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»Es gibt hier eigentlich nichts Uninteressantes«

Ein Interview mit dem frisch pensionierten Kunstgeschichtsprofessor Frank Zöllner über die Veränderungen an der Universität, Leipziger Bausünden und tote Landschaften

  »Es gibt hier eigentlich nichts Uninteressantes« | Ein Interview mit dem frisch pensionierten Kunstgeschichtsprofessor Frank Zöllner über die Veränderungen an der Universität, Leipziger Bausünden und tote Landschaften

Ein kalter, grauer Frühlingstag – unser Termin fand sich ganz kurzfristig. Nach dem letzten Arbeitstag, wenige Tage zuvor geht der frisch pensionierte Kunstgeschichtsprofessor Frank Zöllner auf Reisen. Nach unserem Gespräch soll es nach Warnemünde gehen. Gitarrenkoffer, Bildbände und Kunstwerke dominieren die lichtdurchflutete Wohnung.

Als Sie 1996 nach Leipzig gekommen sind, war das Gebäude, in dem Sie jetzt wohnen – die ehemalige Aromafabrik von Karl Heine, noch eine Ruine.

Als ich hier hergekommen bin, wusste ich gar nicht, dass es das gibt. Ich bin dann jahrelang am Wochenende hier spazieren gegangen und habe es immer beobachtet. Da hing zum Schutz vor Trümmern so ein grünes Netz vor der Fassade und ich hatte immer den Plan: Wenn da mal was gebaut wird, würde ich mich dafür interessieren. 2010 oder 2011 begann dann die Sanierung. Es ist relativ innenstadtnah. Von der Lage her lässt sich das eigentlich nicht toppen. Es ist keine richtige Wohnung, eher ein Gewächshaus mit einer Terrasse.

 

Warum sind Sie Kunsthistoriker geworden, Herr Zöllner?

Durch einen Zufall. Mein Germanistikstudium hat mich gelangweilt, weil ich immer weniger las – und dann habe ich geguckt, was es sonst gibt. Mich hat die Kunst zunächst gar nicht so interessiert, sondern eher die Architekturgeschichte, neues Bauen in historischen Städten. Ich habe als Student auch Praktika bei der Denkmalpflege gemacht, das war sehr interessant. Meine Doktorarbeit habe ich dann zur Architekturtheorie geschrieben. Das war der Einstieg. Mit den Stipendien und Jobs ging es dann langsam in Richtung bildende Kunst und Italien.

 

Da hinten steht Karl Marx

Das ist eine Sparbüchse. Daneben steht übrigens Perikles. In Bronze.

 

… wir wollten aber zur DDR-Kunst überleiten. Haben Sie Werner Tübke hier für sich entdeckt?

Die Einstiegsdroge war im Grunde die Tübke-Stiftung. Ich habe auf irgendeiner Ausstellung – ich glaube von Bernhard Heisig – Frau Tübke-Schellenberger durch Vermittlung von Eduard Beaucamp kennengelernt. Die von ihr betriebene Stiftung war damals gerade gegründet und man konnte dort viel machen, auch mit Studierenden. So entstand beispielsweise der erste vollständige Bestandskatalog einer Leipziger Sammlung überhaupt. Eine alte Regel besagt ja: Man soll da graben, wo man steht. Es gibt unendlich viel zu tun und zu forschen in Leipzig. Das ist der Kunstszene geschuldet, da Leipzig das Kunstzentrum der DDR war. Und es ist der historischen Bedeutung der Stadt geschuldet. Der Weltgeist war immerhin zweimal hier: 1813 und 1989. Und Leipzig war vor dem Krieg eine der vier, fünf größten Städte in Deutschland und ein wichtiger geisteswissenschaftlicher Standort. Ich merkte hier schnell, dass es zu zahlreichen Themen nicht viel oder nichts gibt, etwa zu mittelalterlichen Kunstwerken aus der Paulinerkirche oder zu Architekten wie Georg Wünschmann. Die Themen liegen praktisch auf der Straße und es gibt eigentlich fast nichts Uninteressantes. Es reicht von den Künstlern der älteren Generation bis zur Gegenwart.

 

Sind Sie mit offenen Armen am Institut und an der Uni begrüßt worden?

Ja, wir hatten ein gemischtes Kollegium aus Ost und West. Das war eine sehr offene Situation.

 

Sie sind seit wenigen Tagen Pensionär, Prof. i. R., entpflichtet. Sie müssen nicht mehr an das Institut. Was war Ihr erster Gedanke danach?

Ich habe jetzt noch keine Zeit gehabt, darauf irgendwelche Gedanken zu verwenden. Ich bin erst mal weggefahren und fahre gleich wieder weg.

