anzeige
anzeige

»Wohnungslosigkeit war ein völlig neues Phänomen«

Klaus Hinze, Mitgründer des Teekellers in der Michaeliskirche, der Keimzelle der Leipziger Wohnungslosenhilfe, im Gespräch

  »Wohnungslosigkeit war ein völlig neues Phänomen« | Klaus Hinze, Mitgründer des Teekellers in der Michaeliskirche, der Keimzelle der Leipziger Wohnungslosenhilfe, im Gespräch  Foto: Mathias Schreiber
Klaus Hinze war Mitgründer und Leiter des Teekellers in der Michaeliskirche am Nordplatz, die Anfang der Neunziger Anlaufstelle für Haftentlassene war. Später wurde er Leiter des Wohnungsamtes der Stadt. Nach schwerer Erkrankung ist der 1952 Geborene schon lange im Ruhestand, aber weiterhin ein wacher Beobachter des kommunalen Geschehens. DieKippekauft er regelmäßig am Konsum in Schleußig. Sandy Feldbacher und Bastian Schlesier von der Kippe haben mit ihm über die Anfänge der Wohnungslosenhilfe in Leipzig gesprochen, aus der im Juni 1995 die Leipziger Straßenzeitung hervorging.​​
Klaus Hinze war Mitgründer und Leiter des Teekellers in der Michaeliskirche am Nordplatz, die Anfang der Neunziger Anlaufstelle für Haftentlassene war. Später wurde er Leiter des Wohnungsamtes der Stadt. Nach schwerer Erkrankung ist der 1952 Geborene schon lange im Ruhestand, aber weiterhin ein wacher Beobachter des kommunalen Geschehens. Die Kippe kauft er regelmäßig am Konsum in Schleußig. Sandy Feldbacher und Bastian Schlesier von der Kippe haben mit ihm über die Anfänge der Wohnungslosenhilfe in Leipzig gesprochen, aus der im Juni 1995 die Leipziger Straßenzeitung hervorging.


Der Teekeller in der Michaeliskirche ist die Keimzelle der Leipziger Wohnungslosenhilfe. Zunächst war sie vor allem Anlaufstelle für Haftentlassene. Dabei blieb es aber nicht, richtig?

Plötzlich standen junge Männer vor der Tür, die während der Ausreisewelle über Tschechien und Ungarn in die BRD gegangen waren, aber keinen Fuß fassen konnten. Also kamen sie zurück, doch es gab nur sehr wenig bezahlbare Wohnungen und die Menschen suchten bei der Kirche nach Hilfe. Wir konnten ihnen allerdings keinen Wohnraum vermitteln. Deshalb rief ich bei der Diakonie in unserer Partnerstadt Hannover an, um nach Rat zu fragen. Dort hieß es, wir sollten ins Rathaus gehen und mit Nachdruck auf das Problem hinweisen. Dieser Besuch im Rathaus von den Gründern des Teekellers – Diakonie, Blaues Kreuz und der Michaeliskirche – war sehr beeindruckend für die andere Seite. Im Rathaus hatte man noch gar nicht über Obdachlosigkeit nachgedacht. Von August 1990 bis in den November gab es dann mehrere Gespräche auf höchster Ebene. Mittlerweile hatte sich auch der Leipziger Superintendent (Leitungsamt in der evangelischen Kirche, Anm. d. Red.) eingeschaltet. Das hatten die Kollegen aus Hannover empfohlen. Dadurch wurde der Prozess beschleunigt.



Welche Konsequenzen hatten diese Gespräche für Sie persönlich?

Im Oktober 1990 stand in einem Protokoll dieser Sitzungen, dass ein Sachgebiet Wohnungslosenhilfe im Sozialamt gegründet werden soll und Klaus Hinze in Erwägung ziehe, die Leitung zu übernehmen. Das hatte ich allerdings vorher so nie gesagt. Ich hatte gerade innerhalb der Kirche eine neue Stelle angefangen, weshalb ich es aus dem Protokoll streichen ließ. Dennoch wurde mir die Stelle nahegelegt und der Bürgermeister für Gesundheit und Soziales Jürgen Zimmermann versuchte, über den Superintendenten Johannes Richter Einfluss auf mich zu nehmen. Das war für mich persönlich eine sehr komplizierte Situation. Doch schließlich fing ich am 17. Dezember 1990 im Sozialamt an. Ich war zunächst Sachgebietsleiter ohne Mitarbeiter. Das zeigt die Ausnahmesituation. Nachträglich war das die Geburtsstunde der kommunalen Wohnungslosenhilfe. Damit war das Feld innerhalb der Kommunalverwaltung als Thema gesetzt. Man konnte es jetzt nicht mehr ignorieren.

Gab es auch Druck durch sichtbare Wohnungslosigkeit im öffentlichen Raum?

