Ob »Der Junge und der Reiher« Hayao Miyazakis letztes Werk ist, oder ob der 83-Jährige einen weiteren Film vollenden wird, steht in den Sternen. Sicher ist, dass die Kinobar im April eine Auswahl aus seinem mehr als sechs Jahrzehnte umspannenden Werk zeigt. Von seinem ersten Langfilm »Das Schloss des Cagliostro« bis heute. Der Meister zeichnet derweil einfach munter weiter. LTU
4.4.–10.4., Special Hayao Miyazaki, Kinobar Prager Frühling
Film der Woche: Delia lebt mit ihrem Mann Ivano, ihren drei Kindern und dem unerträglichen Stiefvater Ottorino in einem kargen Kellerloch. Tag für Tag schindet sie sich ab im Haushalt und der Wäscherei und gibt den Lohn an ihren Ehemann, der immer wieder auf sie einprügelt, wenn ihm irgendetwas nicht passt. Regisseurin Paola Cortellesi legt in diesen ersten Minuten die deprimierende Basis für ihren Film. Doch dann erleben wir wie Delia das Haus verlässt, andere Frauen trifft, sich immer etwas Geld beiseite schafft, wenn sie ihre Näharbeiten abliefert. Diese Freiräume wachsen zu einer Geschichte von Emanzipation und Selbstermächtigung. In ihrer Heimat erreichte Cortellesi damit ein Millionenpublikum: »Morgen ist auch noch ein Tag« avancierte zum erfolgreichsten Film des Jahres. In der nach wie vor stark patriarchalisch geprägten italienischen Gesellschaft ein enormer Erfolg. Zumal die Schauspielerin und Drehbuchautorin hiermit ihr Debüt auf dem Regiestuhl vorlegt. Sie stemmt jede einzelne Szene als Hauptdarstellerin und webt als Regisseurin immer wieder überraschende Ideen in die Handlung. Gefilmt im ausdrucksstarken Schwarz-Weiß reiht sich ihr Film in die Tradition des italienischen Neo-Realismus ein – Filme von Männern wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti oder Michelangelo Antonioni. Der weibliche Blick auf die Lebensrealität in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist äußerst erhellend und mit einem Augenzwinkern inszeniert. An den italienischen Kinokassen ließ der Film damit sogar »Barbie« hinter sich.
»Morgen ist auch noch ein Tag«: ab 4.4., Passage-Kinos, Regina-Palast
Als Kabarettist beherrscht er die Bühnen mit seinem trockenen Humor. Als Brenner wurde er in den Adaptionen der Wolf Haas-Krimis auch einem breiten Kinopublikum bekannt. Als Regisseur setzte er sich herrlich selbstironisch als Loserfigur in Szene. Nach »Wilde Maus« inszenierte der Österreicher Josef Hader nun seinen zweiten Spielfilm und stellt seine langjährige Leinwandpartnerin Birgit Minichmayr in den Mittelpunkt der Tragikomödie. Minichmayr spielt die Dorfpolizistin Andrea. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Georg kontrolliert sie in der verschlafenen niederösterreichischen Provinz Raser und Waffenbesitzer. Aber eigentlich will sie der Ödnis entkommen und ins benachbarte St. Pölten, um als Kriminalinspektorin Karriere zu machen. Die Versprechen ihrer Ehe mit Andy blieben unerfüllt. Deshalb trennt sie sich eines Abends von ihm, um die letzten Fesseln zu lösen. Nur blöd, dass sie ihn kurz darauf versehentlich überfährt. Im Schockzustand begeht sie Fahrerflucht. Der unbeholfene Lehrer Franz (verschroben gespielt von Hader), ein trockener Alkoholiker, gibt sich die Schuld an dem Unfall, was Andreas Gewissen zusätzlich belastet. Wie eine Zuschauerin wandelt sie durch ihr eigenes Leben und muss endlich aktiv daran teilnehmen. Wie Minichmayr das verkörpert, ist meisterhaft. Hader nutzt die Spielwiese der Provinz für einige skurrile Momente, insgesamt ist »Andrea lässt sich scheiden« aber eher Tragödie als Komödie.
