Ein Flachbau auf dem Alten Messegelände, unscheinbar, abgerockt, wie eigentlich alles hier. An der Seite eine ebenfalls unauffällige Metalltür, daneben ein kleiner Briefkasten mit einem Hundeaufkleber und einem sehr blassen Namen drauf: Distillery. Klopfen wird nichts bringen, also Hand auf die Klinke – und da wären wir: auf der Baustelle, nach deren Fortschritt sich wöchentlich hundert Leute erkundigen. Drei Männer, Werkzeuge, Baumaterial, Staub, das volle Programm. Ganz hinten ein Schild, schräg an der Wand irgendwo drangeklemmt. Darauf steht: »Träume«.
Steffen Kache und sein Team haben die Distillery, diese seit den Neunzigern weit über Leipzig hinaus strahlende Institution, »Ostdeutschlands ältesten Technoclub«, im Mai 2023 geschlossen, nein: schließen müssen. Weil das Gebäude in der Kurt-Eisner-Straße 108a einem neuen Wohnviertel weichen musste. Leipzig wächst, was eben erst mal vor allem bedeutet, dass es dichter in der Stadt wird (s. kreuzer-Titelgeschichte 2/2024). Deshalb haben sich die Distillery und der ebenfalls bedrohte TV Club zusammengetan und 2019 die Leipziger Club- und Kulturstiftung gegründet, die das Grundstück am Gleisdreieck im Süden der Stadt gekauft hat, um in typisch Leipziger Art einen ehemals industriellen Ort kulturell neu zu besetzen. »Ich sehe die Distillery dort aber nicht vor 2040«, sagt Steffen Kache, er wisse, was die Stadt Leipzig vorhabe, in den Bebauungsplan zu schreiben: »Es wird dort keine Veranstaltung länger als 22 Uhr gehen, ehe nicht die Brücke vom Norden auf das Gelände gebaut ist.«
Der Traum Gleisdreieck beschäftigt Kache derzeit nicht, zu viel hat der Mitgründer und Geschäftsführer der Distillery damit zu tun, den Club hier auf dem Alten Messegelände einzurichten. »Da, wo das Fenster ist, kommt die Eingangstür hin«, zeigt er nach links. Ja, ebendieses Fenster sehe sehr neu aus und sei es auch, aber es käme da eben wieder weg, an die Wand daneben, wo ein ebenso neues Fenster kaputt ist. Man habe einmal komplett umplanen müssen und »viel gelernt«. Kache grinst. Später sagt er, sein Team und er hätten schon überlegt, ob sie eine Firma gründen, die Clubs baut, weil sie sich jetzt so gut auskennen.
Wir gehen einmal um den Flachbau und dann unter einem großen Stahlgerippe entlang, auf dem ein Monstrum von einer Lüftungsanlage montiert ist, 135.000 Euro hat sie gekostet, sie könnte erweitert und auch an einen anderen Ort mitgenommen werden. Wenn man sie jetzt anschließen würde, schmölzen alle Kabel. Die richtigen elektrischen Leitungen sind noch nicht da. Aus dem Stahlgerippe auf Schotter soll in den nächsten Wochen der Gang vom Eingangsbereich zum eigentlichen Club werden, es braucht Wände und ein Dach. So sehen wir aber den zukünftigen Außenbereich besser, den man sich – November hin, Baustelle her – schon gut vorstellen kann, auch wenn man nicht so vertraut mit diesem Traum ist wie Steffen Kache. Vielleicht werde dieser Außenbereich im Sommer ja sogar täglich geöffnet sein, wer weiß. Wir kommen wieder an eine Stelle, wo uns ein Fenster den Weg versperrt, den eine Tür schon bald den Gästen ermöglicht. Kleiner Schlenker übern Hof, eine blaue Hebebühne erfreut den Vater eines Dreijährigen in uns stellvertretend.
Und dann stehen wir auf dem Dancefloor. »Dort kommt die Bühne hin«, zeigt Kache in die eine Richtung, »dort eine Wand und dahinter die Bar«, in die andere. Die Fenster erhalten noch Schallschutztüren. Die beiden Anlagen aus beiden Räumen der alten Distillery werden in diesem einen Raum verbaut. Also Bumm Bumm von vorn, hinten, allen Seiten, auch von oben.
Wir steigen eine Treppe hoch – es soll auch einen Fahrstuhl geben – und stehen, ach du scheiße, auf dem Schlagerfloor. Ein Baustellenradio plärrt wirklich schlimme Rummelplatzmallorcamusik. Aber keine Angst, Kache versichert, dass sich an der musikalischen Ausrichtung des Clubs nichts ändern werde: Die Musik in den beiden neuen Räumen entspräche freitags und samstags der am alten Standort: »Unten wie im Keller und oben wie oben.« Wobei es oben an den anderen Tagen auch Konzerte geben könnte, immerhin 500 Leute passen in den Raum. »Wir haben hier einfach viel mehr Möglichkeiten. Es können auch verschiedene Dinge parallel passieren.« Genehmigt seien 600 Gäste im Club, im Durchlauf einer Nacht könnten es bis zu 1.000 werden, in der alten Distillery waren 500 bis 600 möglich. Es geht aber nicht nur größer in den neuen Räumen: »Wir können es auch sehr gut klein bauen, so dass du mit 300 Leuten hier eine gute Party machen kannst.« Kache kann sich Tanzschulen und Yogakurse, aber auch offiziellere Anlässe in den Räumen vorstellen, so was wie die »Stadt nach 8«-Konferenz in Berlin. Apropos: »Wenn das hier Form annimmt, dann entsteht auch eine Energie und dann können wir neue Maßstäbe setzen. Das Ziel ist schon, dass wir dann auch ganz konkret mit Berlin mithalten können«, denkt Kache groß.
