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Kultur

»Wenn meine Bücher übersetzt werden, ist meine Mission als Schriftsteller erfüllt«

Alhierd Bacharevič und sein Übersetzer Thomas Weiler im Gespräch

  »Wenn meine Bücher übersetzt werden, ist meine Mission als Schriftsteller erfüllt« | Alhierd Bacharevič und sein Übersetzer Thomas Weiler im Gespräch  Foto: Thomas Weiler/Anja Kapunkt und Alhierd Bacharević/Julia Cimafiejeva

Der diesjährige Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht an den belarussischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen gewaltigen Roman »Europas Hunde«, erschienen 2024, sieben Jahre nach der Originalausgabe, beim Verlag Voland & Quist in der kongenialen – und bereits mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichneten – Übersetzung von Thomas Weiler. Anfang Januar sprachen wir über dieses wuchtige und gewichtige Buch, die Lage in Belarus und die Kunst des Übersetzens.

Bu samoje! Es ist vermutlich kein Zufall, dass wir unser Gespräch ausgerechnet heute am Internationalen Balbuta-Tag führen. Balbuta, eine Sprache, die in »Europas Hunde« eine große Rolle spielt. Was ist das für eine Sprache und wie kam sie ins Buch?

Bacharevič: Ja, herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Balbuta-Tag, am 10. Januar feiert die Sprache ihren achten Geburtstag. Ich habe sie damals in Visby in Schweden erfunden, im Roman erfindet sie der Protagonist Oleg Olegowitsch, der eine geheime Sprache nur für sich selbst haben will. Belarus ist ein mehrsprachiges Land. Das Russische ist die Sprache des Staates, der Bürokratie und ein Erbe der Sowjetunion, das Belarussische wiederum bedeutet sehr viel für die nationale Identität und hat fast schon etwas Sakrales. Oleg Olegowitsch braucht eine neugeborene Sprache, eine Sprache der Freiheit – und schafft eine sprachliche Utopie. Zuerst spricht nur er Balbuta, doch dann teilt er die Sprache mit anderen und begeht damit einen fatalen Fehler, der katastrophale Folgen hat.
 

Thomas Weiler, Sie haben dem Roman ein Glossar mit Wörterbuch und Grammatik von Balbuta beigelegt. Ist es nicht ein Verrat an der geheimen Sprache, wenn sie jetzt jeder lernen kann?

Weiler: Ich glaube nicht. Im Original ist es genau so, nicht als Einleger, sondern als Anhang im Buch, und die Grammatik selbst wird ja auch im Text eingeführt.

Bacharevič: … und Balbuta lebt heute in drei Dimensionen: einmal im Roman, einmal als ein sprachliches Experiment im realen Leben und einmal als ein spannendes Spiel.

Weiler: Mir war wichtig, die Balbuta-Stellen im Original zu belassen. Das ist zum Beispiel in der russischen Übersetzung anders, da gab es andere Ansichten dazu, was den Lesern zuzumuten ist.
 

Alhierd Bacharevič, Ihr Buch ist das erste belletristische Werk, das in Belarus 2022 als extremistisch eingestuft, verboten und sogar unter der Erde verbuddelt wurde …

Bacharevič: Mittlerweile sind zwei Romane von mir als extremistisch eingestuft, neben »Europas Hunde« auch »Das letzte Buch von Herrn A.« (deutsch: Edition Foto-Tapeta, 2023; Anm. d. Red.), aber tatsächlich sind alle meine Bücher in Belarus verboten und wurden aus Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt.

Ich lebe seit fast fünf Jahren im Exil, und inzwischen ist die Liste der extremistischen Werke viel länger geworden. Sie umfasst vor allem Sachbücher, aber es gibt auch einen Lyrikband und mehrere Prosabücher, darunter auch Klassiker. Mein Verleger Andrej Januškievič, der in Minsk eine unabhängige Buchhandlung hatte, wurde wegen meines Buchs 2021 verhaftet und verbrachte 28 Tage im Gefängnis. Jetzt lebt er in Warschau und verlegt belarussische Bücher für die Diaspora. Unsere Leserschaft lebt heute zum großen Teil im Exil.
 