»Andrea lässt sich scheiden«: ab 4.4., Passage-Kinos, Kinobar Prager Frühling, Schauburg
Der junge Koffi arbeitet als Aushilfslehrer an einer belgischen Schule. Die erste Szene zeigt ihn in seiner Wohnung, wo er sich von seiner Verlobten Alice die Haare schneiden lässt. Die beiden scherzen miteinander, freuen sich auf ihre Reise in den Kongo, wo Koffi seine Aussteuer bezahlen und sich den Segen der Familie abholen möchte. Kurz darauf sitzt Koffi wieder in der Mitte eines Raumes. Doch diesmal trägt er eine Art Holzkasten auf dem Kopf, während ein Priester versucht ihm böse Geister auszutreiben. Die weiße Alice sieht fassungslos zu. Der Aufprall in der kongolesischen Wirklichkeit könnte für das Ehepaar nicht härter sein. Dabei ist die Kiste nur der Anfang. Zurück in seiner alten Heimat weichen seine Eltern Koffi aus. Sein Vater nimmt das Handy nicht ab, die Mutter schlägt ihm die Tür vor der Nase zu. Das Ganze wäre als dramatischer Stoff schon stark genug, doch Musiker und Filmemacher Balojii’s Interesse reicht über seine Protagonisten hinaus. Immer wieder verlässt die Kamera die beiden Eheleute, wendet sich scheinbaren Nebenfiguren zu, Straßenkämpfen, Umzügen und dem ganz alltäglichen Leben im Kongo. Dabei findet »Omen« starke Bilder, sowohl für die Entfremdung derer, die aus Europa zurück auf ihre Heimat blicken, als auch für die Welt, die sie erkunden. Stilsicher und visuell einfallsreich erinnert der Film stellenweise an »Get Out« und trägt doch ganz eindeutig die Handschrift seines Regisseurs, der mit diesem Debüt für viel Aufsehen gesorgt hat. JOSEF BRAUN
»Omen«: ab 4.4., Luru-Kino in der Spinnerei
Das Thema Flucht begleitet Deutschland als Einwanderungsland seit jeher. Welche Erfahrungen und Traumata aber diese Menschen beschatten können, wird in der politischen Debatte teils vergessen. Matteo Garrones »Ich Capitano« erinnert daran und geht im mehrfachen Sinn an die Grenzen – mit fast spürbarem Schmerz und drastischen Einblicken. Die Cousins Seydou und Moussa wollen Senegal verlassen und ihr Glück in Europa suchen. Was mit heiterer Musik und Abenteuer-Feeling beginnt, wird schnell zu einer Kaskade aus Angst, Tod und Grausamkeit. Fälscher, Schleuser, Menschenhändler, Reiche – jeder versucht, die beiden unbedarften Teenager auszunehmen. Doch immer wieder blitzen auf dem Höllentrip durch Wüste, libysche Folterkammern und das Mittelmeer auch kleine Hoffnungsschimmer und poetische Sequenzen durch, etwa der Anblick der für sie unbekannten leuchtenden Bohrinseln inmitten der Finsternis – nein, »das ist bestimmt nicht Italien.« Die endlos scheinenden Weiten der Sahara und die offene See symbolisieren dabei die Verlorenheit. Seydous Gesicht in der Nahaufnahme spiegelt stets das dramatische Wechselspiel von Ausbeutung und Zuversicht: von Schlägen blutverkrustet und verzweifelt, doch auch trotzig und euphorisch. So ist das Drama über Menschlichkeit auch ein Coming-of-Age-Film, der aus einem Jungen mit einem naiven Traum einen gestandenen Helden macht. MARKUS GÄRTNER
»Ich Capitano«: ab 4.4., Passage-Kinos
Weitere Filmtermine der Woche
Kurzsuechtig
Die große Kunst des kurzen Films steht im April wieder im Rampenlicht der Schaubühne Lindenfels. Fünf Tage lang ist das Beste zu erleben, was die mitteldeutsche Kurfilmszene zu bieten hat. Daneben gibt es Workshops zum Weiterbilden, Panels zum Netzwerken, aktuelle VR- und XR-Projekte zu, Staunen und einen Blick über die Landesgrenzen nach Griechenland, das in diesem Jahr beim Kurzsuechtig zu Gast ist. Das umfangreiche Programm gibt’s unter kurzsuechtig.de
Schaubühne Lindenfels, 03.–07.04.
