anzeige
anzeige
Stadtleben

»Kinderschutz wird strukturell nicht mitgedacht«

Katja Sturm und Noah Dejanović verbinden fachliches Wissen mit einer Betroffenen- perspektive, um Lehramtsstudierende für das Thema Kinderschutz zu sensibilisieren

  »Kinderschutz wird strukturell nicht mitgedacht« | Katja Sturm und Noah Dejanović verbinden fachliches Wissen mit einer Betroffenen- perspektive, um Lehramtsstudierende für das Thema Kinderschutz zu sensibilisieren  Foto: Christiane Gundlach

Der große Hörsaal am Campus der Uni Leipzig in der Jahnallee ist im Juni 2024 mit 300 Menschen gefüllt, im Januar 2025 sind es bereits 500. An diesem Tag halten Noah Dejanović und Katja Sturm ihren Vortrag zu »Kinderschutz im Studium«. Sturm ist stellvertretende Geschäftsführerin des sächsischen Kinderschutzbundes, Dejanović studiert Politik und Französisch auf Lehramt an der Uni Leipzig. Im Gespräch mit demkreuzersprechen die beiden darüber, wieso diese Vorträge nötig sind.​

Sie vereinen pädagogisches Wissen und Betroffenenperspektive. Welche Vorteile hat das?

KATJA STURM: Ich war lange Zeit Familienhelferin, habe mit Kindern und ihren Eltern gesprochen. Ich war sehr nah dran und weiß, was in den Familien gut funktioniert hat und was die Familien brauchen, was Schule bieten und machen kann. Mit Noah bleibt es nicht nur auf der Meta-Ebene und kommt viel besser an.

NOAH DEJANOVIĆ: Das Praxisnahe, Lebensbezogene und emotional Aufgeladene, das schließt die Menschen dafür auf, sich damit auseinanderzusetzen, der Theorie zuzuhören und die Motivation zu haben, das umzusetzen.


Was lernen Lehramtsstudierende bei den Vorträgen?

STURM: Zum einen sollen sie lernen, welche Anhaltspunkte es gibt, an denen man merkt, dass Kinder Gewalt erleben. Zum anderen soll es ihnen die Sicherheit geben, dass sie Kinder auch selbst ansprechen können. Ob das Kind dann reden will, ist eine ganz andere Sache. Im Mittelpunkt steht das Kind und dann die Eltern. Das ist für mich ein wichtiger Fokus, weil ich oft erlebe, dass Fachkräfte zu Eltern gehen, Elterngespräche führen und die Eltern verteidigen sich und sagen, das ist alles nicht so schlimm. Dem Kind ist damit nicht geholfen, wenn niemand mit dem Kind spricht.

DEJANOVIĆ: Wichtig ist auch zu lernen, auf das Bauchgefühl zu vertrauen. Feine Antennen dafür auszubilden: Wenn ein Kind im Unterricht schläft oder einen Wutausbruch hat, ist es nicht böse oder will mir den Unterricht versauen, sondern hat vielleicht Probleme. Ich finde: Lieber einmal zu viel nachfragen als zu wenig.


Warum ist Kinderschutz nicht Teil des Lehramtsstudiums?

STURM: Über den Kinderschutzbund haben wir eine Anfrage bei Herrn Gemkow (sächsischer Wissenschaftsminister, Anm. d. Red.) gestellt, dass wir das gerne im Lehramtsstudium verpflichtend verankert sehen wollen. Das Feedback war, dass alle, die ins Referendariat gehen, eine Schulung zum Kinderschutz bekommen. Die bekommen sie, aber wir wissen aus unserer Erfahrung als Kinderschutzbund, weil wir diese Schulungen anbieten, dass es dort vorrangig um Schulrecht geht. Da geht es nicht um das Handeln mit dem Kind. Kinder, die zu Hause Gewalt erfahren, können nicht lernen, weil sie ganz andere Themen beschäftigen. Die sind körperlich anwesend, aber mehr passiert nicht. Und da muss ich als Lehrkraft wissen, was ich machen kann.

