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Politik

»In der Politik wird sehr viel über Migranten gesprochen, aber nicht mit Migranten«

Francesca Russo, seit 2019 Vorsitzende des Leipziger Migrantinnen- und Migrantenbeirats, im kreuzer-Gespräch

  »In der Politik wird sehr viel über Migranten gesprochen, aber nicht mit Migranten« | Francesca Russo, seit 2019 Vorsitzende des Leipziger Migrantinnen- und Migrantenbeirats, im kreuzer-Gespräch  Foto: Francesca Russo/Christiane Gundlach

Nach der Stadtratswahl im letzten Jahr wird nun im April der Migrantinnen- und Migrantenbeirat gewählt. Dieser berät den Stadtrat und die Verwaltung zu allen Themen, die für migrantische Personen relevant sind. Vom 7. bis 14. April können erstmals alle 16 Beiratsmitglieder über ein Portal gewählt werden.
Die aus Italien stammende Leipzigerin Francesca Russo ist seit 2019 Vorsitzende des Beirats. Wir haben mit ihr über dieses Ehrenamt gesprochen.

Was sind Ihre Aufgaben im Migrantinnen- und Migrantenbeirat?

Ich bin eigentlich immer die erste Ansprechperson, wenn wir Einladungen für Interviews oder Diskussionen bekommen. Außerdem beteilige ich mich an Gremien sowie Arbeitsgruppen und bringe mich in Fachausschüssen und im Stadtrat ein. Als Vorsitzende mache ich aber auch die Tagesordnung der Sitzungen und bin mit den Ämtern in Kontakt. Dabei schaue ich auch immer: Wo steht der Beirat und wo liegen die zukünftigen Themen? Sehr präsent sind auch immer die Verhandlungen mit den Fraktionen.
 

Wie läuft diese Zusammenarbeit?

Im neuen Stadtrat sind sieben Fraktionen vertreten, aber nur die Linke und die Freie Fraktion haben Stadträte in den Migrantinnen- und Migrantenbeirat berufen. Alle anderen haben sachkundige Einwohner entsendet. Diese können allerdings nicht das in die Arbeit des Beirates bringen, was eigentlich ihre Rolle wäre: die direkte Verbindung zwischen Stadtrat und Beirat. Das finde ich sehr schade, denn jetzt gerade spricht die Politik wirklich sehr viel über Migranten, aber nicht mit Migranten. Um das zu ändern, sollten mehr Fraktionssprecher bei uns sitzen.
 

Bevor Mohammed Okasha letztes Jahr für den Stadtrat kandidiert hat, waren Sie beide Vorsitzende des Beirats. Davor gab es immer nur einen Vorsitzenden. Wie kam es zu dieser Änderung?

Das hat sich so ergeben. Ich denke, jede Gruppe ist auch ein bisschen anders und zu diesem Zeitpunkt war es vom Beirat so gewünscht, dass wir zu zweit vorsitzen. Es sollte auch aufgeteilt, beziehungsweise ausbalanciert werden: also ein Mann, eine Frau und verschiedene Herkunftsregionen. Uns war auch sehr wichtig damals, dass diejenigen, die den Vorsitz haben, auch diejenigen sind, die per Onlinewahl gewählt und nicht durch den Stadtrat berufen wurden. Diesen Aspekt haben wir für unsere Legitimation gegenüber den Communitys für wichtig gehalten.
 

Inwiefern?

Es gab damals eine Spaltung in der Gruppe, die dadurch begünstigt wurde, dass zehn Mitglieder online gewählt und sechs durch den Stadtrat berufen wurden. Das wird es im nächsten Migrantenbeirat nicht mehr geben, weil alle Mitglieder durch die Onlinewahl bestimmt werden.
 

Welche Voraussetzungen muss man eigentlich erfüllen, um kandidieren zu können?

Man muss 18 sein, seit drei Monaten in Leipzig leben und nicht per Geburt den deutschen Pass haben. Menschen, die zum Beispiel migrantische Eltern haben, aber schon mit der deutschen Staatsangehörigkeit geboren wurden, dürfen nicht kandidieren. Das ist ein Unterschied zum vorherigen Migrantenbeirat – eine gute Entwicklung, finde ich.
 

Warum finden Sie das gut?

Menschen, die aus migrantischen Familien stammen, aber hier geboren und sozialisiert wurden und deutsche Staatsbürger sind, haben definitionsgemäß einen Migrationshintergrund. Allerdings müssen deren Themen und Anliegen besser in der deutschen Mehrheitsgesellschaft präsentiert werden. Ich finde nicht gut, dass die Anliegen, die diese Personen mitbringen – Diskriminierung oder Rassismus aufgrund vom Aussehen, Nachnamen oder familiärer Herkunft –, immer wieder als rein migrantische Themen wahrgenommen werden und nicht als Probleme von deutschen Bürgern. Die zweite oder dritte Generation sollte nicht als migrantisch gesehen werden, sondern als Teil der deutschen Gesellschaft. Auf privater Ebene ist es völlig legitim und schön, dass viele Nachkommen von Migrantinnen und Migranten ihren Migrationshintergrund als wichtigen Teil ihrer Biografie und als kulturellen Hintergrund sehen. Das soll auch so bleiben. Auf institutioneller Ebene ist es aber problematisch, den Eindruck zu vermitteln, dass Kinder von Migrantinnen und Migranten in unseren Beirat und nicht in den Stadtrat gehören. Auf politischer Ebene finde ich nicht gut, dass diese Personen immer in die Migrantenecke gesteckt werden.
 

