Das Gegenkino präsentiert im September (5. bis 15.9.) wieder Abseitiges und Obskures aus der Filmgeschichte. Im Juli gibt es bereits einen Vorgeschmack mit zwei Klassikern der Underground-Ikone John Waters in 35mm. Gezeigt werden »Polyester« (1981), eine ebenso geschmacklose wie bizarre Satire des amerikanischen Mittelstands, sowie »Hairspray« (1988), ein rundum unterhaltsames Plädoyer für Toleranz, höchst beschwingt und seiner Zeit um Jahre voraus.
»Double Feature John Waters«: 5.7., 19 Uhr (OmU), Luru-Kino in der Spinnerei
Gedrungen, versteckt hinter der großen Brille wandelt Marguerite durch die Flure der Fakultät. Die junge Frau widmet ihr Leben ganz der Wissenschaft und der Lösung eines mathematischen Problems: Dem Beweis der Goldbachschen Vermutung. Ein scheinbar unlösbares Phänomen. Doch damit gibt sich Marguerite ebensowenig zufrieden, wie ihr Professor Werner. Dem ist jedes Mittel recht, solange es zur Lösung führt. So zögert er nicht, einen fähigen Studenten aus Boston an die Uni zu holen. Die plötzliche Konkurrenz setzt Marguerite unter Druck, zumal es Lucas tatsächlich gelingt, ihre Theorie für die sie die vergangenen Monate geopfert hat, zu widerlegen. Das wirft Marguerite aus der Bahn und zwingt sie dazu, ihr gesamtes Leben zu überdenken. Außerhalb der Mauern der Fakultät entdeckt sie eine neue Welt. Regisseurin Anna Novion visualisiert die Gleichungen ebenso lebendig wie das Nachtleben, in das ihre Protagonistin eintaucht. So wirkt die Welt der Wissenschaft vielleicht nicht zugänglich, aber doch faszinierend. Ebenso wie die Protagonistin: Marguerite muss die zwischenmenschliche Kommunikation mühsam erlernen. Ihr Coming-of-Age bleibt dabei weitgehend in den vorhersehbaren Bahnen. Hauptdarstellerin Ella Rumpf (»Raw«) spielt das Erwachen ihrer Figur aber einnehmend und stets nachvollziehbar. Dafür erhielt sie vollkommen verdient den César als Beste Nachwuchsdarstellerin.
»Die Gleichung ihres Lebens«: ab 27.6., Passage-Kinos
Als die Frau das Taxi am New Yorker Flughafen JFK betritt, wirkt sie müde und in sich gekehrt. Auf dem Weg in die Stadt kommt sie dann doch ins Gespräch mit dem Fahrer und die flüchtige Bekanntschaft bringt beide dazu, sich zu öffnen. Die Konversation fördert immer mehr schmerzhafte Wahrheiten zutage. Ein scheinbar einfaches Konzept hat sich Regisseurin und Autorin Christy Hall, die zuvor die Highschool Serie »I Am Not Okay with This« für Netflix inszeniert hatte, für ihren ersten Spielfilm ausgewählt. In 100 Minuten Echtzeit begleiten wir die beiden Fremden dabei, sich kennen zu lernen. Sean Penn spielt den proletarischen Fahrer, geboren in Hell’s Kitchen, dem dunkelsten Ort in Brooklyn, als Großmaul mit losem Mundwerk. Dakota Johnson sitzt als Passagierin auf seinem Rücksitz und hat eine schwierige Familiengeschichte im Gepäck. Für sie ist die Unterhaltung mit dem Fahrer auch eine Ablenkung vom aufdringlichen Sexting ihres Freundes. Christy Hall orchestriert das gelungen und – trotz der Reduzierung auf einen Ort und zwei Menschen – bis zum Ende spannend und mit pointierten, natürlich wirkenden Dialogen. Wie bei einer Therapiesitzung kommt im Laufe der Zeit immer mehr zur Sprache und lässt die Figuren in einem neuen Licht erscheinen. Ein sehenswertes Debüt einer vielversprechenden Regisseurin.
