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Stadtleben

Reden von angemessener Länge

Kleine Nachlese zum Festakt anlässlich des 9. Oktober 1989 gestern im Gewandhaus

  Reden von angemessener Länge | Kleine Nachlese zum Festakt anlässlich des 9. Oktober 1989 gestern im Gewandhaus  Foto: LTM Westend PR (Grundmann)

Burkhard Jung, Michael Kretschmer, Marianne Birthler, Olaf Scholz und: Martin Burkert, unser Mann im Gewandhaus zum Festakt anlässlich des 9. Oktober 1989 gestern Abend. Er lässt hier für Sie seinen inneren Theaterkritiker zu Wort kommen und betrachtet den Festakt als Show.

Gerade zu Beginn kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass ich der einzige reguläre Zuschauer hier bin: Personenschützer, Tontechniker (kein Grund zu gendern bis hierhin), Musikerinnen und Musiker, Einlass- und Servicepersonal, einige Fernsehleute (Fachbegriff), dazu die unvermeidbare Klemmbrett- und Kurzwahltastenbrigade – sie alle führen das übliche Kommandokettenballett der Zuständig- und Verantwortlichkeiten auf.

Das Orchester tritt auf, das Publikum reagiert habitualisiert: Es klatscht. Danach passiert lange nichts, die Gespräche verstummen, nun könnte es losgehen. Da das nicht geschieht, setzt der Fluch aller Klassikkonzerthäuser ein: Es wird gehustet. Zunächst zart, nur dem geübten Ohre wahrnehmbar, doch bald stärker werdend, anschwellend zur eigentlichen Ouvertüre des Abends, bis es klingt wie die britische Version von »Wer wird Millionär?«. Sind Hustenbonbons in Konzerthäusern eigentlich verboten? Der Hustinettenbär hätte ein Vermögen machen können (#EinWessiImOsten). So ist es denn auch mehr Erleichterung als ehrlich empfundene Freude über den Auftritt des Dirigenten Andrew Manze, die das Publikum erneut applaudieren lässt.

Burkhard Jung eröffnet im Anschluss den Festakt mit Schwung, guter Laune, einem kleinen für Heiterkeit sorgenden Versprecher Richtung Ministerpräsident (#Mistgastgebergate) und einem »dezenten« Geschmeide, das er so hoffentlich nicht zuhause tragen muss.

Die vom Theater der Jungen Welt (TDJW) konzipierten und umgesetzten Einspielfilme überzeugen durch ihre Ästhetik und einen schönen Kniff: Im ersten Film stellen Kinder bekannte Fotos der Leipziger Montagsdemonstrationen nach, im zweiten sind sie im Gespräch mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu sehen – und zu hören, das allerdings wohl zuhause vorm Fernseher besser als live im Saal.

Michael Kretschmer ist immer noch oder schon wieder im Wahlkampfmodus und betont, dass sich die soziale(?) Marktwirtschaft und die Demokratie gegenüber der Planwirtschaft und dem Sozialismus als das bessere System behauptet hätten – und es ihm hier natürlich nicht um einen Vergleich geht. Insgesamt wirkt der Ministerpräsident etwas gehetzt, auch unangenehm ambitioniert, gerade im Vergleich zum deutlich entspannteren Burkhard Jung kurz zuvor.

Humoristisches Highlight mit einem Hauch von Loriot: Eine Servicekraft bringt für jede Rednerin und jeden Redner ein neues Wasserglas auf einem Tablett zum Pult – ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, dass es insgesamt nur zwei Gläser gibt, die im Backstage einfach immer wieder getauscht werden. Es trinkt sowieso nur Burkhard Jung nach seinem kleinen Versprecher (#Mistgastgebergate), den der gemeinte Ministerpräsident übrigens sportlich nimmt.

Die Zeitzeugin und Bürgerrechtlerin Marianne Birthler, die im September 2000 die Nachfolge von Joachim Gauck als Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR antrat und dieses Amt bis März 2011 innehatte, spricht sehr anschaulich und persönlich von den Tagen um den 9. Oktober 1989. Wer hier nicht rührselig wird, kann auch mit Welpen nichts anfangen.

Vermeintlicher personeller und dramaturgischer Höhepunkt: Der Auftritt vom Bundesolli. Stilecht mit zehn Minuten Verspätung eingetroffen (s. oben), entert Olaf Scholz mit dem Elan eines Joe Biden die Bühne. Die Rede ist gar nicht mal schlecht, nur scheint sie ihn nicht sonderlich zu interessieren. Nachnamen mit mehr als fünf Buchstaben bereiten ihm hörbar Probleme und hin und wieder verliert er leicht den Faden. Doch sein ihm ganz eigenes Charisma rettet ihn wie gewohnt, hüstel hüstel.  

Dass zur Europahymne aufgestanden wird, war mir neu, aber durchaus willkommen. Zur Nationalhymne allerdings salutiert im Publikumsrang, der aussieht, als wäre er aus der Bonner Republik nachcoloriert eingefügt worden, ein älterer Herr in Uniform, was dann doch eine körperliche Gegenreaktion bei mir auslöst: Ich setze mich wieder hin.

Insgesamt haben alle Reden eine angemessene und angenehme Länge, das Gewandhausorchester spielt staatstragend – was durchaus einige verzückt entrückte Gesichter im Publikum erzeugt –, die singenden Kinder des TDJW zeigen eine beeindruckende Bühnenpräsenz.  Das später auf dem Augustusplatz und dem Ring stattfindende Lichtfest sorgt tatsächlich für ein Zusammenkommen verschiedener Menschen und einen Austausch zwischen den Generationen.

PS: Sebastian Krumbiegel war auch da, keine Sorge.


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1 Kommentar(e)

Ingo Vation 10.10.2024 | um 13:34 Uhr

Sehr erheiternd geschrieben, gute Formatidee! Mehr davon