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Politik

Keine Priorität

Die frühkindliche Bildung liegt in Sachsen brach. Die anstehende Reform des Kita-Gesetzes gibt wenig Grund zur Hoffnung

  Keine Priorität | Die frühkindliche Bildung liegt in Sachsen brach. Die anstehende Reform des Kita-Gesetzes gibt wenig Grund zur Hoffnung  Foto: Pixabay


Verkürzte Öffnungszeiten von Kindertagesstätten, hoher Personalausfall, vor allem wegen dauerhafter Erkrankung. Das sind nur Teile der Probleme in der Kitakrise, die schon seit einigen Jahren bundesweit tobt, auch in Leipzig. Die Überforderung der Eltern und Betreuungspersonen landet regelmäßig in Form von Briefen bei der Leipziger Jugendbürgermeisterin Vicki Felthaus (Grüne), erzählt sie auf der Podiumsdiskussion »Kita-Finanzierung: Kommunen zwischen Sparzwang und pädagogischer Arbeit«. Die Hauptforderung liest Felthaus vor: Die Politik müsse handeln. Es folgt zustimmender Applaus aus dem voll besetzten Festsaal im Neuen Rathaus, darunter viele Eltern und Fachkräfte.

Zu einer Art öffentlichen Krisensitzung trafen sich am Dienstagabend Kommunal-, Landespolitikerinnen und Vertreter aus Kitas und Elternbeiräten. Denn die Reformentwürfe für das Sächsische Kita-Gesetz geben eher Grund zur Sorge als zur Hoffnung, findet das Amt für Jugend und Familie. Die größte Sorge: Der Personalschlüssel, also das rechnerische Verhältnis zwischen Betreuung und zu betreuenden Kindern, wird womöglich verschlimmbessert. Dabei ist er entscheidend dafür, ob Mitarbeitende in Kitas Bindungs- und Erziehungsarbeit nachkommen können, ohne auszubrennen. In Leipzig liegt der Schlüssel derzeit deutlich über den Empfehlungen der Bertelsmann-Stiftung: Eine Erziehungsperson betreut in der Krippe 5,2, in Kindergärten 11,5 Kinder. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt einen Schlüssel von 1:3 bzw. 1:7,5. Im bundesdeutschen Vergleich belegt der Freistaat Sachsen den vorletzten Platz.

Kitaleitung: »Wir schaffen das nicht«

Die Landespolitikerinnen und -politiker sitzen auf der Anklagebank und fühlen sich damit sichtlich unwohl. Gerald Eisenblätter (SPD) und Christin Melcher (Grüne) versuchen sich an einer Verteidigung. Schließlich setze sich der Gesetzesentwurf zum Ziel, das Kind-Betreuungsverhältnis zu senken. Der zukünftige sogenannte »Finanzierungsschlüssel« soll aber, anstatt bisheriger aufgabenspezifischer Personalschlüssel, nicht nur direkte, sondern auch mittelbare pädagogische Arbeit erfassen. Darunter fallen Vor- und Nachbereitung, Eltern- und Teamgespräche. Das baue Bürokratie ab, erklärt Melcher.

Felix Sauerbrey hat Zweifel. Der Abteilungsleiter für Kindertagesstätten der Stadt Leipzig befürchtet, dass infolge der »flexibleren Personalorganisation« Arbeiten der Qualitätssicherung und individuellen Betreuung letztendlich von Alltagsproblemen verdrängt würden. Schon jetzt litten diese unter der alltäglichen Realität. Sie unterschieden sich sehr von den Gesetzestexten. »Es ist der Wahnsinn«, fasst Marie-Christin Turnier den Alltag der integrativen Kindertageseinrichtung in der Grünauer Allee zusammen, die sie leitet. Die Kinder gingen teilweise »über Tische und Bänke«, berichtet sie, was regelmäßig Tagespläne durcheinanderbringe. Meist gehe es nur noch darum, das größte Feuer zu löschen. Dass frühkindliche Bildung gar keinen Raum mehr bekomme, bestätigt auch die Leiterin der Kita Holbeinstraße, Kati Hoffmann: »Wir sorgen nur noch dafür, dass die Kinder wieder sicher nach Hause gehen.« Turnier sagt: »Wenn keine Gelder gefunden werden können, dann können wir unsere Arbeit nicht leisten. Wir schaffen das nicht.« Der Applaus zeugt von Verständnis im Publikum.

Neben den Betreuenden sind nicht zuletzt die Leidtragenden die Kinder selbst. Immer mehr Kinder würden in den Schulaufnahmeuntersuchungen als nicht schulreif getestet, in Grünau etwa sei jedes zehnte Kind betroffen, berichtet Silko Kamphausen, Amtsleiter für Jugend und Familie. Entwicklungsstörungen und Koordinationsprobleme stiegen.