Man merkt ihm an, dass er darauf brennt, die Distillery wieder zu eröffnen. Anderthalb Jahre ist er nun mehr Bauherr als Clubbetreiber, anderthalb Jahre, in denen allerorten vom Clubsterben gesprochen wird, in denen Mjut und IfZ schließen, in denen Kache im Arbeitskreis Kulturraumschutz des Club-Interessenverbands Livekomm viel von Kolleginnen und Kollegen hört, während er tut und macht und bisher doch immer wieder nur die geplante Wiedereröffnung verschieben kann, von April 2023 auf Herbst auf Frühjahr. Im Sommer hieße es: Ende November, jetzt hofft er auf eine Bauabnahme Anfang Januar. »Es fühlt sich an wie Trockenschwimmen.«
Der Mietvertrag für die Räume mit der Leipziger Entwicklungs- und Vermarktungsgesellschaft mbH (LEVG), einer Tochtergesellschaft der Stadt, die die alte Messe verwaltet, läuft bis 2034. Die rund anderthalb Millionen Euro, die gerade aus Eigenmitteln, »Unterstützungsgeldern der Industrie« und natürlich aus Darlehen in die sogenannte Ertüchtigung des Clubs fließen – die Räume sind ratzeputzleer und weder Schall- noch Brandschutz-konform –, werden bis dahin eher nicht wieder eingespielt sein. Aber vielleicht kann der Club ja doch noch länger bleiben – es gibt Bestrebungen, die Messehalle 7 doch nicht abzureißen, sondern sogar unter Denkmalschutz zu stellen –, ansonsten werden möglichst viele Dinge so konzipiert, dass sie dereinst mit ans Gleisdreieck ziehen könnten. Trotzdem: »Ich setze im Moment alles auf eine Karte. Wenn es schiefgeht, dann beantrage ich Bürgergeld«, sagt Kache, schießt aber direkt nach: »Wird nichts schiefgehen!« Aber das Risiko und der Druck sind groß.
Wir gehen nun nicht im Club zurück nach unten, sondern ins Nachbargebäude, eine große Halle, die innerhalb der noch viel größeren Messehalle 7 steht. Vom Dach schauen wir aus der Dunkelheit weit nach unten auf die Flutlicht-erhellten Fußballfelder der Soccerworld und weit nach oben an die düstere Decke der riesigen Messehalle. Allein für diesen Blick sollte man das hier unter Denkmalschutz stellen.
Doch zurück in den schwindelfreien Backstage-Bereich der Baustelle: große Couch, davor ein Tisch mit unzähligen Flaschen Cola und wenigen Bier. Es wird geraucht. Von den 70, 80 Leuten, die Kache auf der letzten Lohnabrechnung 2023 hatte, arbeiten rund zehn auf der Baustelle mit. Wie viele vom Rest er wieder mobilisieren kann, weiß er nicht – aber er setzt auf den (Kollektiv-)Geist der Distillery, den es ja eh wiederzubeleben gelte, in der Belegschaft und beim Publikum.
Er verstehe den Club als einen Ort, der Menschen zusammenbringen kann, die sich »in der normalen Welt« nie begegnen würden. »Die Attitüde in den Neunzigern, dass wir nur für uns sein wollen und uns total abgrenzen, würde ich so nicht mehr vertreten«, vergleicht Kache. Es sei für ihn der Kern eines Clubs, dass Menschen hier über die Musik zusammen-, aber auch zu sich finden. »Für mich hat einen Club zu betreiben auch was sehr Spirituelles: Du begibst dich am Anfang des Abends in die Musik und fällst dann vielleicht erst nach acht Stunden morgens wieder raus, hast eine Reise gemacht.« Diese individuelle wie kollektive Reise führe dazu, dass der Club zum Wohnzimmer werde, zu einem Raum, »wo du sein kannst wie du willst, wo du geschützt bist und einfach keinen Idioten begegnest«.
Ein Club ohne Tür funktioniere deshalb nicht. Und bei allen Veränderungen über die Jahre und Jahrzehnte »gibt es so ein ganz grundlegendes Ding, das sich nie ändert: Wenn jemand freundlich und nett ist, mit anderen Menschen umgehen kann und nicht gewalttätig ist, kann er rein«. Und dann drinnen mit all den anderen für jene Energie sorgen, die in der alten Distillery da war und die in der neuen noch nicht da sein kann: »Die Energie der Leute, diese Energie, die du spürst, wenn du reingehst.«
Die Erwartungen seien riesig, sagt Steffen Kache, und es werde nicht alles hundertprozentig funktionieren, wenn dann im neuen Jahr die Türen endlich öffnen, vielleicht schon Ende Januar, hofft der Geschäftsführer der Distillery. Wir trinken die Cola aus, verabschieden uns vom Bauherrn, der wieder Clubbetreiber sein will und schauen noch mal auf das schräge Schild hinten im Raum.