 

Das heißt, Sie können uns noch gar nicht verraten, was Sie vermissen werden?

Ich werde auf jeden Fall die Kolleginnen und besonders mein Team vermissen, mit dem ich zuletzt gearbeitet habe, meine Sekretärin und die Hilfskräfte, die Assistenten. Wir haben sehr viel zusammen gemacht – ob das nun das Buch »Atelier Leipzig« oder auch die Tagungen gewesen sind.

 

Und was werden Sie nicht vermissen?

Studienorganisation, Studienreform, Administration, Evaluierungen, Akkreditierung, also den gesamten bürokratischen Überbau, der praktisch wie ein schnell wachsender Krebs immer größer geworden ist. Dadurch sind die Spielräume viel enger geworden als früher. Es ist jetzt alles viel strukturierter. Jemand wie ich wäre jetzt wahrscheinlich völlig fehl am Platz. Wenn ich überlege, dass die Verwaltung früher nicht aus Verwaltungsangestellten bestand, sondern gelegentlich aus Naturwissenschaftlern, die in ihrem Bereich nicht weitermachen durften und in die Verwaltung verschoben wurden. Die Kommunikation war früher besser, weil direkter, eben auch, weil die Dezernenten beispielsweise keinem Verwaltungsschema gefolgt sind, sondern situativen Anforderungen. Konflikte, auch sehr, sehr harte Konflikte, wurden beim obligatorischen Kaffee besprochen.

 

Wenn Sie sagen, Sie wären jetzt gar nicht mehr für so eine Stelle geschaffen: Gibt es heute für Professoren keine Spielräume?

Natürlich hat man Spielräume. Aber sie sind durch die Studienreform zum Bachelor und Master sowie durch Forschungslenkung schon eingeengt. Da ist ein Stück Spaßfaktor verloren gegangen. Für viele Leute ist das sicherlich das Richtige, für mich eher grenzwertig. Ich fand es immer gut, spontan etwas zu machen. Als ich angefangen habe, gab es eine Paul-Klee-Ausstellung im Museum der bildenden Künste. Dann hat man aus dem Nichts schnell ein Paul-Klee-Seminar organisiert und hat seine Antrittsvorlesung über Paul Klee gehalten. Das fand in kürzester Frist statt, von einer Woche auf die andere. Das kann man heute nicht mehr so machen, weil alles mehr geplant werden muss. Ich will auch gar nicht sagen, dass das jetzt schlecht ist. Aber mir hat das Anarchische besser gefallen. Und die Zusammenarbeit mit dem Museum ist kürzlich sogar enger geworden. So machen wir 2024 gemeinsam eine Tübke-Ausstellung.

 

Haben Sie Veränderungen unter den Studierenden festgestellt?

Die Studierenden haben sich stark verändert. Es gibt weniger Dialektsprecher, fast überhaupt nicht mehr. Es gibt mehr ausländische Studierende. Man merkt eigentlich weder an der Kleidung noch an der Sprache, woher sie kommen. Und die Generation, die jetzt anfängt zu studieren, ist seit dem Spracherwerbsalter mit sozialen Medien und dem Handy aufgewachsen. Meines Erachtens kommunizieren sie dadurch anders. Zum Beispiel wird Konfliktbewältigung oft nicht mehr im direkten Gespräch gesucht, sondern einfach, indem man irgendwas im Internet raushaut. Furchtbar. Und immer mehr Studierende haben einen Nebenjob. Das Studieren wird dabei zu etwas, das eher nebenher dazugehört, quasi als eines unter vielen Dingen im Leben. Was sich ebenfalls geändert hat, ist, dass viele zwischendurch ins Ausland gehen. Die Englischkenntnisse sind viel besser geworden. Zudem sind die Studies ein bisschen jünger geworden. Und das thematische Spektrum dessen, was Studierende interessiert, hat sich ganz klar in Richtung Gegenwart verschoben. Alles, was älter als Pop-Art und die sechziger Jahre ist, ruft schon deutlich weniger Interesse hervor. Das liegt aber auch daran, dass Leipzig junge Leute anzieht, die sich fürs Gegenwärtige interessieren. Ich würde vermuten, dass Dresden wegen der alt-ehrwürdigen Kunstsammlungen eher Leute anzieht, die sich für die ältere Kunstgeschichte interessieren.

 

Es gab einige Ereignisse seit 1996, die die Stadt verändert haben. Was denken Sie, was war da bedeutend im Zusammenhang mit Kunst? Oder ist das alles nur Marketing?

Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass es Marketing ist. Das mag im Nachhinein so aussehen. Bedeutend waren etliche Großereignisse seit den neunziger Jahren. Das fing mit der Eröffnung der Neuen Messe an, die damals der bedeutendste Standort für zeitgenössische Kunst war, mit den ganzen Kunstwerken, die dort bis heute noch installiert sind. Da wurde sofort klar, dass da viel passiert. Dann kamen Schlag auf Schlag die nächsten Ereignisse, die Galerie für Zeitgenössische Kunst wurde eröffnet und dann deren Neubau. Man hatte damals auch mit dem Gründungsdirektor Klaus Werner schon mal näheren Kontakt, oder auch mit Arndt Oetker als Stifter. Das kann man sich heute eigentlich nicht mehr vorstellen, dass das alles so eng zusammenhing. Wir haben beispielsweise für die GfZK in der Hoffnung auf eine intensive Zusammenarbeit damals eine Professur für Mittelalter in eine Professur für Moderne umgewandelt. So flexibel war das damals. Die Zusammenarbeit ist leider nie so intensiv geworden, wie wir das gedacht hätten. Denn die GfZK hat sich seit dem Ausscheiden von Klaus Werner auf eine Art und Weise entwickelt, dass selbst unsere Studierenden nicht mehr verstanden haben, worum es dort geht.

Ein weiteres Großereignis: die Eröffnung des Museums der bildenden Künste, die fast zeitgleich mit Eröffnung der Baumwollspinnerei als Galeriestandort erfolgte. Da war ich immer gleich mittendrin. Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass ich so viel in der Stadt gemacht habe, weil diese Ereignisse so spannend waren, auch solche von überregionaler Bedeutung. Der Museumsbau ist einfach ein ganz besonderer Bau, mitten in der Stadt mit urbanistischen Bezügen zur Umgebung. Diese Großereignisse haben mich schnell an die großen kulturpolitischen Entwicklungen der Stadt herangeführt. Das hätte einem in einer anderen Stadt, schon gar nicht im Westen, überhaupt nicht passieren können.

 

Wie hat sich das entwickelt in Ihren Augen?

Das ist schwer zu sagen, denn in der Entwicklung stecken wir jetzt noch drin. Wie sich das entwickelt hat? Ich denke, immer noch einigermaßen dynamisch, aber anders als früher. Man sieht es daran, wie häufig zum Beispiel das Museum der bildenden Künste einen neuen Direktor hat. Früher war das einer, der ist ein Leben lang geblieben. Und das sieht man daran, wie schnell die Themen wechseln und wie schnell die Anforderungen steigen. Ich bin froh, dass ich nie Museumsdirektor geworden bin. Ich finde die aktuellen Anforderungen, die von der Politik für die Museen postuliert werden, enorm. Ich weiß nicht, ob sie klar formuliert werden, aber man spürt sie ja geradezu. Was das Museum alles an Themen machen muss: Ethnie, Geschlecht, Diversität, Angebote für Kinder und Geflüchtete – und dann muss man ja noch nebenher die inhaltliche Arbeit machen. Ich finde es schon beachtlich, dass die Museumsleute das überhaupt hinkriegen, ohne umzufallen. Da ist die Universität mit ihren kleinen Zwängen noch ein Paradies, allerdings nicht ganz so paradiesisch wie die Kunsthochschulen.

 

Das sieht man dort wahrscheinlich anders. Zumindest hat die HGB jetzt 42 Prozent Frauenanteil.

Das ist doch schon mal was. Auch wir haben es immer ganz gut geschafft, dass wir ungefähr fifty-fifty hatten. Was wir an Rufen auf Professuren erteilt haben, waren deutlich mehr Frauen als Männer.

 

Es studieren ja auch mehr Frauen Kunstgeschichte.

Ja. Mit ergangenen Rufen aus Professuren würden wir, glaube ich, auch international einen Spitzenplatz belegen. Den Ruf haben aber nicht alle Frauen angenommen und einige haben ihn angenommen und sind dann bald wieder weggegangen. Im geisteswissenschaftlichen Bereich gibt es inzwischen eine positive Diskriminierung für Frauen. Ich würde sagen, dass die Frau heute bei gleicher Qualifikation tatsächlich bessere Chancen besitzt als ein Mann, zumindest in den Geisteswissenschaften.

 

Was hat sich in den letzten Jahren Ihrer Meinung nach städtebaulich besonders gut oder schlecht entwickelt?

