Das 58. Karlovy Vary International Film Festival ist Geschichte und Der Crystal Globe geht an den britischen Film »A Sudden Glimpse to Deeper Things« von Mark Cousins. Der eigentliche Gewinner ist aber das Debüt »Loveable (Elskling)« von Lilja Ingolfsdottir. Das starke norwegische Beziehungsdrama nahm den Special Jury Preis, den Darstellerinnenpreis, den Preis der ökumenischen Jury, sowie den Europe Cinemals Label Award und den Preis der internationalen Filmkritik FIPRESCI mit nach Hause – Absolut verdient!
Film der Woche: In seinen Vorlesungen reflektiert Psychologie-Professor Gary Johnson die menschliche Natur, aber im Feld hat er nur wenig Erfahrungen damit. Nebenher arbeitet Gary für das FBI und hilft dabei, Zielpersonen, die sich dazu entschlossen haben, jemanden um die Ecke zu bringen, hinter Gitter zu bringen. Garys Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Abhörtechnik funktioniert. Als jedoch der eigentlich vorgesehene Beamte ausfällt, muss Gary einspringen und gibt sich fortan als Killer aus. Sein analytisches Gespür für die menschliche Natur kommt ihm dabei sehr zur Hilfe. Bis er auf Madison trifft, die ihren gewalttätigen Ehemann loswerden will, und sich in sie verliebt. Das ist nur der Anfang des haarsträubenden Plots, der völlig an den Haaren herbeigezogen wäre – wäre die Geschichte nicht so oder so ähnlich tatsächlich passiert. Der Journalist Skip Hollandsworth schrieb sie auf. Regisseur Richard Linklater (»Boyhood«) und sein Hauptdarsteller Glen Powell (»Wo die Lüge hinfällt«) haben daraus eine irrwitzige Komödie gemacht, die sich clever mit Identitäten auseinandersetzt. Der unbescholtene Gary wird vom Langweiler zum coolen Killer und Glen Powell hat sichtlich Spaß daran in die verschiedenen Rollen zu schlüpfen. Linklater legt den Figuren wieder viele Worte in den Mund, die sich zu cleveren Dialogen entspinnen. »A Killer Romance« ist eine wendungsreiche und herrlich absurde romantische Komödie vom König des Plauderfilms.
»A Killer Romance«: Cineplex, CineStar, Passage-Kinos, Regina Palast
Halb acht erwachen, Sex mit der Ehefrau, Müsli und Joghurt zum Frühstück, 23 Uhr 30 Licht aus. Auf den Karteikarten, die Robert (Darstellerpreis in Cannes: Jesse Plemons) täglich erhält, ist sein Tagesablauf minutiös aufgelistet. Der erfolgreiche Angestellte lebt in einem schicken Haus, fährt ein luxuriöses Auto und muss sich keinerlei Sorgen machen. Doch der Luxus kommt mit einem Preis: Robert muss tun, was Raymond von ihm verlangt. Bisher hat er das immer getan, ohne Fragen zu stellen. Doch als sein Boss von ihm verlangt, ein Menschenleben in Gefahr zu bringen, steigt Raymond aus und sein Leben gerät aus der Bahn.
Der Auftakt von Yorgos Lanthimos' Episodenfilm ist vielversprechend. Jesse Plemons brilliert als Türöffner für die irre Gedankenwelt des griechischen Regisseurs und Drehbuchautors. Willem Dafoe ist herrlich aalglatt und fies und die Suspense-Schraube zieht sich immer weiter zu, bis zum konsequenten Schluss. Der Abspann läuft und eine neue Geschichte beginnt. Hier ist Plemons nun als Cop zu erleben, dessen Frau (Emma Stone) vermisst wird. Kurz bevor er endgültig daran zerbricht, taucht sie wieder auf. Doch er ist davon überzeugt, dass sie ausgetauscht wurde. Schließlich sind Plemons und Stone als Handelsreisende eine Kults auf der Suche nach einer Auserwählten, die sie zu ihrem Guru (Dafoe) überführen sollen. Der Fokus der Handlung verschiebt sich auf Stone, die versucht ihr früheres Leben mit Ehemann und Tochter in Einklang mit ihrer Aufgabe zu bringen - und daran zerbricht.
Hoffnungslosigkeit prägt die drei Episoden. Das scheint auf den ersten Blick neben den Darstellenden der einzige Nenner zu sein, den die Geschichten gemeinsam haben. Die stilisierten Bilder von Lanthimos' Stammkameramann Robbie Ryan und die weirde Musik von Jerskin Fendrix, die beide zuletzt meisterhaft an »Poor Things« mitwirkten, sorgen für eine durchgängige Atmosphäre des Unbehagens. Mit dem endgültigen Abspann stellt sich jedoch eine Leere ein. Wo der diesjährige große Oscargewinner förmlich überfloss vor Idee und Inspiration, muss man bei »Kinds of Kindness« tiefer graben, um auf die Bedeutungsebenen zu stoßen. Lanthimos' neunter Spielfilm steht dabei eher in der Tradition seiner trostlosen Frühwerke wie »Alpen« und »Dogtooth« als dem zugänglichen Publikumshit »The Favourite«. Wen das eher abschreckt: Sein nächster Film mit Plemons und Stone ist bereits in Produktion.
