anzeige
anzeige

»Täter und Täterinnen machen sich die Sprachlosigkeit der Gesellschaft zunutze«

Der Sexual- und Sozialpädagoge Ralf Pampel vermittelt Kindern altersangemessen Wissen über Sexualität

  »Täter und Täterinnen machen sich die Sprachlosigkeit der Gesellschaft zunutze« | Der Sexual- und Sozialpädagoge Ralf Pampel vermittelt Kindern altersangemessen Wissen über Sexualität  Foto: Christiane Gundlach

Ralf Pampel ist Sexual- und Sozialpädagoge und Mitbegründer von Lust-voll-lernen, einem Zentrum für sexuelle Bildung und Beratung in Leipzig. Dessen Angebote beinhalten Fachkräfteschulungen, Projekte zur sexuellen Bildung mit Kindern und Jugendlichen ab dem Grundschulalter sowie Begleitung von pädagogischen Einrichtungen bei der Erarbeitung von Kinderschutzkonzepten. Im Interview erklärt Pampel, wie Workshops in Schulen ablaufen, was kindgerechte Sexualpädagogik ist und mit welchen Fragen Fachkräfte am häufigsten auf ihn zukommen.

Was hat sexuelle Bildung mit Kinderschutz zu tun?

Beim Thema Sexualität herrscht oft noch ein Sprechverbot. Kinder lernen häufig, dass sie Ärger bekommen, wenn sie zum Beispiel ihren Körper erkunden, dass sie keine Antworten bekommen, wenn sie Fragen zum Thema Sexualität haben, oder dass sie keine Worte für ihre Genitalien haben oder diese mit Scham besetzt sind. Genau dieses Tabu machen sich Täter und Täterinnen zunutze. Aber Sexualität ist ein Thema, das zu uns allen dazugehört und Kinder brauchen eine Idee, wie sie damit umgehen können. Es ist wichtig, Kindern Wissen zu vermitteln, das sie sprechfähig macht und ihnen hilft, Situationen besser einschätzen zu können.


Wie funktioniert diese Wissensvermittlung konkret?

Kinder brauchen schon in der Kita Begriffe für ihren Körper und ihre Genitalien, die unmissverständlich sind. Denn ansonsten wissen weder Fachkräfte noch die anderen Kinder, worüber gesprochen wird. Ich erlebe es oft, dass Kinder von ihrer »Schnecke«, »da unten« oder auch »Brigitte« sprechen. Das bedeutet, dass Kinder auch nicht klar benennen können, wenn ihnen etwas an einer bestimmten Stelle wehtut oder sie unangemessen an ihren Genitalien berührt wurden. Dieses Grundlagenwissen vermitteln wir an pädagogische Fachkräfte in Kitas.


Und mit den Kindern selbst?

Mit Kindern ab der ersten Klasse sprechen wir auch über Gefühle. Zum Beispiel wie es ist, wenn einem jemand zu nahekommt. Erwachsene neigen dazu, negative Gefühle von Kindern fernzuhalten. Stattdessen müssen sie lernen, sie wahr- und ernst zu nehmen. Damit sie wissen, wann sie sich Hilfe holen müssen. Wir erklären den Kindern zum Beispiel, dass es okay ist, wenn Eltern ihnen beim Waschen helfen, nachschauen, wenn es wehtut oder eine Ärztin sie untersucht. Aber dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie von Erwachsenen an ihren Genitalien gestreichelt werden. Der Unterschied ist Kindern manchmal gar nicht klar.


Kinder bekommen oft von Erwachsenen gesagt, was sie machen dürfen und was nicht. Wie schult man Kinder darin, ihre Grenzen wahrzunehmen?

Dafür ist es wichtig, dass Fachkräfte und Eltern mit im Boot sind, damit die Kinder im Alltag umsetzen können, was wir ihnen erzählen. Eine grundlegende Botschaft, die Kinder immer bekommen ist: »Dein Körper gehört dir.« Aber Kinder erfahren an ganz vielen Stellen, dass das nicht wahr ist. Erwachsene entscheiden, was Kinder anziehen, ob es eine Klotür gibt, die sie zumachen dürfen, oder ob sie der Oma einen Kuss geben müssen. Darüber sprechen wir mit ihnen und lassen sie von Situationen erzählen, in denen ihre Grenzen überschritten wurden und was sie dann tun können. Wir öffnen den Raum und nehmen die Kinder mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen ernst.

