Er gilt als der Chronist des Ostens: In seiner mehr als fünfzig Jahre umspannenden Arbeit als Dokumentarfilmer bereiste Volker Koepp unzählige Orte, beleuchtete die Geschichten der Regionen und ihrer Bewohner. Die Kinobar zeigt eine Werkschau seines Schaffens und begrüßt den Regisseur persönlich am 25. Juli zur Premiere seines neuen Films »Gehen und Bleiben«.
»Volker Koepp – Retrospektive«: 13.–25.7., Kinobar Prager Frühling
Film der Woche: Das Land ist verwüstet. Vorbei an Leichen und Gräbern wandert Raphaël durch die Normandie den weiten Weg nach Hause. Seine Frau Marie wartet dort nicht mehr. Sie ist gestorben, wie so viele in Frankreich in den vergangenen Jahren des Ersten Weltkriegs. Doch Raphaël hat eine Tochter, die liebevoll von Adeline umsorgt wird. Die kleine Juliette wächst heran, während der talentierte Handwerker Raphaël nur mühsam Arbeit findet. Aus dem kleinen Mädchen wird eine hübsche Frau, die sich in den Piloten Jean verliebt. Doch die Abenteuerlust treibt ihn hinaus in die Welt und Juliette ist allein mit den Vorurteilen und Ressentiments der Dorfbewohner. Wie schon bei seiner starken Jack-London-Adaption »Martin Eden« mischt der Italiener Pietro Marcello seine Erzählung auch hier mit dokumentarischen Aufnahmen der Zeit. Nachkoloriert und eingefasst in die Leinwand sind die Übergänge zum gedrehten Filmmaterial fließend. Durch die Körnung, die zeitgemäße Bildgestaltung und nicht zuletzt durch die kantigen, zerfurchten Gesichter der Darsteller und Darstellerinnen entsteht ein einzigartiges Gefühl für die Zeit. Die Geschichte, angelehnt an den Roman »Das Purpursegel« des russischen Autors Alexander Grin, mag einfach erzählt sein, die Schauspieler füllen sie mit Wärme in einer kalten Zeit. Ein Gesamtkunstwerk untermalt von der mitreißenden Musik des Oscar-Preisträgers Gabriel Yared (»Der englische Patient«), gefasst in die kunstvollen Bilder von Marco Graziaplena. LARS TUNÇAY
»Die Purpursegel«: ab 13.7., Passage-Kinos
Verbissen sind die Gesichtszüge von Julia. Im Alltag muss sie sich stets behaupten. Sei es in der Wohngemeinschaft in einer Sozialbausiedlung am Rande der Großstadt oder wenn sie den Respekt der anderen Motorradfreaks sucht, die abseits der Autobahn ihre Tricks aufführen. Julia reagiert aggressiv auf die feindliche Welt um sie herum und macht ihre eigenen Regeln. Nur wenn sie auf dem Sattel des Motorrads sitzt und der Wind durch ihre Locken fährt, leuchtet sie auf. Um an Geld zu kommen, stiehlt sie Dirt Bikes von ahnungslosen Verkäufern und erarbeitet sich so den Respekt einer Motorradgang, deren Anführer Domino im Knast sitzt. Als Julia jedoch immer mehr ihre Deckung fallen lässt und beginnt, sich für dessen Frau Ophélie und deren kleinen Sohn einzusetzen, wird sie verletzt. Mit unbändiger Energie startet Lola Quivoron ihren Film. Die Handkamera ist dicht bei Julia und begleitet sie durch ihre Welt, die immer auf der Kippe steht. Diese Energie kommt vor allem von Hauptdarstellerin Julie Ledru, die wie die meisten Darstellerinnen in Quivorons kraftvollem Regiedebüt zum ersten Mal vor der Kamera stand. Lange studierte die Regisseurin die Biker-Szene, bis sie auf Julia traf, die einzige Frau in dieser von Männern dominierten Welt. Ihre Geschichte floss maßgeblich in das Drehbuch, sodass sie auch einen Teil ihrer selbst auf der Leinwand verkörpert. Das verleiht dem faszinierenden Drama, das seine Premiere in der Sektion Un Certain Regard in Cannes feierte, zusätzliche Authentizität.
