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Politik

»Sachsen blickt nicht in die eigenen Abgründe«

Der Leipziger Tim Bohse arbeitet in der Ukraine in der zivilen Konfliktberatung. Wie blickt er auf Sachsen?

  »Sachsen blickt nicht in die eigenen Abgründe« | Der Leipziger Tim Bohse arbeitet in der Ukraine in der zivilen Konfliktberatung. Wie blickt er auf Sachsen?  Foto: Gregor Henker

Der Journalist Marco Brás dos Santos war für den kreuzer in Kyjiw, um mit zivilgesellschaftlich engagierten Menschen über die Lage in der Ukraine zu sprechen – unter ihnen auch der Leipziger Tim Bohse.

Was macht ein Leipziger wie Sie in Kyjiw?

Ich bin seit August 2024 im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes für den Verein KURVE Wustrow als internationale Friedensfachkraft in Kyjiw. Dort arbeite ich in einem Zusammenschluss ukrainischer Organisationen, die zivile Konfliktbearbeitung innerhalb ukrainischer Kommunen fördern. Ich bin hier, weil ich die ukrainische, insbesondere die ostukrainische Zivilgesellschaft gut kenne. Seit 2014 habe ich Projekte zur Demokratieförderung und Stärkung lokaler Initiativen in den Regionen Luhansk und Donezk durchgeführt – in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten. Dadurch habe ich ein gutes Verständnis für die gesellschaftlichen Dynamiken hier entwickelt. Außerdem interessieren mich Politik und Geschichte Mittel- und Osteuropas schon seit meiner Schulzeit. Es gibt eine persönliche Verbindung, eine tiefe Sympathie für die Region – das hat sich bis heute erhalten.

 

Was machen Sie konkret bei Ihrer Arbeit?

Ich arbeite für eine Plattform, die von ukrainischen Vereinen getragen wird und in verschiedenen Regionen und Kommunen in der Ukraine tätig ist. Durch den Krieg entstehen viele sekundäre Konflikte – etwa zwischen Binnenvertriebenen und der angestammten Bevölkerung, zwischen Bürgerinitiativen und lokalen Verwaltungen oder zwischen Mehrheits- und Minderheitengruppen. Meine Kolleg:innen und ich setzen uns dafür ein, dass diese Konflikte nicht gewaltsam eskalieren oder destruktiv ausgetragen werden. Wir unterstützen Führungskräfte aus der lokalen Zivilgesellschaft und Verwaltung dabei, konstruktiv zusammenzuarbeiten.


Wie sieht das konkret aus?

Ein Beispiel: Meine Kollegin Olena Podobied-Frankiwska ist Expertin für Jugendpolitik. Jugendliche sind durch den Krieg besonders betroffen – die Übergangsphase von der Kindheit zum Erwachsensein ist extrem verkürzt, viele ihrer Bedürfnisse werden nicht wahrgenommen. Es gibt viel zu wenig Begegnungsräume, der Schul- und Universitätsunterricht findet online statt. Olena kämpft dafür, dass die Jugendarbeit und -politik trotz des Krieges auf lokaler Ebene weiterentwickelt wird. Ihre Organisation ist ein Beispiel dafür, wie selbst unter extrem widrigen Bedingungen gesellschaftliches Engagement funktioniert.

 

Welche Rolle spielt Deutschland – oder speziell Ostdeutschland – aus Sicht der Ukraine?

Deutschland hat in den letzten Monaten keine besonders sichtbare Rolle gespielt, auch wenn es als wichtiger Unterstützer der Ukraine geschätzt wird. Durch den Regierungswechsel und den politischen Übergang war Deutschland international wenig präsent. Besonders nach dem Streit im Oval Office waren Frankreich und Großbritannien in ihrer Unterstützung sichtbarer. Präsident Selenskyj hat dem neuen Kanzler zur Wahl gratuliert und den Wunsch geäußert, dass Deutschland künftig eine führende Rolle in Europa übernimmt. Ostdeutschland hingegen wird in der Ukraine kaum als eigener Faktor wahrgenommen – das ist regionale Innenpolitik, die in der ukrainischen Öffentlichkeit keine Rolle spielt.

 

Aber da Sie aus Leipzig kommen: Wie nehmen Sie Sachsen wahr?

Der Krieg dauert mittlerweile über drei Jahre. Putin hat das Vertrauen in zwischenstaatliche Vereinbarungen erschüttert und damit Angst erzeugt – das schafft auch bei uns günstige Bedingungen für populistische und autoritäre Strömungen. Der Krieg hat direkte und indirekte Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Wir müssen uns fragen, welche Schwächen unsere demokratische Kultur hat – gerade auf lokaler und regionaler Ebene. Wo ist die Rechtsstaatlichkeit angreifbar? Wo fehlt kritische Öffentlichkeit? In einem Klima von Angst und Misstrauen können autoritäre Dynamiken entstehen, die in normalen Zeiten keinen Raum hätten. Deshalb ist es wichtig, sich stärker damit auseinanderzusetzen, was dieser Krieg mit uns macht und wo wir ansetzen können, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit effektiv zu verteidigen. Der Krieg ist auch ein Kampf zwischen autoritären und demokratischen Systemen. Das muss uns bewusst sein und bedeutet, dass wir auch in Sachsen auf einem ganz anderen Niveau in die Demokratie investieren müssen. 

