anzeige
anzeige
Politik

Vom Führerhaus auf die Straße

Wie Streiks das Demokratieverständnis verändern können

  Vom Führerhaus auf die Straße | Wie Streiks das Demokratieverständnis verändern können  Foto: Vertrauenspersonen der LVB und Beteiligte von »Wir fahren zusammen« bei der Übergabe ihres Forderungskatalogs in Dresden im Dezember 2023/René Gruber


Mehr Demokratie »im und durch den Arbeitskampf«? Das legt zumindest die 2025 erschienene Studie »Wege der Demokratisierung« des in Leipzig ansässigen Else-Frenkel-Brunswik-Instituts nahe. Andre Schmidt, Jonas Ochsmann, Johannes Kiess und Sophie Bose zeigen anhand sächsischer Betriebe, dass gewerkschaftliche Orientierung und betriebliche Konflikte Demokratisierungsprozesse in Gang setzen können. Gewerkschaften spielen dabei eine zentrale Rolle, indem sie Beschäftigte in Kontakt mit der Politik bringen. Etwa durch Besuche von Lokalpolitikerinnen und -politikern im Betrieb oder weil die Beschäftigtenvertretung konkrete Forderungen direkt an die Politik weitergibt. Soweit die Theorie – doch wie sieht das in der Praxis aus? Das fragen wir zwei, die es wissen müssen: Claudia Rothe und René Gruber waren dabei, als die Gewerkschaft Verdi die Angestellten der Leipziger Verkehrsbetrieben (LVB) 2023 und 2024 zum Streik aufrief.

»Am Anfang habe ich auch alles einfach weggearbeitet, egal welche Schicht und wie lange«, erzählt Gruber. Seit 2015 arbeitet er als Straßenbahnfahrer bei der LVB. 2022 tritt er der Gewerkschaft Verdi bei, damals allerdings noch ohne großes Interesse. Doch sein Privatleben leidet zunehmend unter dem Schichtdienst, besonders sein Engagement als Jugendtrainer im Fußball. »Irgendwann habe ich das alles nicht mehr geschafft und die Schuld dafür bei mir gesucht. Heute, mit meinem Gewerkschaftsbewusstsein, sehe ich das anders.« Auch die Inflation trägt dazu bei, dass Gruber schließlich für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. »Ich wollte nie das fette Geld verdienen. Aber wir leisten einen wichtigen Beitrag dazu, dass diese Stadt funktioniert. Warum konnte ich mir dann nicht mal mehr einen Mindeststandard leisten?«

Seinen Kolleginnen und Kollegen geht es ähnlich. »Die meisten haben Dampf am Pausentisch abgelassen, aber das bringt ja keine Veränderung.« Erst als Verdi im Herbst 2022 auf die Belegschaft zutritt, kommt Bewegung in die Sache. Anfangs noch skeptisch, organisiert Gruber dann die ersten Streiks 2023 tatkräftig mit und vertritt in den darauffolgenden Tarifverhandlungen zusammen mit Rothe, damals in der Zentrale der LVB tätig, und anderen Vertrauenspersonen die Belegschaft. »Das war eine riesige Welle aus Frust und Unzufriedenheit, die sich über Jahre angestaut hatte.«

Die Proteste zeigen Wirkung: 2024 kommt es zu einem Tarifabschuss, nach eigener Einschätzung besonders finanziell ein Erfolg, so Gruber. »Früher hatten wir mit dem Tarifvertrag Nahverkehr Sachsen nicht nur den schlechtesten Tarifvertrag Deutschlands, sondern obendrein auch den noch schlechteren Haustarifvertrag der LVB. Heute kommen die Leute wegen der attraktiveren Konditionen überhaupt erst zur LVB.« Doch das gewerkschaftliche Engagement hat weit mehr bewirkt als bessere Arbeitsbedingungen. Tatsächlich habe die Erfahrung der Selbstwirksamkeit bei manchen auch das demokratische Bewusstsein gestärkt, so Rothe. Das, was Gruber von sich erzähle, sei dafür ein hervorragendes Beispiel. Anfangs noch unentschlossen, entwickelte er sich zu einer treibenden Kraft im Arbeitskampf. »Das Erste, was du machst, ist ja direkte Demokratie«, sagt sie. »Du sprichst mit vielen, entscheidest mit, wirst aktiv.«

Doch Gruber selbst sieht das kritischer. Viele Kolleginnen und Kollegen seien oft nur wegen der versprochenen Gehaltserhöhung von 500 Euro in die Gewerkschaft eingetreten, erzählt er. Doch Tarifverhandlungen endeten immer in Kompromissen, das sei nicht allen klar gewesen. Die Folge: Enttäuschung und der Vorwurf, Verdi halte ihre Versprechen nicht. Zusätzlich wird mit den Landtagswahlen 2024 Parteipolitik zum Thema, doch nicht unbedingt im Sinne einer demokratischen Politisierung. »Man hat gesehen, was hier teilweisepolitisch für ein Wind weht«, so Gruber. Das betreffe zwar nicht die ganze Belegschaft, doch er beobachtete einen zunehmenden Konflikt über die Rolle, die die Gewerkschaft zukünftig im Betrieb spielen soll. Befeuert wird das auch durch die AfD, die gezielt Stimmung Gewerkschaften mache. Bei einigen Leuten stoße das auf offene Ohren.

Ein zentraler Kritikpunkt aus den eigenen Reihen sei der Schulterschluss von Verdi und Friday for Futures unter »Wir fahren zusammen« gewesen. Man werde deswegen schnell in eine linke Schublade »mit Steinewerfern, Klimaklebern und Gewalt« gesteckt, erzählt Gruber Er selbst könne das nicht bestätigen und zeigt sich beeindruckt vom Engagement der jungen Menschen, die auch mal morgens um 3 Uhr einen Streikposten aufbauten. Rothe schließt sich ihm an: »Die, die schimpfen, haben selbst aber nichts organisiert.« Beide betonen, wie wichtig Unterstützung von außen ist – umso unverständlicher sei die Ablehnung mancher Kolleginnen und Kollegen gewesen. »Wegen so was wollte ich schon oft hinschmeißen«, schimpft Gruber. »Das zerstört so viel von dem, was wir aufbauen.«

Gemäß der Studie könne der Arbeitskampf eine oft vorhandene Distanz zur Politik verringern. Auch in der Belegschaft der LVB scheint das politische Bewusstsein gewachsen zu sein. Doch nach den Beobachtungen von Gruber und Rothe kann von einer breiten, aktiven Politisierung im Sinne demokratischer Teilhabe nicht die Rede sein. Denn bis heute treten Mitglieder wegen inhaltlicher Differenzen aus der Gewerkschaft aus. Gruber plädiert daher dafür, solche Differenzen außen vor zu lassen: »Egal, welches Fußballteam, egal, welche politische Haltung – jetzt ist Arbeitskampf.«

Dieser wird auch weiterhin nötig sein, denn es gibt noch viel zu verbessern, sei es die Toilettensituation oder die zu kurz berechneten Fahr- und Wendezeiten. Rothe fordert mehr Wertschätzung für die Fahrerinnen und Fahrer, schließlich seien sie die »Säulen der LVB«. Dabei sei auch die Öffentlichkeit gefragt: »Das geht uns alle an – wir wollen schließlich alle pünktlich und sicher ankommen.«


Kommentieren


0 Kommentar(e)