Die Oscar-Nominierungen, die in dieser Woche bekannt gegeben wurden, unterstreichen: »Close« ist einer der besten Filme des noch jungen Jahres. 2022 gewann das sensibel gefilmte Jugenddrama von Lukas Dhont (»Girl«) bereits den Großen Preis der Jury in Cannes. Nun ist er nominiert als bester nicht-englischsprachiger Film. In der gleichen Kategorie geht derweil auch »Im Westen nichts Neues« ins Rennen, dessen insgesamt neun Oscar-Nominierungen allerdings auch nicht darüber hinweg täuschen können, dass er für den Streaming-Dienst Netflix gedreht wurde. »Close« könnt und solltet ihr ab dieser Woche im Kino erleben.
Film der Woche: Léo und Rémi sind als beste Freunde in einer ländlichen Gegend Belgiens gemeinsam aufgewachsen. Ihre Freizeit verbringen sie fast immer zusammen, Léo übernachtet auch häufig im Haus von Rémi, ist für dessen Eltern zu so etwas wie einem zweiten Sohn geworden. Als die 13-jährigen Jungs gemeinsam die Schule wechseln und in die Pubertät kommen, wird ihre Innigkeit und Nähe von den neuen Mitschülern kritisch beäugt. Es kommt zu Mobbing und Kommentaren, was Léo dermaßen überfordert, dass er auf Distanz zu Rémi geht – mit dramatischen Folgen. Der neue Film des Belgiers Lukas Dhont (»Girl«) wurde im vergangenen Jahr in Cannes mit dem Großen Preis der Jury prämiert. Wie schon in seinem mehrfach ausgezeichneten Debütfilm über das Seelenleben einer 16-jährigen Transfrau bleibt auch »Close« ganz nah an der Erlebnisrealität seines jugendlichen Protagonisten. Der Film ist ausschließlich aus dem Blickwinkel Léos geschildert, weswegen es auch zu einigen Auslassungen kommt, die sich das Publikum selbst erschließen muss. Dhont nimmt sich die Zeit, die seine Figuren benötigen, um aus ihrer Bestürzung, ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit herauszufinden, weshalb »Close« durch seine hohe Glaubwürdigkeit mitunter fast schon wie ein Dokumentarfilm anmutet. Die beiden grandiosen jugendlichen Hauptdarsteller, die hier zum ersten Mal vor der Kamera zu sehen sind, tragen dazu ebenfalls viel bei. FRANK BRENNER
»Close«: ab 26.1., Passage-Kinos
Die Allee der Kosmonauten ist Kalles Zuhause. Was nach großer Sehnsucht und dem Greifen nach den Sternen klingt, ist vielmehr trister Alltag für viele Berliner Kinder: Eine Plattenbausiedlung in Marzahn-Hellersdorf. Sein Vater will nichts mit ihm zu tun haben, seine Mutter hat kaum Zeit für ihn, der Opa verliert sich in DDR-Nostalgie und die Oma hat zu spät den Absprung aus der Alkoholsucht geschafft, um noch ein gutes Vorbild für ihn zu sein. Trotzdem ist Kalle eigentlich »ein lieber Kerl«, wie sogar die Polizisten und Polizistinnen feststellen, die regelmäßig mit ihm zu tun haben. Das nützt ihm letztlich aber auch nichts – mit 17 landet Kalle im Gefängnis, er hat im Drogenrausch einen anderen Menschen angegriffen. Tine Kugler und Günther Kurth begleiten Kalle in diesem eindrücklichen Dokumentarfilm über einen Zeitraum von zehn Jahren, von seinen Ausflügen durch die Siedlung bis zur Entlassung aus dem Gefängnis und seinem schwierigen Weg zurück in die Normalität. Kalle erzählt meistens selbst, reflektiert, rappt und erträumt sich eine bessere Zukunft. Seinem Sohn will er ein guter Vater sein, die Frage ist nur, wie er das anstellen soll. Ohne Romantisierung, ohne großes Drama und mit pointiertem Einsatz von Animation schildern Tine Kugler und Günther Kurth Kalles Geschichte. Und zeigen auch, dass es manchmal nicht reicht, ein lieber Kerl zu sein, wenn dein Umfeld dir keine Perspektiven bietet. HANNE BIERMANN
»Kalle Kosmonaut«: ab 26.1., Cinémathèque in der Nato