In der Anfangszeit nicht. Die Leute besaßen ein großes Schamgefühl und wollten auf keinen Fall zu erkennen geben, dass sie keine Wohnung hatten. Viele kamen bei Verwandten oder Bekannten unter. Wohnungslosigkeit war ein völlig neues Phänomen. Vor der Wende wurde etwa im Rahmen der Amnestie Ende 1987 (umfassendster Straferlass der DDR, Anm. d. Red.) niemand aus dem Gefängnis auf die Straße entlassen.

Was haben Sie damals als Erstes umgesetzt?

Im Frühjahr 1991 konnte das erste Obdachlosenhaus mit 32 Plätzen in der Leipziger Queckstraße eröffnet werden. Die Anfangszeit war jedoch sehr problematisch. Es gab große Anfeindungen der Anwohner. Es ist unvergesslich, wenn man Sätze hört wie: »Da stehen wir aber mit der Axt hinter der Tür, wenn die Obdachlosen hier bei uns auftauchen!« Wir haben dann in regelmäßigen Abständen im Haus Sprechzeiten für Bürger eingerichtet. Das hat sich sehr bewährt. Es gab dennoch Konflikte im Umfeld, aber nicht die heraufbeschworenen.

Wie ging es dann weiter?

Im Austausch mit anderen bundesdeutschen Großstädten stellten wir Prävention in den Vordergrund der Wohnungslosenhilfe. Dabei waren wir der Überzeugung, dass das einfacher ist, wenn wir nah an der Vermittlungsstelle von Wohnungen sind. 1993 ist die kommunale Wohnungslosenhilfe dann aus dem Sozialamt ins Wohnungsamt als Abteilung Wohnhilfen verlegt worden. Ich war von 1993 bis 1995 Abteilungsleiter und wurde danach Wohnungsamtsleiter. Der Schwerpunkt lag ab 1993 auch auf Familien. Es gab Hunderte von Haushalten, die Mietschulden hatten und von einer Kündigung bedroht waren. Um das abzuwenden, übernahm unsere Behörde die Mietschulden, aber immer flankiert von sozialen Maßnahmen, damit keine neuen Schulden anfallen. So hat man bei Familien, Alleinerziehenden, aber auch Alleinstehenden versucht, Wohnungslosigkeit im Vorfeld zu verhindern. Dafür gab es in den damals acht Stadtbezirken jeweils einen Sachbearbeiter und einen Sozialarbeiter.

Ging der Präventionsansatz auf?

Ja. Doch dann traf uns eine übergeordnete Entscheidung, die mit der Effektivität unserer Arbeit gar nichts zu tun hatte. Ich war bis 2001 Wohnungsamtsleiter, als in ganz Sachsen die Wohnungsämter aufgelöst wurden: Dresden, Chemnitz, Zwickau. Leipzig kam zuletzt dran. Damit wurde auch die Abteilung Wohnhilfen zunächst ins Sozialamt integriert und dann aufgelöst. Der Ursprungsgrund war ein ganz simpler und hing mit der Oberbürgermeisterwahl zusammen: Es gab Fraktionen, die machten die Wahl des SPD-Bürgermeisters von einer Auflösung des Wohnungsamtes abhängig. Es war ein Wahlgeschenk. Die Aufgaben blieben zwar als kommunale Pflicht bestehen, aber es gab keine sinnvolle Struktur, keine Stadtteilbezogenheit mehr. Das bedeutete: Es wurde mehr Arbeit und Aufwand produziert.

Ich habe einen Interventionsbrief an den damaligen SPD-Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee geschrieben und nie eine Antwort erhalten. Den eigentlichen Grund habe ich erst nach Jahren erfahren. In dem Moment war die Erklärung lapidar, wir brauchen die Wohnungsämter nicht mehr. Ich leitete dann die Abteilung Wohnen im Sozialamt, den Rest des Wohnungsamtes. Nach einem Jahr wechselte ich ins Jugendamt.

Die Auflösung des Wohnungsamtes wurde forciert, weil es damals viel Leerstand gab?

Richtig. Die entspanntere Wohnraumsituation war das politische Argument für diese Auflösung. Das Wohnungsproblem galt als gelöst. Das war ein Totschlagargument. Es stimmte ja, dass es genug Wohnraum gab, aber die sozialen Probleme, die die Menschen hatten und in deren Folge auch Mietschulden und Wohnungsverlust entstehen, hatten sich nicht verändert.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung heute?

Es gab im vergangenen Jahr eine Entscheidung des Stadtrats, die gegen die Verwaltung und den Oberbürgermeister getroffen wurde: Es soll wieder ein Wohnungsamt aufgebaut werden. Das scheint genau die gegenteilige Situation zu derjenigen Anfang der 2000er zu sein, als man sagte, das Wohnungsproblem sei gelöst. Heute haben wir ein richtiges Wohnraumproblem. Damit schließt sich in gewisser Weise ein Kreis und es ist erstaunlich und erfreulich, dass dieser Beschluss nun zustande kam.


Kommentieren


0 Kommentar(e)