Kita-Moratorium auf 2026 verschoben

Leidtragende sind auch die Eltern, die Betreuungslücken auffangen müssen. Das stellt auch die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Kamphausen wird persönlich: Er könne sich als Teil einer privilegierten Bevölkerungsgruppe vielleicht zwei Babysitter für seine vier Kinder leisten – prekär Beschäftigte aber nicht. Gerade in Leipzig sei die Zahl von alleinerziehenden Müttern hoch, auf die die Betreuungsdefizite besonders hart zurückfielen, betont Elternbeirat und Erziehungswissenschaftler Daniel Diegmann. Dass die Care-Arbeit noch immer vor allem bei Müttern lande, drohe den Gender Care Gap weiter zu vergrößern.

Verstärkt wird die Problematik dadurch, dass erste Kitas ganz schließen müssen. Grund dafür: Die Geburtenrate ist in Sachsen stark rückläufig. Im Sommer 2024 gab es fast 4000 Kita-Plätze zu viel in Leipzig. Der demografische Wandel klingt zwar nach einer Chance für höhere Betreuungsqualität. Erstmal aber bedeuten weniger Kinder weniger beitragszahlende Eltern bei ungefähr gleichbleibenden Betriebskosten. Und: Viele Gebäude sind stark sanierungsbedürftig.

Es braucht also mehr Geld - und zwar für viele verschiedene Brandherde. Der Entwurf des sächsischen Landeshaushalts für 2025/26 allerdings sieht keine finanzielle Entlastung der Kita-Erzieherinnen und -Erzieher sowie der Stadt vor. Schon jetzt trägt Leipzig rund 60 Prozent der Kosten, also fast ein Drittel mehr als in der eigentlich vorgesehenen Drittelfinanzierung des Kita-Besuchs durch Eltern, Kommune und Land. Auch das eigentlich für dieses Jahr beschlossene »Kita-Moratorium« ist auf 2026 verschoben. Eigentlich sollte der von der Linken gestellte Antrag die Kitas finanziell leicht entlasten, indem der Landesfinanzierungsanteil für 2025 trotz sinkender Kinderzahlen im Vergleich zu 2024 gleichbliebe. Das hätte umgerechnet ungefähr zwei Millionen Euro für Leipzig ergeben. Diese, darüber wird sich das Podium einig, würden allerdings so gut wie nichts bewirken.

Es seien »schwierige Zeiten«, sagt Holger Gasse (CDU). Viele Bereiche seien drängend, deshalb sei schon »gut«, frühkindliche Erziehung überhaupt im Koalitionsvertrag zu inkludieren. Schließlich finanziere sich der aktuelle Haushalt schon maßgeblich aus verlängerten Corona-Kredit-Tilgungsfristen, also indirekt durch Neuverschuldungen. »Das steht für den nächsten Haushalt nicht mehr zur Verfügung, die großen Probleme werden dann erst kommen«, sagt er.

Kamphausen entgegnet, dass die Finanzierung in die frühkindliche Pädagogik nachhaltig eine bedeutende Einsparung bedeute, insofern sie eine Investition in die Zukunft sei. Er kann seinen Satz kaum zu Ende sprechen, da wird er durch brausenden Applaus unterbrochen.

Auch Juliane Nagel (Linke) sieht, nach vielen gescheiterten Anträgen in den letzten Jahren, vor allem den Mangel politischer Bereitschaft als Problem. Sie verweist auf das Festhalten an der 2014 von der CDU-Landesregierung durchgesetzten Schuldenbremse, Gasse rutscht ein wenig auf seinem Stuhl. »Wir müssen über Verschuldung sprechen«, sagt Nagel. Nachdem auf Bundesebene die Lockerung der Schuldenbremse beschlossen wurde, hätten auch die Länder größeren Handlungsspielraum bei der Neuverschuldung.

Nach einer zähen Diskussion, in der sich die Kommunalpolitiker und Landespolitikerinnen Zahlen, Interpretationen von Gesetzestexten und Verantwortung hin- und herschieben, steht das ernüchternd klingende Fazit, dass in den nächsten Jahren eine Verbesserung nur langwierig und kleinschrittig vorstellbar sei. Auch wenn politische Akteure, Eltern und Fachkräfte immerhin eher eint als spaltet, dass in frühkindlicher Erziehung und Bildung auf keinen Fall gespart werden darf, lässt die reale politische Priorisierung der Kinder noch auf sich warten.


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