»Kinds of Kindness«: Cineplex, CineStar, Passage-Kinos, Regina Palast
Das Leben von Nina und ihrem jugendlichen Sohn Lars scheint sämtliche Farbe verloren zu haben: Ob in ihrem Münchner Zuhause, im Klassenraum oder im Konzertsaal – dem Arbeitsplatz der renommierten Dirigentin –, ist alles kühl und trostlos. Selbst ihre Kleidung bewegt sich nicht weiter in der Farbpalette als von Eierschal bis hin zu einem kühlen Blau. Umso auffälliger ist es da, als Nina ihren Sohn nach einem Sturz aus dem Fenster im Krankenhaus abholt und seine Socken plötzlich bunt geblümt sind. Schnell werden diese unter der Decke versteckt. Denn so trist wie ihr Umfeld, so unterkühlt ist auch die Beziehung der beiden zueinander. Nina ist sich sicher, dass mit Lars etwas nicht stimmt, seit ein Mädchen aus seiner Schule gewaltsam zu Tode gekommen ist. So schlägt sie ihm eine Auszeit am See vor, er will lieber ans Meer. Obwohl sie mitten in den Orchesterproben für einen großen Auftritt steckt, fahren Nina und ihr Sohn kurzerhand nach Frankreich. Doch der Tristesse können sie dort mitten im Winter und ohne Handyempfang auch nicht entgehen. Regisseurin und Autorin Hanna Slak inszeniert mit »Kein Wort« einen klassischen Thriller. Die Kamera zeichnet ein atmosphärisches Bild und Maren Eggert gibt alles, um der Geschichte von der alleinerziehenden Karrieremutter mehr Tiefe zu verleihen. Am Ende bietet die Erzählung aber nur wenig Spannungspunkte, die über Genreklischees hinausgehen. HANNE BIERMANN
»Kein Wort«: Passage-Kinos
In Frankreich ist Abbé Pierre ein nationales Heiligtum. In den 1960er Jahren stieg er zum Popstar der humanitären Hilfe auf, fand Unterstützung bei Stars wie Charlie Chaplin und reiste als Botschafter der Menschlichkeit um die Welt. Die Gräuel zweier Weltkriege, der Aufstieg des Faschismus, die Judenverfolgung und der Verlust seines besten Freundes prägten ihn und trieben ihn schließlich dazu, sich für die Unterdrückten, die Ärmsten der Armen einzusetzen. All das erzählt das französische Biopic »Ein Leben für die Menschlichkeit« in der ersten halben Stunde. Die übrigen zwei konzentrieren sich auf die vier Jahrzehnte danach. Mit der Hilfe von Lucie Coutaz errichtete Abbé Pierre ein Netzwerk von Einrichtungen für Obdachlose und half Gestrandeten wieder auf die Beine. Seine Botschaft der Menschlichkeit stieß in Politik und Wirtschaft meist auf taube Ohren. Frédéric Telliers Film mahnt an seine Worte und malt das Leben des Wohltäters in großen Bildern auf die Leinwand. Das ist mitunter hart an der Grenze zum Kitsch und darüber hinaus. Getragen wird der Film vor allem von seinem Hauptdarsteller Benjamin Lavernhe (»Das Leben ist ein Fest«).
»Ein Leben für die Menschlichkeit«: Passage-Kinos
Weitere Filmtermine der Woche
Interstellar
USA 2014, R: Christopher Nolan, D: Matthew McConaughey, Anne Hathaway, Michael Caine, 169 min
Passage-Kinos, 12.07. 20:00 (Psychoanalyse trifft Film)
Weil die Erde durch den Klimawandel bald unbewohnbar sein wird, bricht eine Raumschiffcrew auf, um nach Planeten zu suchen, die der Menschheit ein neues Zuhause bieten könnten. Vielschichtiger und brillanter Science-Fiction-Film von Christopher Nolan.
Nachmittagsfilme
Denkmalwerkstatt, 09.07. 16:00 (Über die Zonengrenze hinweg)
Filmreihe zu Facetten des alltäglichen Lebens und des politischen Systems der DDR
Nataschas Tanz
NL/D 2023, R: Jos Stelling, D: Anastasia Weinmar, Hadewych Minis, Willem Voogd, 101 min
Passage-Kinos, 08.07. 18:30 (Premiere mit Gästen)
Mit starken Schwarz-weiß-Bildern erzählt der wortlose Film die berührende Liebegeschichte zwischen zwei Außenseitern. Aus einem Mosaik aus wundersamen Ereignissen entwickelt sich ein poetischer Film über den Sinn und Unsinn des Lebens.
To the Moon (ab 11.7.)
USA 2024, R: Greg Berlanti, D: Scarlett Johansson, Channing Tatum, Nick Dillenburg, 131 min
Cinestar, 10.07. 19:45 (Preview)
Cineplex, 10.07. 20:00 (Preview)
Komödie, die vor dem Hintergrund des historischen Ereignisses der Apollo-11-Mondlandung der NASA spielt.
Tunten lügen nicht
D 2001, Dok, R: Rosa von Praunheim, 92 min
Ost-Passage-Theater 10.07. 20:00 (mit Publikumsgespräch)
Rosa von Praunheim erzählt vom Schicksal von vier Parade-Tunten und den dramatischen Veränderungen des schwulen Untergrunds im Berlin der achtziger- und neunziger Jahre.