»Daddio«: ab 27.6., Passage-Kinos, Regina-Palast
Die Freunde Mehdi (Fehd Benchemsi) und Hamid (Abdelhadi Talbi) arbeiten für ein Inkassounternehmen. Eine Sisyphusarbeit im kargen Süden von Marokko. Die Menschen sind arm und nicht imstande, ihren Kredit zurückzuzahlen. Zu pfänden gibt es so gut wie nichts. Ratenzahlung ist keine Option. Schließlich kämpfen alle irgendwie ums Überleben. So landen am Ende nur ein Teppich, eine Ziege und eine Satellitenschüssel im klapprigen Auto der Schuldeneintreiber. Das Kreditinstitut, für das die beiden arbeiten, ist ein windiger Haufen mit zweifelhaften Geschäftspraktiken. Die Schuldner sind äußerst einfallsreich, wenn es darum geht, sich um die Rückzahlung zu drücken. So stolpern Mehdi und Hamid von einer absurden Szenerie in die nächste. Die urkomische Episoden erinnern dabei mit ihrem staubtrockenen Humor an das Kino von Aki Kaurismäki. Zwischen den Zeilen blitzt aber auch immer wieder Kritik an den Zuständen auf. Der Ton ändert sich drastisch, als ein entflohener Sträfling (Rabii Benjhaile) auftaucht, den ein Älterer auf den Rücksitz seines Motorrads gefesselt hat. Dann wird »Déserts« plötzlich zu einem Rachedrama. Für 3000 Dirham sollen die Freunde den namenlosen Fremden überführen. Doch der klaut ihr Auto und übt blutige Rache an dem Mann, der ihn ins Gefängnis brachte, um mit seiner Frau durchzubrennen. Was als quirliges Roadmovie begann, entwickelt sich zu einem wortkargen Western mit langen, statischen Einstellungen. Regisseur Faouzi Bensaïdi lotet die beiden Enden dieser Tragikomödie gnadenlos aus. Der 56-Jährige fordert den Zuschauer heraus. Im Kern seines sechsten Spielfilms, der seine Weltpremiere im Rahmen des Cannes Filmfestivals feierte, steckt die ganze Bandbreite der menschlichen Existenz – Liebe und Tod, Freundschaft und Gier. Die ausdrucksstarken Aufnahmen von Florian Berutti unterstreichen das existentielle Drama. »Déserts« ist ein ungewöhnlicher Trip für ein aufgeschlossenes Publikum.
»Déserts«: ab 27.6., Passage-Kinos
Es gibt Momente, die sind ins kollektive filmische Gedächtnis eingebrannt. Die Eröffnung von Dennis Hoppers »Easy Rider« ist eine solche Szene. Hopper und Peter Fonda fahren auf ihren Harley-Davidson-Motorrädern über die Colorado-Brücke und die Route 66. Dazu läuft Steppenwolfs »Born to be Wild« – eine perfekte Kombination, eine Titelsequenz für die Ewigkeit. Hoppers Film und der Song fingen 1969 ein amerikanisches Lebensgefühl ein. Der dreckige Rock von Steppenwolf stand im Kontrast zum braven Hippie-Folk der Vorjahre. Die Band erreichte beinahe über Nacht Kultstatus und stieg auf zur ersten Stadionrockband. Musiker und Filmemacher wie Cameron Crowe, Alice Cooper oder Scorpions-Frontmann Klaus Meine erinnern sich in Oliver Schwehms klassischer Musikbiographie an diesen Moment und was die Band damals in ihnen ausgelöst hat. Steppenwolf war wie der ältere Bruder, der einem die Geheimnisse des Lebens offenbarte, heißt es da. Dabei lagen die Wurzeln der Band in Thüringen. Im beschaulichen Arnstadt wuchs Joachim Fritz Krauledat mit dem Schlagerradio seiner Mutter auf. Er erzählt vom der Migration nach Kanada, wo er auf den ebenfalls deutschstämmigen Bassisten Klaus Karl Kassbaum traf und mit ihm Steppenwolf gründete. Aus ihnen wurden John Kay und Nick St. Nicholas, Freunde, kreative Partner und schließlich Konkurrenten. Die Drogenjahre kratzten irgendwann an ihren Egos, LSD wurde durch Kokain abgelöst und das Kollektiv wandelte sich zur Ego-Show. Das wird alles von den verschiedenen Parteien unterschiedlich, aber unterhaltsam erinnert und mit viel Super8-Filmmaterial flankiert. Mehr oder weniger prominente Talking Heads erinnern sich und es gibt einige Live-Auftritte zu sehen. »Born to be Wild« ist wie der naheliegende Titel suggeriert eine klassische Band-Doku ohne Überraschungen für Fans der Band und die sind offensichtlich vor allem unter Bikern nach wie vor zahlreich.
»Born to be Wild«: ab 27.6., Luru-Kino in der Spinnerei
Weitere Filmtermine der Woche
Trainspotting – Neue Helden
GB 1996, R: Danny Boyle, D: Ewan McGregor, Ewen Bremner, Robert Carlyle, 94 min
Adaption des Kult-Klassikers der Drogenliteratur von Irvine Welsh.
Sommerkino vor der Plagwitzer Markthalle, 29.06. 22:00 (OmU)
Battles Without Honor and Humanity
J 1973, R: Kinji Fukasaku, D: Bunta Sugawara, Hiroki Matsukata, Kunie Tanaka, 100 min
Ein ehemaliger japanischer Soldat erschießt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen Gangster, der seinen Freund getötet hat. Als er aus der Haft entlassen wird, tritt er einem Yakuza-Syndikat bei.