Stephan Seidel: The Substitute / K.O.
R: Stephan Seidel, D: Arthur Heckmann, Luise Audersch, Katharina Hänssler
Doublefeature: In »The Substitute« gerät ein junger Mann abends an eine dubiose Gang und in »K.O.« hecken zwei Supermarktmitarbeiter und eine Callcenter-Beschäftigte einen betrügerischen Plan aus.
Luru-Kino in der Spinnerei, 05.04. 19:00
La Chimera
I/CH 2023, R: Alice Rohrwacher, D: Josh O'Connor, Isabella Rossellini, Alba Rohrwacher, 130 min
Eine Bande von Grabräubern versucht ihr Glück in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, die bevölkert ist von schrägen und liebenswerten Charakteren und beseelt durch die Musik Etruriens
Passage-Kinos, 11.04. 20:00 (mit Einführung)
Banff Centre Mountain Film Festival
Im kanadischen Banff treffen sich seit 1976 Alpinisten, Filmemacher und Abenteurer von Rang und Namen. Die Abenteuerkurzfilme und -dokus des Banff Mountain Film Festivals sind wieder auf Welttournee und bei einem zweistündigen Filmabend zu sehen.
Werk 2, 11.04. 19:30
Das Schloss des Cagliostro
J 1979, R: Hayao Miyazaki, 110 min
Lupin III. ist ein echter Meisterdieb, stets darauf bedacht, dem Ruf seines Großvaters – des legendären Arsène Lupin - gerecht zu werden. Herrlich turbulente Gangsterkomödie voller verrückter Ideen, ein frühes Meisterwerk von Hayao Miyazaki.
Cinestar, 09.04. 17:00 (OmU), 19:45
Regina-Palast, 09.04. 17:30 (OmU), 19:4510.04. 17:30, 19:45 (OmeU)
Kinobar Prager Frühling, 09.04. 18:00 (Special Hayao Miyazaki)
Passage-Kinos, 09.04. 20:45 (OmU)
Der heimliche Blick
D 2015, Dok, 45 min
Wie die DDR sich selbst beobachtete: Frei von Propaganda dokumentierte ein ungewöhnliches Filmstudio das Leben im sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat für zukünftige Generationen.
Denkmalwerkstatt, 09.04. 16:00
Menschen am Sonntag
Die Reihe »Architektur im Film« zeigt im April den Stummfilmklassiker »Menschen am Sonntag«. Eine Gruppe von Filmemachern der Weimarer Republik hielt im Jahr 1929 einen unbeschwerten Sommer in der Hauptstadt fest. Das damalige Berlin verschwand und wird in der Cinémathèque wieder lebendig, begleitet vom Soundtrack der Leipziger Band »Willkommen zuhause, Laika«, die ebenso in der Zeit verschwand.
Cinémathèque, 09.04., 19 Uhr
Tough To Kill
I 1979, R: Joe D’Amato, D: Luc Merenda, Donald O’Brien, Percy Hogan, 88 min
Ein skrupelloser Killer schließt sich einer Gruppe von Söldnern im lateinamerikanischen Dschungel an, um einen von ihnen um die Ecke zu bringen und das Kopfgeld zu kassieren.
Luru-Kino in der Spinnerei, 07.04. 18:00
Drum – Die Sklavenhölle der Mandingos
USA 1976, R: Steve Carver, Burt Kennedy, D: Warren Oates, Isela Vega, Ken Norton, 110 min
Im 19. Jahrhundert steht ein Sklave zwischen seinem Erfolg als Kämpfer und der Ausbeutung der Weißen.
Luru-Kino in der Spinnerei, 07.04. 20:00
Elaha
D 2023, R: Milena Aboyan, D: Derya Dilber, Derya Durmaz, Bayan Layla, 110 min
Elaha wird kurz vor ihrer Hochzeit damit konfrontiert, dass ihr Umfeld die Erwartungshaltung eines intakten Jungfernhäutchens an sie heranträgt, was die junge Deutsch-Kurdin in eine existenzielle Krise stürzt.