Die Sitzplatzverteilung des Migrantenbeirates richtet sich nach acht Regionen – Asien mit drei, Europa und Afrika mit jeweils zwei sowie Amerika, Australien und Ozeanien mit zusammen einer. Jede Region stellt zwei Mitglieder im Beirat. Wie kam es dazu?

Das macht die Stadt Leipzig. Ich kann nur für mich sagen, dass ich es gut fände, wenn zum Beispiel EU-Länder nur mit einem Platz vertreten wären, oder auch mit gar keinem. EU-Länder sind aber in beiden europäischen Länderregionen vertreten. In Deutschland dürfen EU-Staatsangehörige bei der Stadtratswahl mitwählen und somit mitbestimmen. Im besten Fall kommt also kein EU-Mitglied in den neuen Migrantenbeirat, im schlimmsten Fall vier.
 

Die drei asiatischen Regionen stellen sechs Mitglieder Im Beirat, für Afrika sind es nur vier. Wie können da möglichst viele Communitys repräsentiert werden?

Das hängt auch immer davon ab, wer kandidiert. Wenn ich weiß, ich komme aus einer ganz kleinen Community und kandidiere in der Gruppe Asien eins, in der auch viele Syrer vertreten sind, kann ich von Anfang an einschätzen, dass ich viele Stimmen benötige, um gewählt zu werden. Es ist aber nicht pauschal so, dass die Personen nur von der eigenen Community gewählt werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich auch Menschen gewählt haben, die gar nicht aus meiner Herkunftsregion kommen. Einfach wegen meiner Themensetzung.
 

Ist die an Regionen orientierte Sitzplatzverteilung unfair?

Das kann man so nicht sagen, weil das Problem ist, dass letztes Mal bei der Onlinewahl nur zehn Leute über diese Verteilung gewählt wurden und die anderen sechs Leute vom Stadtrat so bestimmt wurden, dass ein Gleichgewicht entsteht. Bei diesen zehn gewählten Menschen war kein Iraner oder Afghane dabei und das geht natürlich nicht. Deswegen wurden Menschen aus diesen Ländern vom Stadtrat bestimmt. Das waren dann die übrigen sechs Plätze. Aber wie es diesmal, bei der ersten vollständigen Onlinewahl, ausgeht, müssen wir abwarten.
 

Wie viel Zeit nimmt Ihre Arbeit als Vorsitzende in Anspruch?

Die Beiratssitzungen finden einmal im Monat statt und dauern drei Stunden. Die Vorbereitung der Sitzungen nimmt mich dabei ungefähr eine Stunde die Woche in Anspruch. Generell muss ich viel mit Ämtern und Referaten sprechen und auch der E-Mail-Verkehr nimmt viel Zeit in Anspruch. Im Durchschnitt sind es wahrscheinlich fünf bis sechs Stunden in der Woche.
 

Wie ist das mit Ihrer Arbeit vereinbar?

Es ist schwierig, da ich vieles nach der Arbeit als Ärztin erledigen muss und dadurch sehr viel von meiner privaten Zeit weggeht. Aber mein Arbeitgeber kommt mir entgegen und die Themen, die sich überschneiden, lassen sich auch gut mit der Arbeitszeit vereinbaren.
 

Welche Themen sind das?

Gesundheitsversorgung von Migranten, von Geflüchteten und auch die Wohnsituation der Geflüchteten sind Themen, die sich mit meiner Arbeit überschneiden und bei denen ich mit beiden Positionen gut vertreten bin.
 

Ihr Beruf ist demnach auch von Vorteil für Ihr Amt?

Sicherlich. Aber jedes Mitglied im Beirat bringt die eigene Erfahrung mit – nicht nur die als migrantische Person, sondern auch die, die man im Arbeitsleben gesammelt hat. Die Mehrheit von uns hat auch beruflich mit dem Thema Migration zu tun.
 

Wenn Sie auf Ihre Zeit als Vorsitzende zurückschauen: Was ist gut gelungen?

Der Austausch mit den Ämtern, insbesondere mit der Ausländerbehörde und dem Sozialamt, ist wirklich sehr gut gelungen. Das sind auch die Ämter, wo wir am meisten Einfluss haben als kommunales Gremium und die meisten Themen einbringen können. Sehr positiv ist auch, dass für alle Anträge, die wir in den Stadtrat eingebracht haben, positiv gestimmt wurde.
 

Und was lief nicht gut?

Was uns nicht gelungen und tatsächlich in der migrantischen Stadtgesellschaft wichtig ist, ist, der Spaltung entgegenzuwirken. Die besteht auch in Folge von verschiedenen Konflikten auf internationaler Ebene innerhalb einiger migrantischer Communitys und zwischen migrantischen und nicht migrantischen Menschen. Dabei ist auch wichtig, wie es den migrantischen Menschen in dieser Stadt nach dem 7. Oktober geht. Wie werden ihre Gefühle wahrgenommen und wie können sie Kritik in Bezug auf die aktuelle Situation äußern, damit diese von der Mehrheitsgesellschaft als Basis für einen Austausch akzeptiert wird? Das ist tatsächlich eine Frage, die viele Menschen in dieser Stadt beschäftigt. Das ist sehr komplex und hat den Rahmen unseres Ehrenamts gesprengt. Ich bedauere es, auch selbst nicht mehr initiiert zu haben und sehe, dass wir in diesem Kontext zu wenig gemacht haben.

 

> Informationen zur Wahl des Migrantinnen- und Migrantenbeirats, die vom 7. bis 14.4. online stattfindet: www.leipzig.de


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