Luru-Kino in der Spinnerei, 28.06. 21:00 (OmU)
Coffee and Cigarettes
USA/I/JP 2003, R: Jim Jarmusch, D: Cate Blanchett, Bill Murray, Steve Buscemi, 96 min
Elf kurze Begegnungen bei Kaffee und Zigaretten: Episoden aus den Jahren 1986 bis 2003, bei denen sich Freunde und Mitarbeiter des Regisseurs Jim Jarmusch meistens selbst spielen.
Schaubühne Lindenfels, 30.06. 16:30 (OmU)
Men & Chicken
DK 2015, R: Anders Thomas Jensen, D: David Dencik, Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, 104 min
Gabriel und Elias gehen auf die Suche nach ihrem Vater. Ihn finden sie nicht, dafür aber ihre drei derangierten Brüder. Es entspinnt sich ein Wahnsinn aus Sodomie und Genexperimenten.
Passage-Kinos, 28.06. 20:00 (mit Einführung, OmU, Retrospektive)
Final Girls Berlin
74 min
Das Final Girls Berlin Film Festival präsentiert Horror-Kurzfilmkino, in welchem Frauen Regie geführt haben, und Filme, die von Frauen geschrieben oder produziert wurden.
Cinémathèque in der Nato, 28.06. 20:00 (mit Einführung und Gespräch)
Haikyu!! Das Play-off der Müllhalde
J 2024, R: Susumu Mitsunaka, 86 min
Anime-Film zur erfolgreichen Anime-Volleyballserie.
Cineplex, 29.06. 11:00, 30.06. 11:00
Mad God
USA 2021, R: Phil Tippett, 83 min
Düsteres Stop-Motion-Meisterwerk von oscarpreisträger Phil Tippett.
Luru-Kino in der Spinnerei, 30.06. 21:00
Anachoma
A/D/H 2024, Dok, R: Philip Pollak, Johanna Walk, 120 min
Doku über illegale und heimliche Pushbacks von Geflüchteten an der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei.
Luru-Kino in der Spinnerei, 03.07. 18:00 (Eintritt frei, OmU, Premiere in Anwesenheit des Filmteams)
Exile Never Ends
D 2024, Dok, R: Bahar Bektas, 100 min
Nach über 30 Jahren in Deutschland soll Bahars Bruder Taner plötzlich abgeschoben werden, zurück in die Türkei. Er sitzt im Gefängnis und bekommt diesen Ausweg als freie Wahl zur Verfügung gestellt. Bahar bleiben nur die Fragen, denen sie mit ihrem Film auf den Grund geht.
Ost-Passage-Theater, 03.07. 20:00 (mit Regiegespräch, OmU)
Frauen in Landschaften
D 2023, Dok, R: Sabine Michel, 87 min
Vier Frauen in der Politik, in Führungspositionen. Vier Frauen mit ostdeutscher Vergangenheit.
Zeitgeschichtliches Forum, 01.07. 19:00
Nachmittagsfilme
Filmreihe zu Facetten des alltäglichen Lebens und des politischen Systems der DDR
Denkmalwerkstatt, 02.07. 16:00 (Der Kracher von Moskau)
Polyester
USA 1981, R: John Waters, D: Divine, Tab Hunter, Mink Stole, 80 min
Francine Fishpaw möchte ein ganz normales Leben in einer ganz normalen Familie führen. Aber ihr Ehemann Elmer, Besitzer eines Pornokinos, hat eine Affäre mit seiner Sekretärin, die Tochter lässt sich von einem stadtbekannten Rowdy schwängern und der Sohn ist ein berüchtigter Hooligan. Eine ebenso geschmacklose wie bizarre Satire des amerikanischen Mittelstands.
Luru-Kino in der Spinnerei, 05.07. 19:00 (Gegenkino, OV)
Hairspray
USA 1987, R: John Waters, D: Debbie Harry, Jerry Stiller, Sonny Bono, Divine, 88 min
Baltimore 1962: Die Teenies Tracy und Penny träumen von einer großen Tanzkarriere. Doch vorerst bleibt den beiden Mädchen nichts anderes übrig, als vor dem Bildschirm zur »Corny Collins Show« zu proben. Als sie heimlich an einem Talentwettbewerb teilnehmen, werden sie schließlich doch noch engagiert.
Luru-Kino in der Spinnerei, 05.07. 21:00 (Gegenkino, OmU)
Outgrow the System
SWE 2023, Dok, R: Cecilia Paulsson, Anders Nilsson, 58 min
»Change the system, not the climate« ist eine häufige Forderung in der Klimabewegung. Doch was für ein System wollen wir eigentlich?
Kinobar Prager Frühling, 03.07. 20:00 (mit Regiegespräch, OmU)
Thelma & Louise (Best of Cinema)
USA 1991, R: Ridley Scott, D: Susan Sarandon, Geena Davis, Harvey Keitel, 129 min
Susan Sarandon und Geena Davis auf einem Road Trip, der zum Feldzug gegen die brutale Männerwelt wird.
Cinestar, 02.07. 19:30
Regina-Palast, 02.07. 20:00
Cineplex, 02.07. 20:00