Ost-Passage-Theater, 10.04. 20:00
Escape / Exit
PL 1991/2009, Dok, R: Małgorzata Bieńkowska, 30 min
Kurz vor dem Fall der Mauer werden Geflüchtete aus der DDR in Polen interviewt. Das Filmmaterial geriet in Vergessenheit und wurde erst 20 Jahre später wiederentdeckt. Die Menschen berichten darin offen und emotional von ihren Schicksalen. Was sie zu erzählen haben, berührt zutiefst – und kommt uns heute wieder sehr bekannt vor.
Cinémathèque in der Nato, 10.04. 19:30 (Film & Protest, OmeU)
Euromaidan. Rough Cut
UKR 2014, Dok, R: Volodymyr Tykhyi, Andriy Lytvynenko, Kateryna Gornostai, 60 min
Das Kaleidoskop einer Revolution: Als der damalige Präsident Viktor Janukowytsch Ende 2013 überraschend erklärt, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterschreiben, versammeln sich die Menschen in Kyjiw zu monatelangen Protesten. Junge Filmemacher haben die Ereignisse unmittelbar und hochemotional eingefangen.
Cinémathèque in der Nato, 10.04. 19:30 (Film & Protest, mit Regiegespräch, OmeU)
IM Dienst der Stasi – Der Fall Monika Haeger
D 2017, Dok, R: Peter Wensierski
Die Berlinerin Monika Haeger gab an einem Spätsommerabend 1990 in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg ein vier Stunden langes Interview über ihre einstige Mitarbeit bei der DDR-Geheimpolizei, ihren Verrat an Mitmenschen, ihr heimliches Doppelleben.
Stasi-Unterlagen-Archiv Leipzig, 11.04. 19:00
Irdische Verse
IRN 2023, R: Ali Asgari, Alireza Khatami, D: Sadaf Asgari, Gohar Kheirandish, Farzin Mohades, 77 min
Ob bei der Namenswahl für Neugeborene, Modefragen oder politisch motivierten Hundeentführungen: Der iranische Staat will mitreden und nicht selten wird ein Beamter zum besten Berater, wenn es um den irrwitzigen Bürokratiedschungel geht.
Passage-Kinos, 10.04. 19:00 (in Anwesenheit von Regisseur Ali Asgari, OmU)
Nathalie – Überwindung der Grenzen
CH/F 2022, R: Lionel Baier, D: Isabelle Carré, Théodore Pellerin, Ursina Lardi, 89 min
Nathalie organisiert den Besuch von Angela Merkel und Emmanuel Macron in einem Flüchtlingscamp. Während ihre Nerven blankliegen, taucht ausgerechnet ihr aktivistischer Sohn Albert auf.
Zeitgeschichtliches Forum, 09.04. 19:00 (Film & Gespräch, Wissenschaftskino)
Night On Earth
USA 1991, R: Jim Jarmusch, D: Armin Mueller-Stahl, Winona Ryder, Roberto Benigni, 128 min
In fünf Episoden, die sich in einer einzigen Nacht in L.A., New York, Paris, Rom und Helsinki ereignen, zeigt Jim Jarmusch, wie aufregend der Beruf des Taxifahrers sein kann.
Schaubühne Lindenfels, 10.04. 21:15 (OmU, The Independent Cinema of Jim Jarmusch)
Shorts Attack: Mütter, Mut & Mutationen
Von der Hausarbeit bis zum Urlaub, vom Tanzvergnügen über Fahrradliebe und Kunstgenuss bis hin zu Körperreflexion, Klischees und Krisenbewältigung, die Heldinnen des Programms erleben turbulente Situationen.
UT Connewitz, 12.04. 20:00
Uhrwerk Orange
GB/USA 1971, R: Stanley Kubrick, D: Malcolm McDowell, Patrick Magee, Adrienne Corri, 137 min
Der Anführer einer gewalttätigen Jugend-Gang wird nach einer neuartigen Therapie selbst zum Opfer. Bitterböse Satire über Individuum, Gewalt, Medien und Zivilisation nach dem Roman von Anthony Burgess.
Luru-Kino in der Spinnerei, 09.04. 19:00 (Rausch und Stigma-Bilder von Sucht, mit Filmgespräch, OmU)