»Du bist ein sehr trauriger Mensch.« Die Worte, die Tena ihrer Freundin Freddie ins Gesicht wirft, treffen sie tief. Und doch spricht sie damit nur die Wahrheit aus. Frédérique, von allen nur Freddie genannt, fühlt sich verloren. Geboren in Korea, adoptiert und aufgewachsen in Frankreich sucht die 25-Jährige nach Halt. Obwohl sie eine behütete Kindheit hatte, fehlt etwas. Eher durch Zufall landet sie in Seoul und sucht das Zentrum für Adoptionen auf, in der Hand ein einziges Foto und eine Nummer. Freddi wird nicht nur mit ihrem eigentlichen Namen konfrontiert, sie erfährt auch, warum ihre biologischen Eltern sie damals zur Adoption freigegeben haben. Aber es dauert lange, bis sie etwas mit diesen Informationen anzufangen weiß und beginnt, ihre Wurzeln zu akzeptieren. Regisseur Davy Chou (»Diamond Island«) erzählt hier die Geschichte einer Freundin und die von Hunderttausenden Adoptierten, die fernab der Heimat aufwachsen. Das Gefühl der Verlorenheit ist spürbar und macht aus Freddie eine impulsive, fahrige Figur, die in einem Moment ihre Mitmenschen mitreißt und sie im nächsten von sich stößt. In einem bemerkenswerten Schauspieldebüt verkörpert sie die bildende Künstlerin Ji-Min Park mit Haut und Haar. Langsam und eindrücklich inszeniert Chou ihre Selbstfindung. Dafür gab es viel Applaus und Preise bei Festivals rund um die Welt.
»Return to Seoul«: ab 26.1., Cineding, Luru-Kino in der Spinnerei
Florian Zeller ist ein sehr erfolgreicher Theater-Autor, der im Jahr 2020 selbst sein Stück »The Father« mit Anthony Hopkins als sensationellen Film über Demenz inszenierte. Nun verfilmt der französische Schriftsteller mithilfe des legendären Drehbuch-Autors Christopher Hampton (»Gefährliche Liebschaften«) sein Bühnen-Baby »The Son« zum Thema Depression. Der New Yorker Anwalt Peter ist erfolgreich und glücklich in seiner frischen Ehe mit seiner jüngeren Partnerin Beth. Bis seine Ex-Frau Kate vor der Tür steht und von den Problemen ihres gemeinsamen Sohns Nicholas erzählt, der wochenlang nicht mehr in der Schule war. Peter lässt schließlich den 17-Jährigen bei sich in dem arg grau designten Appartement wohnen. Anfangs ist Nicholas verbittert gegenüber der Frau, welche die Ehe der Eltern auseinandergebracht hat. Dann scheint sich alles zu bessern, doch nach kurzer Euphorie verfällt der Sohn wieder seiner Traurigkeit. Es ist relativ schnell klar, dass Nicholas an einer schweren Depression leidet. Allein die Erwachsenen im Film bekommen das scheinbar nicht mit oder wollen es nicht sehen. »The Son« ist im Prinzip ein Kammerspiel mit kurzen Ausflügen in die Außenwelt. Florian Zeller kümmert sich aufwändig um sein Bühnenkind »The Son« mit hervorragender Kamera (Ben Smithard), emotionalem Soundtrack (Hans Zimmer) und vor allem exzellentem Schauspiel von »Wolverine« Hugh Jackman. GÜNTER JEKUBZIK
»The Son«: ab 26.1., Passage-Kinos, Regina-Palast
Weitere Filmtermine der Woche
Dust of Modern Life
D/F/VIE 2021, Dok, R: Franziska von Stenglin, 81 min
Liem, ein Sedang, eine ethnische Minderheit in Vietnam, kocht für die Familie und arbeitet auf dem Feld. Aber bald wird er, wie jedes Jahr, die Familie für einige Tage verlassen. Gemeinsam mit anderen Männern geht er in den Dschungel, um an archaische Lebensweisen zu erinnern und sich von dem zu ernähren, was die Natur ihm bietet. Eine spirituelle Reinigung und eine Tradition, die ebenso gefährdet ist wie der Dschungel selbst.
Passage-Kinos 26.01. 18:30 (Premiere in Anwesenheit von Regisseurin Franziska von Stenglin)
Das Tagebuch der Anne Frank
D 2016, R: Hans Steinbichler, D: Lea van Acken, Martina Gedeck, Ulrich Noethen, 128 min
Hans Steinbichler wählt einen interessanten Ansatz für seine Adaption des Schicksals einer jungen Jüdin in Amsterdam 1942. Lea van Acken überzeugt in der Hauptrolle. Die Inszenierung ist jedoch zu formelhaft geraten.
