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Editorial

Editorial 11/24

Das neue Heft ist da!

  Editorial 11/24 | Das neue Heft ist da!  Foto: Maria Notbohm (Foto), Tanja Kirmse (Layout)

»Das sind die Ruinen von morgen.

Morgen ist das alles Archäologie.«

– 10 Jahre Gruppe Reitler, am 23.11. im Horns Erben
 

Ein Freund sagte mir mal, er sei schon immer alt gewesen. Was wohl heißen sollte: nie Teil einer Jugendbewegung. Wenn ich jung wäre, würde ich antworten: Ich fühl’s, Michael. Ich bin aber nicht jung, was ich schon lange wusste. Aber neulich dann der Beweis, will heißen: erstes Klassentreffen. Wovon ich hier Zeugnis ablege, weil es in unserer Titelgeschichte (S. 20) ums Erinnern geht, um den Umgang mit der eigenen Geschichte, um die Zugehörigkeit zu einem Wir. Mit anderen Worten: Nostalgie und Peinlichkeiten.

»Scheiße, seid ihr alle alt geworden«, sagt einer, den ich fast gesiezt hätte, weil er genauso aussieht wie sein Vater damals, vor 25 Jahren oder wann das war, als wir, also dessen Sohn und ich, Freunde waren. Jetzt stehen wir vor unserer alten Schule. Kahlköpfige, zehn bis zwanzig Kilo älter gewordene, richtige Erwachsene. Zwanzig Jahre haben wir uns nicht gesehen. Die Türe geht auf, wir die Treppen hoch, staunend, feixend, kopfschüttelnd. In der Aula, die wir auch zwanzig Jahre nicht gesehen haben, berichtet die 80-jährige Ethiklehrerin, die wir zwanzig Jahre nicht gesehen haben, wann welcher Teil des Gebäudes saniert wurde, was wann neu gebaut wurde. Sehr undankbar, so ein Vortrag, wenn da Leute sitzen, die sich – wir erinnern uns – zwanzig Jahre nicht gesehen und also einiges zu tuscheln haben.

Eine neue Mensa sei gebaut worden, erzählt die 80-jährige Ethiklehrerin. »Was? Es gibt nicht mehr die alte Essenküche mit der Durchreiche und den Tischen auf dem Gang?«, flüstert mein Sitznachbar. »… mit dem Automaten, wo man Kakao und Pulvercappuccino kaufen konnte. Und Pilzcremesuppe, aus derselben Düse!« Wir kichern wie 14-Jährige, wie man nur kichern kann, wenn man still sein soll und einem das Lachen nicht rauspusten darf. »Ruhe da hinten!« – der Anschiss kommt nicht von der 80-jährigen Ethiklehrerin, sondern von meinem nach wie vor besten Freund, der irgendwo vorn in der Aula sitzt, per Whatsapp. Es sind eben ganz andere Zeiten.

Beim Rundgang durch die Schule dann der unangenehme Teil, also der, der den Meckerrentner in mir weckt. Auf jedem alten Geländer wurde ein weiteres – sicher TÜV-genormtes – aufgeschweißt, was ich erst mal ganz furchtbar finde (»Gab es bei uns nicht. Und hat es uns geschadet!?«), nur um dann noch furchtbarer zu finden, dass ich das aufgeschweißte Geländer »handwerklich okay« finde. Zu welchen Gedanken man fähig ist! Mein jugendliches Ich dreht sich angewidert weg. Wir gehen weiter in die Turnhalle – ein hässliches Edelstahlgeländer sichert die neue Generation vor den drei, vier Stufen, die wir damals unbedacht freihändig rauf und runter durften. Wir müssen unsere Straßenschuhe nicht ausziehen, niemanden interessiert die Farbe ihrer Sohlen. Die 80-jährige Ethiklehrerin spricht über die neuen Türen und den neuen Bodenbelag – das schöne Parkett ist grauem PVC oder so was gewichen. Und die Fußbodenheizung sorge dafür, dass man die Halle das ganze Jahr nutzen könne. Wie bitte? Bei welcher Sportart bekommt man noch mal kalte Füße? – Was ist denn mit mir los. Scheiße, bin ich alt geworden!

Vor zehn Jahren hat es schon mal ein Klassen- bzw. Jahrgangstreffen gegeben. Hat mich nicht interessiert damals, zu ein paar Leuten hatte ich noch Kontakt, den Rest vermisste ich nicht. Diesmal war ich aber ziemlich vorfreudig – weil ich in der Zwischenzeit zwei oder drei Menschen getroffen hatte, die ich aus der Schulzeit oder vom Fußball ein bisschen kannte, aber nie meine Freunde genannt hätte. Sie führten ganz andere Leben als ich in ganz anderen Städten als Leipzig. Ich hasse Smalltalk, aber mit diesen Randfiguren der eigenen Geschichte ergab sich ziemlich schnell so was wie das Gegenteil von Smalltalk. Eine schöne Erfahrung, eine erwachsene.

Das Klassentreffen jetzt ist ebenfalls von diesem Vibe geprägt. »Ich hätte gewettet, dass du was mit Sport machst!«, sagt einer, der andere: »Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Sport mehr gemacht.« Alle wohnen entweder in Baden-Württemberg oder wieder hier in der sächsischen Provinz, in der Nähe der Eltern, also nun Großeltern. Auf jeden Fall im Eigenheim und nicht in der Großstadt. Der, den ich früher aus unerfindlichen Gründen nicht leiden konnte, prahlt den ganzen Abend mit dümmsten Oberflächlichkeiten. Der Mathe- und Informatikcrack von damals arbeitet bei IBM, okay, trägt jetzt aber zwei verschiedenfarbige Schuhe und hört nur noch klassische Musik. In all dem Gewusel im furchtbar Jugendweihe-artigen, vertäfelten Saal, für den wir das Schulgebäude vor Stunden verlassen haben, entdecke ich fünf Tische weiter meine große Liebe von damals. Ich bin sofort wieder verliebt.

Gut, dass wir geheiratet haben, denke ich mal wieder.


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