Der Roman ist im Original bereits 2017 erschienen, was ihm aus heutiger Perspektive eine fast erschreckend prophetische Lesart verleiht – er thematisiert unter anderem den Krieg und das russische Reich. Wie war die Rezeption in Belarus?

Bacharevič: Es gab tatsächlich viel Begeisterung bei der Leserschaft. Der Roman war in der belarussischen Literatur etwas Neues. Wir leben in der Zeit von Messengern und kurzen Texten, nicht in der Zeit großer Romane. 2019 kam der Roman auf Russisch heraus, dort war die Rezeption extrem gespalten. Ich bekam viel Ärger von den russischen Nationalisten, aber die liberalen Intellektuellen waren begeistert und der Roman stand sogar auf der Shortlist des wichtigsten Preises »Bolschaja Kniga« (als erstes nichtrussisches Buch überhaupt; Anm. d. Red.). Erst jetzt in Deutschland ist die Rezeption so, wie ich sie mir immer gewünscht habe – viele kluge, ausführliche Besprechungen.
 

Bei den sogenannten kleinen Sprachen ist es üblich, dass die Übersetzenden zugleich als Scouts für ihre Autorinnen und Autoren fungieren. Wie war das in diesem Fall? Wie kamen die Hunde ins Deutsche?

Weiler: Der Weg war nicht sehr geradlinig. Ich habe das Buch relativ früh gelesen. Meine erste Bacharevič-Übersetzung habe ich 2010 veröffentlicht und seitdem verfolge ich, was Alhierd schreibt. Ich habe natürlich mitbekommen, welche Bedeutung dieser Roman hat, was er für ein Ereignis war, und wollte ihn unbedingt ins Deutsche bringen. Aber ich wusste auch, dass es schwierig sein wird, für so ein Projekt einen Verlag zu finden. Im Original sind es fast 900 Seiten.

Letztlich waren wir Corona-Profiteure. Es gab damals eine Reihe von Förderungen, eben auch für Übersetzungen von wenig bekannten Autorinnen aus kleinen Sprachen. So haben wir eine Übersetzungsförderung bekommen. Die Arbeit hat insgesamt sehr lange gedauert, dazu kamen noch die politischen Ereignisse im Land. Nach 2020 war ich für längere Zeit mit vielen anderen Dingen beschäftigt und konnte nicht so viel an Texten arbeiten.

Insgesamt bin ich sehr glücklich mit den Reaktionen, die der Text auslöst, vor allem, dass ihn auch Leute lesen und besprechen, die bis dahin wenig mit belarussischer Literatur zu tun hatten; für die ist er eine Entdeckung. Diese Auszeichnung ist ganz wichtig dafür, dass der Roman als das wahrgenommen wird, was er ist: ein Teil europäischer Literatur.
 

Alhierd Bacharevič, Sie haben Ihren Roman selbst ins Russische übertragen und können nun den deutschen Text lesen. Wie ist es für Sie, diese sprachliche Wandlung des Romans zu erleben?

Bacharevič: Meine Übersetzung ist meine Übersetzung, aber die Übersetzung von Thomas ist wirklich brillant. Ich dachte immer, der Roman sei nicht übersetzbar, weil da drin wirklich alles ist, meine Träume und Albträume, meine schlaflosen Nächte und meine Liebe. Es gibt viele Anspielungen und Fallen. Aber dank Thomas weiß ich jetzt, dass alles möglich ist, wenn man einen talentierten Übersetzer hat.

Der Roman erscheint in diesem Jahr auch auf Norwegisch und Polnisch und gerade werden Gespräche mit meinem US-Verleger geführt. Es ist für mich der größte Traum, dass »Europas Hunde«, mein Hauptwerk, in andere Sprachen übersetzt und auch gelesen wird. Dann, denke ich, ist meine Mission als Schriftsteller zumindest zur Hälfte erfüllt.
 