»Rodeo«: ab 13.7., Kinobar Prager Frühling
»Du hast eine Menge Platten, aber hörst sie dir nie an. Du hast über eine Millionen Instagram-Follower, aber bekommst nie Besuch. Du kommst nach Hause und schaust dir Eiskunstlauf an«, so wird Adam Kowinski von seiner Nachbarin Claire charakterisiert. Adam ist das Gesicht des Londoner Sextoy Herstellers »Art of Love«, reich an öffentlicher Aufmerksamkeit und arm an zwischenmenschlichen Beziehungen. Er hält Firmengründer Hector für seinen einzigen Freund, der sieht in Adam aber lediglich das Zugpferd seiner Firma und ist allzeit bereit, ihn für den größtmöglichen Profit zu verkaufen. Den verspricht Hector sich von seinem aktuellen Projekt: einer Puppe, die mithilfe neuester Hardware und künstlicher Intelligenz echte menschliche Kameradschaft simulieren kann. Frei von Unannehmlichkeiten, wie eigenen Bedürfnissen und Meinungen, versteht sich. Die U-Bahn Angestellte Eva Parker, selbst gerade in einer Ehekrise gefangen und Verfasserin hochpoetischer Sextoy Reviews, soll der Puppe Empathie lehren, während Adam das physische Können des Androiden trainiert. So treffen die beiden aufeinander und, vorhersehbarerweise, entwickelt sich trotz ihrer Differenzen eine aufrichtige Freundschaft. Gilbreath und Walker portraitieren menschliche Verletzlichkeit und darüber triumphierenden Mut so überzeugend, dass unbefriedigend ausgeführte Handlungsstränge kaum ins Gewicht fallen. Trotz der etwas klobigen Symbolik ist »The Art of Love« eine herzerwärmende Erzählung über Einsamkeit und Gegenmittel. LAURA GERLACH
»The Art of Love«: ab 13.7., Passage-Kinos, Schauburg
Als sie sich kennenlernten, war Jean verheiratet und Sara in einer Beziehung mit François. Heute, einige Jahre später, sind sie ein Paar, doch als François wieder auftaucht, wirft es beider Leben durcheinander. Die französische Autorenfilmerin Claire Denis (»Beau travail«) inszeniert hier ein schmerzhaft dichtes Beziehungsdrama. Die Dreiecksgeschichte verfällt nicht den üblichen Klischees, die Dialoge sind ehrlich, die Anziehung spürbar, die Hilflosigkeit, mit der Sara in alte Muster zurückfällt, ist aufrichtig. Zu verdanken hat Denis’ Film dies zu großen Teilen der schauspielerischen Leistung seiner beiden Hauptdarsteller: Juliette Binoche und Vincent Lindon machen sich die Intimität der Kamera zunutze und überzeugen durch ein exzellentes Zusammenspiel – auch ein Verdienst der meisterhaften Schauspielführung. Bei der Berlinale im vergangenen Jahr gab es dafür den Silbernen Bären für die beste Regie.
»Mit Liebe und Entschlossenheit«: ab 14.7., Passage-Kinos
Weitere Termine
Uferfrauen – Lesbisches L(i)eben in der DDR
D 2019, Dok, R: Barbara Wallbraun, 115 min
Die Doku porträtiert sechs lesbische Frauen, die vom Leben als Homosexuelle in der DDR berichten.
Frauenkultur, 13.07., 19 Uhr (CSD, mit Regiegespräch)
One Road to Quartzsite
USA 2022, Dok, R: Ryan Maxey, 89 min
Jedes Jahr im Winter fliegen Tausende Schneevögel nach Arizona und landen auf dem heruntergekommenen Campingplatz Quartzsite, wo Obdachlose, Drogensüchtige und religiöse Fanatiker versammelt sind.
Open-Air-Kino in der Spinnerei, 20.07., 21:30 Uhr (Dok-Sommerkino)
Jongens
NL 2014, R: Mischa Kamp, D: Gijs Blom, Ko Zandvliet, Jonas Smulders, 78 min
Sieger ist ein eher in sich gekehrter Teenager, der sich im Sommer während seines Trainings für die Leichtathletik-Meisterschaften in Marc verliebt.
Ost-Passage-Theater, 19.07., 20 Uhr (OmU)
Les Invisibles
F 2012, Dok, R: Sébastien Lifshitz, 115 min
Der Dokumentarfilm begleitet eine Gruppe von Homosexuellen, welche alle zwischen den beiden Weltkriegen geboren wurden.
Institut Français, 16.07., 19 Uhr (OmU)
Titelbild: Filmstill aus »Die Purpursegel«, Copyright CG Cinema