Es gibt auch eine Methode, bei der die Kinder aufeinander zugehen und spüren lernen, wann ihnen das Gegenüber zu nahekommt. Dann sagen sie laut: »Stopp!« Das üben wir auch mit Gesten oder mit Blicken. »Stopp sagen« ist ja quasi die goldene Regel, aber sie erzeugt auch Druck. Das können ja nicht mal alle Erwachsenen gut. Deshalb geht es auch darum, herauszufinden, ob mein Gegenüber eine Berührung überhaupt will. Also nachzufragen und Konsens herzustellen.

Fragen
Was Viertklässler über Sex wissen wollen


Was wollen die Kinder denn wissen in den Workshops?

Da habe ich was mitgebracht.

Ralf Pampel zieht eine Klarsichtfolie aus seinem Rucksack und leert sie auf dem Tisch – ein großer Haufen kleiner Zettel mit Fragen einer vierten Klasse, die anonym gestellt wurden: »Kann der Penis in der Scheide stecken bleiben?«, »Warum mögen Menschen es nicht, wenn Kinder über Sex sprechen?«, »Was sind die Waffen einer Frau?«

Das sind halt Dinge, die Kinder hören, zu denen sie eine Idee haben und trotzdem spricht niemand mit ihnen darüber. Manchmal kommen auch sehr konkrete Fragen: »Was ist eine Vergewaltigung?« oder: »Muss man Sex machen?«.


Wie schafft man den Einstieg in so ein tabuisiertes Thema?

Wir schicken vor den Workshops einen Brief an die Fachkräfte, an die Eltern und an die Kinder, in dem wir uns vorstellen und erklären, worum es geht. Eine unserer wichtigsten Regeln ist, dass die Teilnahme freiwillig ist. Das bedeutet, dass Kinder sich die Augen und Ohren zuhalten oder den Raum verlassen können. Lehrkräfte sind während der Einheit nicht im Raum, damit sich alle Kinder trauen, Fragen zu stellen. Aber wenn ein Kind gehen will, kann es immer raus zu seinen Lehrkräften. Das passiert am Anfang häufiger, weil viele schon gelernt haben, dass es ein »unangenehmes« Thema ist. Aber gerade diese Freiwilligkeit führt oft dazu, dass die Kinder neugierig sind und gerne wiederkommen. Es gibt Kinder, deren Eltern ihnen die Teilnahme verbieten, um sie vor vermeintlich zu viel Informationen zum Thema zu schützen. Seit 1977 ist die Sexualerziehung laut Verfassungsgerichtsbeschluss Teil der schulischen Bildung. Trotzdem fragen viele Schulen noch um Erlaubnis.


Das Thema polarisiert extrem. Was antworten Sie Menschen, die Ihre Arbeit kritisch sehen?

In Elternabenden ist das immer Thema und da hilft es, runterzubrechen, was wir tun. Erstens: Wir vermitteln altersangemessen Wissen und das ist ein Recht, das Kinder haben. Zweitens ist es nachweisbar, dass solches Wissen Kinder schützt und sie gleichzeitig nicht früher Sex haben, nur, weil sie darüber Bescheid wissen. Ich gebe auch oft die Fragen herum (deutet auf den Zettelberg), denn sie zeigen, dass Kinder die Fragen ja schon im Kopf haben. Sexualität ist überall. Kinder bekommen das mit, aber die Erwachsenen reden nicht darüber und das verunsichert. Und wenn ich unsicher bin oder Angst habe, kann ich mich nicht schützen. Dazu bringe ich manchmal Beispiele, die sehr konkret, aber auch sehr heftig sind, und zeigen, wie wichtig es für Kinder sein kann, Bescheid zu wissen.


Was sind das für Beispiele?