Der Roman besteht aus sechs Teilen, sechs unterschiedlichen Geschichten und Welten – vom realistischen Stadtroman über einen Dorfspionagethriller, eine bizarre Mythologie-Farce bis hin zu einem großen Science-Fiction-Finale. Die Welten sind alle miteinander verwoben, es ist eine sehr durchdachte Komposition. Zum einem gibt es da die abseits stehenden Charaktere und zum anderen bestimmte Motive. Zum Beispiel das Papier …

Bacharevič: … bei meinen Lesungen sage ich oft, dass ich ein Mensch aus Papier bin. Mein letztes belarussisches Buch heißt »Golem aus Papier« – das bin ich. Mein ganzes Leben ist mit Büchern verbunden. Das Papier ist für mich ein sehr berührendes Symbol: Es macht uns leicht und frei, wir können wandern, ins Exil gehen. Ich habe immer gern Autoren gelesen, die ihr Land verlassen haben. Andererseits macht uns das Papier auch sehr unglücklich, es ist schuld daran, dass wir verfolgt werden, dass wir solche traurigen Geschichten schreiben.

Aber der Roman handelt auch von Europa und der Poesie, von meinem Europa. Die Sprache der Poesie ist lebenswichtig. Die Menschen lesen immer weniger, damit verlieren wir etwas sehr Europäisches.
 

Flucht und Migration spielen auch eine große Rolle, die genannten Exilautoren wie Joyce, Nabokov, Celan tauchen auf, aber auch Nils Holgersson aus Selma Lagerlöfs »Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen« durchwandert auf seine Art das ganze Buch. Insgesamt ist der Roman sehr referenziell, was beim Lesen viele, auch eigene Referenzräume öffnet. Wie ist es beim Übersetzen?

Weiler: Das spricht für mich für Literatur, wenn sie einen beim Lesen in unterschiedliche Richtungen schickt, und es müssen auch nicht nur die sein, die der Autor intendiert hat. Jeder hat seine Lektüren im Hintergrund. So geht es mir auch als Übersetzer, nur habe ich noch die Verantwortung, nachzuspüren, was der Autor wollte – immer mit der Sorge, bestimmte Dinge überlesen, nicht mitbekommen zu haben. Wenn ich sie mitbekomme, ist die Frage, wie mache ich sie für ein deutsches Publikum kenntlich. Denn wenn es um belarussische Klassiker, Filme, Musik etc. geht, sind die Hinweise kaum nachvollziehbar. In der Übersetzung versuche ich anzudeuten, dass hier ein anderes Fenster aufgeht, ohne aber deutlicher zu werden als das Original. Das zeigt wieder einmal, wie wenig eigentlich aus dem Belarussischen übersetzt ist, es gibt kaum etwas Übersetztes, auf das ich verweisen kann.
 

Der Roman ist neben vielem anderen auch ein großer Stadtroman, wir laufen durch Berlin, Prag, Paris und natürlich Minsk.

Bacharevič: Meine belarussischen Leser, die jetzt in der Emigration leben, haben sich bei mir bedankt, dass sie mit dem Roman diese Spaziergänge durch Minsk machen können. Ich träume schon lange davon, Minsk so in die Weltliteratur einzuschreiben, wie es James Joyce mit Dublin gemacht hat. Joyce ist für mich überhaupt eine sehr wichtige Figur, sein Porträt hängt, ganz altmodisch, über meinen Schreibtisch.

Ich hoffe, dass irgendwann ein kommender Leser, der vielleicht noch gar nicht geboren ist, mit diesem Roman meine Heimatstadt erforschen wird. Dass Minsk so Literaturgeschichte bleibt, meine Heimatstadt hat es verdient. Minsk ist seltsam, gefährlich, einzigartig – wie jede Stadt –, aber es hat eine besondere Atmosphäre: eine ganz spezielle Sehnsucht. Ein bisschen wie die Istanbul-Sehnsucht bei Orhan Pamuk. Aber so viel Schmerz wie in Minsk gibt es nirgendwo.
 

