anzeige
anzeige
Editorial

Editorial 03/24

Das neue Heft ist da!

  Editorial 03/24 | Das neue Heft ist da!  Foto: Alexander Bönninger

»The Sky has changed

Can you smell the Sun?«

– Generation Trance anlässlich des 60. Geburtstags von H. P. Baxxter am 16.3. in der Moritzbastei (30 Jahre »Hyper Hyper« dann im Mai)

»Meinst du wirklich, eine Demo mehr bringt was?« »Glaube ich nicht, aber muss gemacht werden.« »Hilft ja nüscht.« – Auf dem Neujahrsempfang von Leipzig nimmt Platz zeigen sich bei politischen Smalltalks wenige überzeugt von der kurzfristig angesetzten Demonstration gegen rechts. Weil einige Tage zuvor die mittlerweile allbekannten Correctiv-Recherchen über rechte Abschiebe- und Vertreibungspläne veröffentlicht wurden, soll nun gegen AfD, Werteunion und andere extreme Rechte demonstriert werden, wie bundesweit auch in Leipzig.

An jenem 16. Januar gehen 10.000 Menschen auf die Straße beziehungsweise den Ring. Auch wenn schon vorher – etwa in Dresden – Tausende mit gleichen Absichten demonstriert haben, wirken die Fotos aus Leipzig mit dem Meer aus Handy-Lichtern vorm Bundesverwaltungsgericht medial wie ein Zündfunke – Politik lebt eben auch von Emotionen und Bildern. Der Faschist und AfD-Funktionär Bernd Höcke versucht, die Bilder sofort mit einem Nazi-Vergleich zu diskreditieren, so sehr gehen sie ihm an die Substanz. Zur Folgedemo am 21. Januar kommen sogar 60.000 bis 80.000 Leipzigerinnen und Leipziger.

Man kann sich an solchen Zahlen aus Großstädten berauschen – sie sind beeindruckend. Doch gehört noch mehr Respekt den Demonstrierenden in Kleinstädten und auf dem Land. 1.500 Menschen tragen in Bautzen antifaschistischen Protest auf die Straße. In Weißwasser sind es 150 Protestierende, die sich nicht einreihen wollen in die imaginierte Volksgemeinschaft von AfD und anderen extremen Rechten. Halb so viele zeigen in Freital ihre pro-demokratische Einstellung, in Döbeln 200, in Torgau 300, in Zittau 350, in Hoyerswerda 800 und in Zwickau 4.000 Menschen. Das ist nur ein Ausschnitt der Protestwelle, die ganz Sachsen Ende Januar 2024 erfasst hat. Diese ungewohnten, sich ähnelnden Bilder sind in ganz Deutschland zu sehen. Dass aber sogar im ländlichen sächsischen Raum Menschen aufstehen, hätte vorher kaum jemand zu prognostizieren gewagt.

Voll mit Trotz und Stolz, sich getraut zu haben, lesen sich ihre Beiträge in den sozialen Medien. Angst und Zweifel haben sie nicht von der Straße abgehalten. Statt der bei »Spaziergängen« üblichen Aggressivität ist Freude über die eigene Courage zu spüren: »Es waren viele Grimmaer da, vom Alter her sehr gemischt. Und gerade bei vielen älteren Menschen hat man strahlende Gesichter gesehen, dass auch in ihrer Stadt mal was passiert«, sagte eine Frau in die Kamera des MDR-»Sachsenspiegel«.

Besonders abseits der großen Städte waren rechte Demos die einzigen politischen Versammlungen in den letzten gut 30 Jahren. »Das signalisiert nach innen, die einzigen politisch Wirkmächtigen zu sein«, sagt Michael Nattke, der Geschäftsführer des Kulturbüro Sachsen, eines Vereins für Demokratiearbeit. Nach außen hin erzeuge diese gefühlte rechte Vorherrschaft die Vereinzelung und Handlungsunfähigkeit bei allen, die potenziell dagegenhalten würden. Genau das erschüttern nun die lokalen Demonstrationen gegen die AfD. Sie schaffen zuallererst ein Gefühl der Selbstermächtigung der Andersdenkenden vor Ort. Dieses Momentum ist wichtig und anzuerkennen.

Zumal es Mut voraussetzt. Demonstrationen in Grimma, Aue-Bad Schlema und Dippoldiswalde wurden von extrem Rechten gestört. Auch in Waldheim bei Döbeln ließen sich die Menschen nicht einschüchtern: Bei der ersten Kundgebung standen den 180 gegen die AfD Demonstrierenden auf der Gegendemo 300 Menschen gegenüber – auch NPD und Freie Sachsen hatten mobilisiert. Doch die Menschen vor Ort demonstrierten ein zweites und drittes Mal für die Demokratie. Mittlerweile gibt es eine Ortsgruppe der Omas gegen Rechts.

Wenige Monate vor den Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen ist diese neue Demowelle ermutigend. Sie könnte ein Anfang sein für einen langwierigen Prozess, der rechten Schein- und zum Teil tatsächlichen Hegemonie in Sachsen etwas entgegenzusetzen. Das kann man von außen mit Besuchen von Veranstaltungen und Festen unterstützen, Informationsabende und Demonstrationen begleiten. Letztlich müssen die Impulse aber von innen aus der lokalen Bevölkerung erfolgen, um in breiteren Kreisen in den Kommunen ankommen und mehr Leute erreichen zu können. Die dann am 9. Juni und 1. September auch entsprechend wählen gehen.

Tobias Prüwer

tpr[at]kreuzer-leipzig.de


Kommentieren


0 Kommentar(e)