächsischen Dankesorden« verliehen bekommen hatte. Erst nach großer Kritik wurde ihm dieser nun im März vom Ballverein aberkannt. Gleichzeitig verließen Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) und weitere Persönlichkeiten den Verein. Hilbert sprach von »schwierig zu durchschauender Vernetzung Einzelner mit anderen Veranstaltungen und Institutionen im Ausland, insbesondere mit Russland«, womit er vor allem den Vereinsvorsitzenden Hans-Joachim Frey meinte. Dieser tat sich nämlich schwer mit einer Distanzierung von Putin, und das nicht ohne Grund. Der österreichische Standard hat Freys Geschäftsmodell mal folgendermaßen umschrieben: »Kultur als Mittel zur Macht«. Für sein Engagement bekam Frey 2021 vom Kreml-Chef die russische Staatsbürgerschaft verliehen. Sein autobiografisches Buch »Russland lieben lernen« erschien vergangenes Jahr auf Russisch, mit einem Vorwort von Putin höchstpersönlich. Über die Ballnacht 2009, in der Putin seinen Orden bekam, heißt es darin: »Mit einem der mächtigsten Männer der Erde katapultierte sich der Ball in die Champions League derartiger Vergnügen.« Wer solch einen großen Anteil am Erfolg eines der wichtigsten Kulturereignisse des Freistaates hat, dem ist man natürlich was schuldig.
Autoritäre Sehnsüchte
»Wie bei vielen anderen Sachsen ist auch bei mir dieses Russland-Gen mitgewachsen, diese große Begeisterung und Zuwendung zu diesem großartigen Land, zu der Kultur, zu den Menschen.« Das verkündete Kretschmer im April 2018 im Gohliser Schlößchen beim Empfang des russischen Konsulats zu Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland. Eine tief im Blut sitzende Verbundenheit, mit einem Land, dessen Staat seit Jahren autoritär umgebaut wird, in dem die Opposition massiver Repression ausgesetzt ist und das aufgrund Putins Führungsstil weithin als »gelenkte Demokratie« bezeichnet wird? Kretschmer Sympathie für den putinschen Autoritarismus zu unterstellen, wäre zu weit gegriffen. Im MDR bestätigte er selbst neulich, dass Russland keine »lupenreine Demokratie« sei und stellte sich als Demokratiebringer dar. Aber es gibt durchaus eine inhaltliche Schnittmenge zwischen den beiden, denn Putin steht für jene antimoderne und antiliberale Agenda, die Konservative und noch weiter rechts stehende Politikerinnen und Politiker in ganz Europa vereint: für Tradition, Identität, Kirche und Familie, gegen Homoehe, »Genderquatsch« und »Multikulti«. Hierin liegt auch der Grund für die Begeisterung von AfD, Querdenkern und verwandten politischen Kreisen für das autoritäre Russland. Bereits bei den ersten Pegida-Demonstrationen im Herbst 2015 wehten Russlandfahnen über dem Dresdner Neumarkt.
Kretschmer hat schon immer viel Verständnis für dieses autoritäre Milieu aufgebracht, das in Sachsen bis weit in die selbsternannte Mitte reicht. Ob bei rassistischen Demonstrationen gegen Flüchtlingsheime oder den »Spaziergängen« gegen die Corona-Maßnahmen, immer suchte er das Gespräch. Bei seinem Umgang mit dem Ukraine-Konflikt spielt sicher auch politisches Kalkül eine Rolle. Er will der AfD nicht das Feld überlassen, die sich in Umfragen mit der CDU als stärkste Kraft in Sachsen abwechselt, und macht sich »Volkes Stimme« zu eigen. Es gebe eine spezifisch ostdeutsche Perspektive, »was den Blick auf den Krieg in der Ukraine betrifft«, erklärte der Ministerpräsident zum Tag der Deutschen Einheit. Man müsse akzeptieren, »dass wir eine andere Position haben«. Damit entpolitisiert er das Thema und macht es zu einer Frage ostdeutscher Identität, und behauptet zugleich, für alle »Ostdeutschen« zu sprechen. Das behauptet wiederum auch das rechte Protestmilieu, dass sich auf der Straße als »Volk« präsentiert, denen Kretschmer damit erneut die Hand reicht.
Während er mit solchen Aussagen Sympathiepunkte am rechten Rand des sächsischen Bürgertums gewinnen kann, verliert er diese zugleich innerhalb des eigenen konservativen Lagers. Mittlerweile ist sogar die Junge Union Sachsen, wo Kretschmer seine politische Karriere begann, auf Distanz zu ihm gegangen. Mit politischem Kalkül allein ist sein Geisterfahrerkurs daher auch nicht zu erklären. Die Macht, die Putin verkörpert und inszeniert, scheint auf Kretschmer, selbst ein autoritärer Charakter am rechten Rand der CDU, eine eigene Anziehungskraft auszuüben. Zudem konnte sich der sächsische Ministerpräsident durch seinen heißen Draht nach Moskau als einer der letzten Verbündeten der Großmacht inszenieren und sich damit eine weltpolitische Bedeutung verleihen, die ihm als Landeschef immer verwehrt geblieben ist. Offenbar will er nicht sehen, dass dies nun vorbei ist, und so könnte er bald auch bei der CDU ganz allein auf dem Sofa sitzen.
Titelbild: Sandro Halank
Grafik: Markus Färber