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Kultur

Warum in die Ferne schweifen 

Carl-Christian Elze betritt mit seinem 2023er Lyrik-Band »Panik/Paradies« endlich eine Leipziger Bühne 

  Warum in die Ferne schweifen  | Carl-Christian Elze betritt mit seinem 2023er Lyrik-Band »Panik/Paradies« endlich eine Leipziger Bühne   Foto: Christiane Grundlach

»Wenn du stirbst, werden viele einen Orgasmus haben«, heißt es bei Funny van Dannen, und weiter: »Das hört sich schlimm an, ist es aber nicht ganz / Denn zum Glück gibt es die räumliche Distanz.« – Dass diese räumliche Distanz im Leben aber hin und wieder beunruhigend klein werden kann, darum drehen sich gleich mehrere Gedichte in Carl-Christian Elzes Band »Panik/Paradies«, der zwar schon letztes Jahr erschienen ist, nun aber erst seine Leipzig-Premiere feiert. 

Einen ersten Blick in das Buch erhielt ich im Mai 2020, als es noch lange kein Buch war. Die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern: Es war Pandemie. Wir horchten uns damals für eine kreuzer-Titelgeschichte in der Leipziger Kulturlandschaft um. Der Autor und Freund unseres Hauses Carl-Christian Elze, dessen Zoogeschichten aus dem kreuzer Sie vielleicht kennen (die im März 2018 als weltweit erstes kreuzerbook erschienen), antwortete mir damals: »Corona hat mir den Ruhehahn zugedreht. Kaum Träumereien, kaum Rückzugsmöglichkeiten mehr in den eigenen vier Wänden, überall kleine Menschen (1,5 und 8 Jahre) in allen Ecken, die beschult, beschäftigt, gefüttert, getröstet werden wollen – schön und schwierig zugleich. Dennoch Gedichte, minutenweise/halbstundenweise, von null auf hundert in 30 Sekunden, die Dringlichkeit rennt über die Tasten, keine Blockaden, die beste Zeit für Gedichte, ein neuer Band wächst heran, schneller als Gras, Arbeitstitel: ›panik paradies‹.« Eine Woche später hatte ich ein PDF mit einer Gedichtauswahl im Mailpostfach. Veröffentlicht haben wir eins der Gedichte dann aber erst später, im April 2022 als Gedicht des Monats, dessen Buchveröffentlichung im Verlagshaus Berlin dort noch für den Herbst 2022 angekündigt wurde. Tatsächlich erschienen ist das Buch dann im Frühjahr 2023. Aber schauen wir doch mal rein, blättern wir doch mal zu einem der Gedichte, das die schwindende räumliche Distanz thematisiert. 

Seite 150, »6:06 Bullen«. In der Ludwigstraße in Leipzig wird ein besetztes Haus geräumt, Polizei, Demonstrantinnen und Demonstranten, Kurznachrichten einer Whatsapp- oder Telegram- oder sonstigen Gruppe, die zum Erscheinen, zum Präsenzzeigen aufrufen, gleich vor der Tür, hinter der wir im Gedicht sitzen und hinter der der Hund stirbt. Die Distanzen verschwinden, die Welten verschwimmen. Und ist der Hund nicht schon vorhin, weiter vorn im Buch, in einem eigenen Kapitel gestorben? Blättern. Ja, da, ist er, »Caput III«. Blättern. 

Seite 153, »9. februar, neustädter 9: mittagszeit, loderndes treppenhaus«. Zehn Zeilen, 28 Menschen, eine Drehleiter. Und wir wieder mit dem Gedicht des Nachbarn ganz nah dran. (Eine der 28 aus dem Gedicht, nein, aus der echten Neustädter Straße rief damals hier im Büro an, ob wir ihr Abo unterbrechen könnten, ihr Haus sei ausgebrannt, sie habe gerade keine Adresse.)  

Blättern, wo ist denn das Gedicht über die ermordete Frau? Blättern. Seite 141, »altes gleisgelände«. Auch das gleich nebenan, auch das im Kapitel Caput VII zu der, über die, neben der Eisenbahnstraße hier in Leipzig, wo Elze beschult, beschäftigt, füttert, tröstet und eben schreibt. Meist Gedichte, aber nicht nur – sein eigenwilliger Roman »Freudenberg« war 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert. In »Panik/Paradies« breitet er nun »das Besteck des Dichters in fast verzweifelter Vielfalt aus«, wie sein Verlag schreibt. Und ja, die formale wie inhaltliche Vielfalt der knapp 200 Seiten ist enorm: Vom sterbenden Hund über den eigenen Kiez zum hilflosen Vater, von der Wendezeit über Corona in den Krieg, dazwischen Illustrationen von Nele Brönner und am Ende – leider, muss man sagen – sogar der böse Donald aus Amerika, dessen Ego ein Gedicht weniger über ihn sicher verkraftet hätte. Es ist ein Ritt durch wildes Land, dieses Buch, und wo es einem gefällt, da reitet man langsamer oder macht mal eine Pause, um die Aussicht zu genießen oder zu verstehen, was da vor sich geht.  

Carl-Christian Elze war im letzten Jahr Stadtschreiber in Dresden. Ob er sich vorstellen könne, dort zu leben, fragte ihn abschließend eine Journalistin vom MDR und wenn ich mich richtig erinnere (ich war beim Radiohören mit Autofahren beschäftigt), hat er gesagt, ja, vorstellen könne er sich das. Das geht aber natürlich nicht – wäre ja eine viel zu große räumliche Distanz zu uns hier in Leipzig. 

> Carl-Christian Elze: Panik/Paradies. Gedichte. Mit Illustrationen von Nele Brönner. Verlagshaus Berlin 2023. 196 S., 22,90 €  

> »Panik/Paradies« und »Weiße Wolken« Podiumsgespräch mit Carl-Christian Elze und Yandé Seck: 27.2., 19 Uhr, Literaturcafé im Haus des Buches 


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