 

Sie haben im Vorgespräch gesagt: »Sachsen ist das Herz der Finsternis« - was meinen Sie damit?

(lacht) Wir schlagen uns in Sachsen, im Osten Deutschlands, gern auf die eigene Schulter und blicken nicht in die eigenen Abgründe. Mich hat es schockiert, dass während der letzten Landtagswahlen über 40 Prozent der Sachsen BSW und AfD gewählt haben, die in Deutschland als Sprachrohre Moskaus auftreten. Auch in den anderen sächsischen Parteien gibt es pro-Putinsche Stimmungen, obwohl die russische Vollinvasion schon über drei Jahre andauert – ein Krieg der gegen alle Regeln verstößt, die wir als Demokraten hochhalten sollten. Vor diesem Hintergrund haben mich auch immer wieder die orientierungslos bis nihilistisch wirkende Äußerungen des sächsischen Ministerpräsidenten zum russischen Krieg verstört. 


Wie erklären Sie sich diese Haltung in Sachsen?

In Sachsen gibt es einen besonderen Bezug zu Osteuropa – historisch gesehen, denn die Region war nach 1945 sowjetisch besetzt. Die damit verknüpften Gewalterfahrungen wären eigentlich eine gute Voraussetzung, um mit Empathie auf die heutige Erfahrung der Ukrainer:innen zu schauen. Eine Reflexion der sowjetischen Gewaltherrschaft findet jedoch in der Breite der Gesellschaft nicht statt. Das würde verlangen, sich auch mit der eigenen Verantwortung für den deutschen Angriffskrieg auf die Sowjetunion auseinanderzusetzen, ohne den Mitteleuropa nicht unter sowjetische Vorherrschaft gefallen wäre. Stimmen, die für eine aufgeklärte und offene Haltung gegenüber den Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa eintreten und z.B. Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der Polen und der Balten fordern, sind in Sachsen immer noch viel zu schwach. Es gibt stattdessen autoritäre Sympathien und eine ideologische Nähe zu Russland, die von Russland instrumentalisiert und für Einflussnahme genutzt wird. 


Was hat sich seit 1945 in Ostdeutschland getan – warum ist es anders als im Westen?

Nach der Kapitulation wurde die Gesellschaft in der sowjetischen Besatzungszone nach sowjetischem Vorbild umgebaut. Dazu gehörte in der DDR auch die Schaffung eines kollektiven Gemeinschaftsgefühls, das auf der Vorstellung beruhte, die »besseren Deutschen« zu sein – im Gegensatz zum Westen. Mit der Wiedervereinigung wurde die DDR als Staat zwar komplett aufgelöst, aber der ostnationale Kitt blieb erhalten. Er bildet die Grundlage für eine gewisse Selbstviktimisierung, eine anhaltende Idealisierung des Ostens und Russlands und eine Skepsis gegenüber dem Westen. Er führt auch zu einer politischen Kultur, in der Kritik abgewehrt wird, in der Fremde ausgegrenzt werden, in der schwierige Geschichten nicht erzählt werden können. Die Auseinandersetzung mit autoritären Traditionen in der eigenen Familie oder der Lokalgeschichte findet kaum oder viel zu wenig statt.


Was können die Sachsen von der Ukraine lernen?

Sehr viel. Die Art, wie Ukrainer:innen mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart umgehen – im Bewusstsein ihrer Freiheit und Verantwortung – ist beeindruckend. Die 1990er Jahre waren für die Ukraine sozial sehr viel härter als der Umbruch im Osten Deutschlands. Trotzdem ist das Gemeinschaftsgefühl heute in verblüffendem Maße durch Pluralität und Offenheit geprägt. Die eigene Opferrolle steht nicht im Mittelpunkt – es geht um Zukunft, Erneuerung, Handlungsfähigkeit. Ukrainer:innen zeigen, dass gesellschaftliche Selbstorganisation, Solidarität und Offenheit auch unter extremen Bedingungen wie Krieg möglich sind. Das ist eine enorme Leistung, die wir anerkennen und von der wir lernen können. Es geht nicht darum, Ost oder West zu vergleichen – sondern darum, zu erkennen, dass Demokratie unter widrigsten Umständen leben kann, wenn man sich dafür entscheidet.


Der Zivile Friedensdienst (ZFD) ist ein Programm für Gewaltprävention und Friedensförderung in Krisen- und Konfliktregionen. Neun deutsche Friedens- und Entwicklungsorganisationen führen den ZFD gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen durch. Der ZFD wird von der Bundesregierung gefördert. Fachkräfte des ZFD unterstützen Menschen vor Ort langfristig in ihrem Engagement für Dialog, Menschenrechte und Frieden. Aktuell arbeiten mehr als 300 internationale ZFD-Fachkräfte in 44 Ländern.


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1 Kommentar(e)

Co 01.06.2025 | um 07:30 Uhr

Interessant. Warten wir den Doppelhaushalt der Stadt Leipzig, wenn dann noch Mittel für die Kinder und Jugendlichen in der Stadt Leipzig verfügbar sind. Slava Ukraini !!!