Sie wurden beide für »Europas Hunde« ausgezeichnet: Alhierd Bacharevič mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung, Thomas Weiler mit dem Paul-Celan-Preis. Was bedeuten die Auszeichnungen für Sie und Ihre Arbeit?

Weiler: Mir bedeutet es sehr viel, weil es eine große Auszeichnung ist, vergeben von einer Jury, in der lauter verdiente Kolleginnen und Kollegen sitzen, die wissen, wovon sie sprechen. Es bedeutet mir auch sehr viel, dass mir der Preis insbesondere für dieses Buch verliehen wurde. Es ist die Übersetzung, die mich am meisten gekostet hat, in die am meisten reingeflossen ist. Außerdem trägt der Preis dazu bei, dass Interesse an diesem Roman entsteht. Das wird durch den Leipziger Buchpreis noch mehr fokussiert. Ich habe mich über diese Auszeichnung riesig gefreut, weil es gerade in Belarus nicht möglich ist, den Roman zu würdigen. Dass es hier eine Jury gibt, die erkennt, was dieser Text für einen Wert hat und ihn auch würdigt, das ist etwas ganz Besonderes. Und für mich ist es noch mal schöner, dass das in Leipzig stattfindet.

Bacharevič: Ich freue mich auch sehr über den Preis für Thomas, für seine grandiose Arbeit. Und was die Leipziger Auszeichnung für mich persönlich bedeutet? Mein Traum war es immer, vor allem gelesen zu werden. Das fehlte mir und vielen meiner belarussischen Kollegen. Und ich denke, dieser Preis ist in diesem Sinne. Ich hoffe, aufmerksam, von klugen Augen gelesen zu werden. Ich bin der erste belarussischsprachige Autor, der mit diesem Preis geehrt wird und das ist auch für die belarussische Literatur sehr wichtig. Es macht meine Sprache, meine Kultur sichtbarer. Belarus ist Europa – das ist meine Botschaft und dieser Preis ist eine kleine Bestätigung dafür.

> Alhierd Bacharevič: Europas Hunde. Aus dem Belarussischen und Russischen von Thomas Weiler. Dresden: Voland & Quist 2024. 744 S., 36 €
> Preisverleihung: Buchpreis für Europäische Verständigung, Mi., 26.3., 19 Uhr, Gewandhaus
> Lesung: Do., 27.3., 19 Uhr, Zeitgeschichtliches Forum
> Rasender Stillstand: Belarus – fünf Jahre danach, Fr. 28.3., 19 Uhr, UT Connewitz


Alhierd Bacharevič hat mehrere Romane und Essaysammlungen publiziert, seine Bücher sind ins Deutsche, Englische, Russische und weitere Sprachen übersetzt. 2017 erschien sein Hauptwerk »Europas Hunde«. Der Roman, den Bacharevič selbst ins Russische übersetzt hat, stand auf der Shortlist des größten russischen Literaturpreises »Bolschaja Kniga«. Das »Belarus Free Theater« inszenierte den Roman in Minsk, London, Paris, Adelaide und Berlin. In Belarus wurde Alhierd Bacharevič mit mehreren Literaturpreisen (»Buch des Jahres« u. a.) ausgezeichnet. 2021 wurde er mit dem deutschen Erwin-Piscator-Preis geehrt. Auf Deutsch liegen derzeit die Romane »Die Elster auf dem Galgen« und »Das letzte Buch von Herrn A.« sowie die Essaybände »Berlin, Paris und das Dorf« und »Sie haben schon verloren« vor. Seit 2020 lebt er mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, im Exil.


Thomas Weiler, geboren im Schwarzwald, übersetzt und vermittelt Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 den Karl-Dedecius-Preis, 2024 wurde er insbesondere für die Übersetzung von Alhierd Bacharevičs »Europas Hunde« mit dem Paul-Celan-Preis und der August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. In seinem Übersetzungsjournal (www.fussnoten.eu) berichtet er unter anderem über die viele intertextuellen Bezüge in »Europas Hunde«.


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