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Stadtleben

»Wir alle fühlen uns wie durch eine elektrische Ladung verbunden«

Das Gewandhausorchester eröffnet beim Demokratie-Wochenende in Leipzig seine neue Saison

  »Wir alle fühlen uns wie durch eine elektrische Ladung verbunden« | Das Gewandhausorchester eröffnet beim Demokratie-Wochenende in Leipzig seine neue Saison  Foto: René Jungnickel

Vereint zu sein durch die Musik, darin sieht Navid Kermani das Potential von Vielstimmigkeit. Kerami ist Schriftsteller, Reporter, Publizist und Orientalist. Mit seiner Rede vor dem so still wie gebannt lauschenden Publikum im Gewandhaus greift er das Motto des diesjährigen Demokratie-Wochenendes sowie die Eröffnung der 244. Saison des Gewandhauses auf: »Vielstimmigkeit«. Dabei stiftet nicht nur das Orchester eine Gemeinschaft, in dem viele unterschiedliche Instrumentalistinnen und Instrumentalisten gemeinsam musizieren, auch Hörerinnen und Hörer, die dem Klangkörper lauschen, sind vereinigt: »Wir alle fühlen uns wie durch eine elektrische Ladung verbunden«, sagt Kermani.

Am Saisoneröffnungsabend am Samstag entfacht diese Verbundenheit Thomas Adés‘ »Shanty – Over the Sea« (2020). Die Komposition für Streicher formt schwelgerische Repetitive und Klangflächen, gleichsam der Weite des Meeres. Wie herannahende und abklingende Wellen, insbesondere durch die feine Übergangsdynamik unter dem Dirigat von Andris Nelsons, bewegt die Melodie. Mit dem Konzert für Klavier und Orchester C-Dur KV 503 (1786) von Wolfgang Amadeus Mozart gesellt sich Daniil Trifonov ans Soloinstrument zum Gewandhausorchester. Während der drei Sätze schnellen die Finger Trifonovs über das Klavier, sodass die Melodien nur so berauschen. Währenddessen übertragen sich fröhliche wie auch melancholische Stimmungen, die sich leicht in Nelsons Gesicht ablesen lassen, auf den Klangkörper. Ganz im Sinne des Vielstimmigkeit-Mottos zeugt zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie A-Dur WAB 106 (1861) von der Kraft, die im gemeinsamen Musizieren des Orchesters steckt. Mit langem Applaus und stehenden Ovationen klingt der Abend aus.

Mit kurzen Konzerten in der Innenstadt zeigen sich die Gewandhausmusikerinnen und -musiker während des Demokratiewochenendes nahbar. Dann klappert, brummt, pfeift und jauchzt es. Die 2001 in Dresden als Protestkapelle gegen Nazi-Aufmärsche gegründete Banda Comunale entrückt den bisherigen Programmablauf – es ist gewollt, das bisher geforderte stille Zuhören zu durchbrechen. So formiert sich hinter dem Kollektiv aus bis zu 20 Musikerinnen und Musikern aus verschiedenen Ländern ein Zug aus euphorisiert Mitklatschenden und Tanzenden, die ausgelassen ins Gewandhaus folgen. Dort angekommen, läuten sie die erste Gesprächsrunde ein mit Marina Weisband – Politikerin, Psychologin und Publizistin –, Doritta Kolb-Unglaub – Designerin, Sozialpädagogin und Vorstand des Vereins Colorido –, sowie Abdul-Ahmad Rashid – Journalist und Islamwissenschaftlicher. Alle Drei ringen aus ihren sehr unterschiedlichen Perspektiven darum, wie und ob dazu ermuntert werden könne, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Ziel ist es, auch für Minderheiten ein gutes Miteinander zu schaffen und Problemen gemeinsam und gestärkt zu begegnen. Vage sind die meisten Vorschläge, konkret werden sie beispielsweise darin, Bürokratie zu überwinden und Räume zu schaffen. So fasst der Leiter der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Roland Löffler, als Moderator zusammen: »Es ist Mühe, Arbeit und es braucht Vertrauen.« Der Abend klingt im Konzertsaal aus, in dem Gregor Meyer, Leiter des Gewandhauschores, gemeinsam mit dem Publikum im Chorgesang die Vielstimmigkeit anstimmt. Im Anschluss schickt der 24-köpfige Gewandhauschor mit seinem »Sonnengesang« (1997) von Sofia Gubaidulina die Zuhörerinnen und Zuhörer in den klingenden Äther des Schöpfungs- und Lebenszyklus.

Über das Wochenende klingt Vielstimmigkeit nicht nur danach, gemeinsam zu musizieren, sondern schult allen voran darin, vielen Stimmen zu lauschen. Dass Demokratie diese unterschiedlichen Stimmen braucht, liegt auf der Hand. Ob die Veranstaltung mehr Strahlkraft vor den erschütternden Wahlergebnissen gehabt hätte, vielleicht sogar hätte mobilisieren können, bleibt dabei offen. Gewiss ist, die Spielzeiteröffnung verspricht viele Stimmen unterschiedlicher Komponistinnen und Komponisten mit Orchester-, Klavier-, Orgel- und Vokalmusik. Auch Stimmen aus dem Publikum wird mit einem Aufruf zu Mitgestaltung des nächsten Demokratiewochenendes Gehör geschenkt.


> Alle Infos zur Mitgestaltung des nächsten Demokratiewochenendes finden Sie hier.


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