DEJANOVIĆ: Die Studierenden wünschen sich, dass Kinderschutz bereits im Studium eine Rolle spielt. Ich bin an viele Professor:innen herangetreten und habe gefragt, ob sie sie sich vorstellen könnten, in ihrem Modul eine Veranstaltung für unseren Vortrag aufzugeben. Ich habe dann gehört: Das ist kein wissenschaftliches Thema, das gehört nicht in den wissenschaftlichen Kontext. Es fehlen Wissen und Sensibilität aufseiten der Dozierenden. Auch sie müssten erst mal geschult werden. Kinderschutz ist in keinem Fachbereich direkt angesiedelt, das macht es umso schwieriger, das Thema im Curriculum zu etablieren. Viele schieben es von sich weg und sagen, dass es nicht ihre Verantwortung ist. Kinderschutz wird strukturell nicht mitgedacht und geht in der Masse an Themen leider unter.


Beim Vortrag im Januar hat sich eine Studentin gemeldet, der sich im Praktikum ein Kind anvertraut hatte – sie fühlte sich
hilflos. Welchen Schaden richtet es an, wenn Lehrkräfte unvorbereitet sind?

STURM: Einen großen. Ich muss als Lehrerin offen und sensibel sein, damit Kinder mich ansprechen oder ein Signal geben. Kinder dürfen nicht Angst haben, dass etwas Schlimmes passiert, wenn sie sich anvertrauen. Sie müssen merken: Ich werde eingebunden. Wir haben viele Dinge, die unaufgedeckt bleiben, weil Kinder sich nicht trauen, Systeme zu zerstören, weil kein Kind weiß, was passiert, wenn es etwas sagt. Im schlimmsten Fall zerbrechen Familien.

DEJANOVIĆ: Es hätte mir viel früher das Bewusstsein dafür gegeben: Das, was ich erlebe, ist nicht in Ordnung, das ist nicht normal. Das sollte ich nicht erleben, ich darf mir Hilfe holen. Es hätte mir Last abgenommen, ich habe ganz lange mit Gefühlen von Schuld und Scham gekämpft, habe mir Fragen gestellt wie: Hätte ich viel früher von meiner Mutter abhauen sollen? Da hätte es unglaublich geholfen, wenn jemand von außen gesagt hätte: Du bist für nichts schuld, du bist das Opfer.


Die meisten Studierenden wissen also nicht genug?

STURM und DEJANOVIĆ: (gleichzeitig) Ja.

DEJANOVIĆ: Wenn, dann aus eigener Betroffenheit.


Welche Aufgabe übernimmt die Lehrkraft, wenn sie »etwas merkt«?

DEJANOVIĆ: Eine Studentin hat uns mal gefragt, woher sie wissen könne, ob das gut oder schädlich für das Kind ist, wenn das Kind vom Jugendamt aus der Familie rausgenommen wird. Da bürdet sich die Person zu viel auf. Ihre Aufgabe ist: Anhaltspunkte wahrnehmen, notieren, mit Kolleg:innen besprechen, das Gespräch mit dem Kind suchen, sich beraten lassen und dann abgeben, wenn bestätigt ist, dass man das melden muss.

STURM: Die Lehrkraft ist verantwortlich für die Klasse und es kann sein, dass ein Kind gerade im Fokus steht, weil es Sorgen bereitet. Dann muss erörtert werden, welches Netzwerk man als Lehrkraft nutzen kann, um dem Kind zu helfen: Was kann Schule anbieten und ab wann muss möglicherweise an das Jugendamt abgegeben werden? Nach einer Meldung kommt das Kind hoffentlich weiter in die Schule, die Lehrkraft weiß aber nicht, was passiert, weil bei einer Meldung wiederum Prüfungen ablaufen. Aber man ist verantwortlich für den Zeitraum, in dem das Kind in der Schule ist, weil das der sichere Ort ist – im besten Fall.


Kommentieren


0 Kommentar(e)