Im Nachhinein betrachtet gibt es natürlich für viele Bausünden eine gute Begründung. Was ich schlimm finde, sind so zwei, drei Abrisse in der Stadt. Aber insgesamt ist nicht so wahnsinnig viel abgerissen worden. Denn die Denkmalpflege hat hier einen harten und erfolgreichen Kampf geführt. Immer noch schlimm finde ich den Abriss der Kleinen Funkenburg in der Jahnallee und des Märchenhauses in der Friedrich-Ebert-Straße. Voreilig fand ich den Abriss der Brühl-Bebauung. Das war ein städtebaulich hochinteressantes Ensemble, für das es ein sehr gutes Nutzungskonzept gab. Dieses wäre ohne Abriss ausgekommen und hätte mehr Bewohner in die Stadt gezogen, und es hätte die Verkaufsflächen nicht noch mehr aufgebläht, als sie es ohnehin schon durch den Umbau des Hauptbahnhofs waren. Immerhin, die Bauaufsicht hat bei den Höfen Am Brühl dafür gesorgt, dass der städtebauliche Schmerz erträglich ist. Aber viele Passagen – wie die Messehof-Passage – besitzen jetzt einen erschreckend hohen Leerstand, weil zu viel Verkaufsfläche gebaut wurde. Das hätte man wirklich anders machen können. Ich finde, da ist städtebaulich einfach gesündigt worden. Zumal es Stimmen der Vernunft gab: »Ihr müsst nicht immer überall eine profitorientierte Flächenoptimierung betreiben.« Das hat man leider immer als Prinzip gemacht. Das war nicht richtig. Daraus sollte man für die Zukunft Konsequenzen ziehen. Denn Zukunftsplanung heißt für den Städtebau heute, dass man urbanistische Planung vor dem Hintergrund der Digitalisierung und des Onlinehandels völlig neu denken muss. Da die Politik nicht in der Lage ist, den städtemordenden Onlinehandel zu besteuern, was ja das Nächstliegende überhaupt wäre, muss man städtebaulich neue Konzepte entwerfen.

 

Früher gab es viele Bürgerversammlungen, es wurde viel gestritten. Hat sich das heute verändert?

Das hatte damals auch einen guten Grund. Letztlich ging es darum: Wie verhandeln wir das städtebauliche und künstlerische Erbe der DDR? Das war damals auch ein bisschen eine Stellvertreter-Debatte, getragen von wenigen Protagonisten. Da wurden teilweise auch persönliche Rachefeldzüge gegen das Erbe der DDR geführt. Das würde heute so nicht mehr passieren. Wirklich krass, diese unglaublichen Diffamierungen, denen auch Universitätsmitglieder ausgesetzt gewesen sind – auch die würde es natürlich heute nicht mehr geben. Aus heutiger Sicht ist das ganz unterhaltsam gewesen, wenn zusammen mit dem Studentenrat der Rektor der Uni und ich auf einer Seite standen gegen den Paulinerverein und Erich Loest auf der anderen Seite. Eine solche Frontstellung kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen: Ein Geisteswissenschaftler, ein Jurist als Rektor und ein Haufen von Studenten ziehen völlig selbstverständlich an einem Strang!

 

Besitzen Sie Lieblingsplätze in der Stadt?

Meine Wohnung und die Seenlandschaft. Die Seen sind das Beste an Leipzig. Diese Kargheit, diese vegetationslosen Ufer, keine Bäume, kein Schatten. Wunderbar.

 

Das wirkt doch alles tot ...

Meinetwegen, aber man hat viel Auslauf und eine gute Qualität der Fahrradwege.

 

Und was halten Sie für völlig überschätzt in der Stadt?

Ich finde diese Inszenierung von Fußball mit lauter Musik und permanenter fußballfremder Animation lästig, so dass man sich in der Pause nicht mehr über Fußball unterhalten kann. Ich bin fußballerisch am Millerntor in Sankt Pauli sozialisiert, da gab es keine dröhnende Animation. Klar, ein Fußballstadion muss laut sein durch die Fans, die schreien und singen, oder meinetwegen können sie auch eine Blaskapelle durchmarschieren lassen. Aber dieses übersteuerte Lautsprechergetöse, so dass Kinder von ihren Eltern zum Schutz Kopfhörer aufgesetzt bekommen, damit die keinen Schaden davontragen? Ich weiß nicht, wer sich so was ausgedacht hat.


Biografie

Frank Zöllner, geboren 1956 in Bremen, wuchs in einem kleinen Dorf bei Bremen auf, studierte von 1977 bis 1981 Kunstgeschichte, war 1983 bis 1985 Aby-Warburg-Stipendiat in London bei Ernst Gombrich. Promotion zu Vitruvs Proportionsfigur an der Uni Hamburg, Habilitation 1995 in Marburg zu »Ausdruck und Bewegung bei Leonardo da Vinci«. Von 1996 bis 2023 lehrte er als Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Uni Leipzig. Unter anderem erschienen von ihm »Leonardo da Vinci – Sämtliche Gemälde und Zeichnungen« (Taschen 1999, 696 S., 99 €) und »Michelangelo – Das vollständige Werk« (Taschen 2007, 480 S., 60 €).


Foto: Christiane Gundlach.


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