Kinobar Prager Frühling, 27.01., 16 Uhr (Holocaust‐Gedenktag)
Nicht verrecken
D 2021, Dok, R: Martin Gressmann, 110 min
Der Dokumentarfilm folgt den Hauptrouten der Todesmärsche durch Brandenburg und Mecklenburg‐Vorpommern, an denen heute 200 Gedenktafeln stehen, und lässt die letzten Zeugen zu Wort kommen.
Kinobar Prager Frühling, 27.01., 14 Uhr (Holocaust‐Gedenktag)
Mizh Nebom Ta Horamy – Mountains and Heaven in between
Dokumentarfilm über medizinisches Personal in der abgelegenen ukrainischen Region Transkarpatien während der Coronavirus-Pandemie 2020.
Schaubühne Lindenfels 27.01., 19 Uhr (Filmreihe Kultura: UA, OmeU)
Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht
D 2022, Dok, R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof, 98 min
In dem Dokumentarfilm sprechen Überlebende des KZ Stutthof, Zeitzeugen und Experten unbequeme Wahrheiten aus.
Cinémathèque in der Nato, 26.01., 19:30 Uhr (Vorpremiere)
Marek Edelman … und es gab Liebe im Ghetto
PL/D 2019, Dok, R: Jolanta Dylewska
Auch in der Hölle des Ghettos konnten die Menschen nicht ohne Liebe leben – auch wenn es meist eine Liebesgeschichte ohne Happy End war. Eine dokumentarische Begegnung mit Marek Edelman.
Polnisches Institut, 26.01., 20 Uhr
Meine Wiedergeburt als Schleim in einer anderen Welt: Feuerrote Bande
J 2023, R: Yasuhito Kikuchi
Anime-Fortsetzung der auf einer Buch- und Mangareihe basierenden Serie.
Cinestar, 31.01. 17:00 (Anime-Night, OmU), 20:00 (Anime-Night, DF)
Cineplex, 31.01. 18:00 (Anime-Night, OmU), 20:00 (Anime-Night, DF)
Step by Step
D 2022, Dok, R: Felix Starck, 97 min
Ein Elternpaar wandert mit ihrem neugeborenen Sohn nach Mallorca aus, um dort naturverbunden zu leben.
Cinestar, 29.01. 20:00 (mit anschließendem Q&A mit Filmemacher Felix Starck und seiner Familie, OmU)
Beyond The Infinite Two Minutes
J, R: Junta Yamaguchi, D: Kazunari Tosa, Riko Fujitani, Gôta Ishida, 70 min
Irrwitzige Low-Budget-Zeitreise-Komödie aus Japan.
Ost-Passage-Theater, 01.02. 20:00 (OmU)
Blutsauger
D 2022, R: Julian Radlmaier, D: Aleksandre Koberidze, Lilith Stangenberg, Alexander Herbst, 128 min
Kreativer marxistischer Vampirfilm von Julian Radlmaier (»Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«).
Conne Island, 01.02. 18:30 (mit Regisseurgespräch)
Drive
USA 2011, R: Nicolas Winding Refn, D: Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston, 96 min
Am Tage Stuntman und in der Nacht Fahrer für zwielichtige Typen – der Mann, den alle nur »Driver« nennen, ist ein undurchdringlicher Einzelgänger. Nur seine Nachbarin und ihr Sohn dringen zu ihm durch. Als er allerdings einen riskanten Job für den Ehemann übernimmt, laufen die Dinge aus dem Ruder und »Driver« muss sich aus seiner Deckung begeben. Stylischer Mix aus Thriller und Romanze von Ausnahmefilmer Nicolas Winding Refn.
Schaubühne Lindenfels, 03.02. 20:30 (OmU)
Vergiftete Wahrheit
USA 2019, R: Todd Haynes, D: Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins, 126 min
Der Kampf von Rechtsanwalt Robert Bilott gegen das Chemieunternehmen DuPont. Regiemeister Todd Haynes schildert den unbeirrbaren Weg eines Mannes, der überzeugt ist, das Richtige zu tun.
Schaubühne Lindenfels, 02.02. 18:00 (mit anschl. Diskussionsrunde, OmU)
Wann kommst Du meine Wunden küssen?
D 2022, R: Hanna Doose, D: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, 115 min
Die einst unzertrennlichen Freunde Laura, Jan und Maria kommen nach Jahren wieder zusammen, da Kathi, die Schwester von Maria, im Sterben liegt.
Passage-Kinos, 01.02. 19:30 (Premiere in Anwesenheit von Regisseurin Hanna Doose)
Titelfoto: Filmstill aus »Close«. Copyright: Pandora Filmverleih.