In einer siebten Klasse hat eine Lehrerin gemerkt, dass eine Schülerin während ihrer Periode keine Menstruationsartikel von zu Hause mitbekommen hat. Sie hat auch bemerkt, dass das Mädchen gar nicht weiß, was da passiert. Also hat sie sich mit ihr hingesetzt und ein Buch zum Thema Menstruation angeschaut. Dazu gehört natürlich auch das Thema Schwangerschaft und so sind sie zu Sexualität gekommen. In dem Buch wurde kindgerecht gezeigt, wie Mann und Frau Sex haben, worauf das Mädchen gesagt hat: »Das ist das, was mein Onkel mit mir macht.« In dieser drastischen Deutlichkeit erzählen Kinder zwar selten von Missbrauch, das Beispiel zeigt aber, dass Kinder oft nicht wissen, was Erwachsene dürfen und was nicht und dass ihnen das Wissen helfen könnte, sich Hilfe zu holen. Kinder, die früh von Missbrauch betroffen sind, wachsen mit dem Glauben auf, dass das Normalität ist. Meistens sind die Täter Menschen, die den Kindern nahestehen und die emotionale Verbindung ausnutzen. – Bei so einem Beispiel verstehen Eltern meistens, warum unsere Arbeit so wichtig ist.


Auch politisch wird das Thema stark
vereinnahmt – vor allem von rechtsextremen Parteien.

Das merken wir auch. Menschen regen sich auf, wollen »unschuldige« Kinder von dem Thema fernhalten und behaupten, das wäre dann Kinderschutz. Rechtsextreme Parteien nutzen die Angst und Unsicherheit bei vielen Erwachsenen, um mit Unwahrheiten und polarisierenden Begriffen Stimmen zu fangen. Aber was sie eigentlich machen, ist, den Kindern Zugang zu Wissen verwehren, das sie schützen würde – damit leisten sie Missbrauch und Gewalt Vorschub.


Warum ist das Thema emotional so aufgeladen?

Sexualität wurde schon immer politisch instrumentalisiert und mit Moral besetzt, als große Sünde bezeichnet. Das prägt die Gesellschaft bis heute und macht den Menschen Angst. Außerdem muss man sich natürlich mit seiner eigenen Sexualität auseinandersetzen, um darüber zu sprechen. Das ist für alle herausfordernd. Viele Menschen haben negative Erfahrungen mit Sexualität gemacht und wollen ihre Kinder davor schützen. Aber das gelingt eben nicht, indem wir bis zur Pubertät so tun, als gäbe es das Thema nicht. Und da sind wir wieder beim Anfang: Täter und Täterinnen machen sich diese Sprachlosigkeit der Gesellschaft zunutze.


Wie sind die Rückmeldungen von Eltern?

Bei Elternabenden gibt es häufig eine große Dankbarkeit. Das schafft Sicherheit und einen Raum für Fragen. Ansonsten passiert es eher, wenn sie verunsichert sind. Ich erinnere mich an eine sehr aufgeregte Mutter, die mich anrief und fragte, ob wir mit den Viertklässler:innen über Analsex gesprochen hätten. Ich kannte die konkrete Situation nicht, konnte aber sagen, dass wir das nicht einfach so machen, aber auf Fragen der Kinder eingehen. Denn wenn wir das nicht tun, fragen die Kinder Gleichaltrige oder googeln. Und was ist jetzt besser: Wenn Google oder eine ausgebildete Fachkraft ihnen etwas dazu erzählt? Gleichzeitig habe ich die Frau bestärkt. Denn es ist ein tolles Zeichen, wenn die Tochter sich an sie wendet, wenn sie von etwas verunsichert ist, gerade im Bereich der Sexualität. Das zeigt, dass sie Vertrauen hat und sich vermutlich auch an ihre Eltern wenden wird, wenn Übergriffe passieren sollten.


Mit welchen Fragen wenden sich Fachkräfte am häufigsten an Sie?

»Was ist normal?« ist vermutlich die meistgestellte Frage. Aber auch: »Was dürfen wir zulassen?«, »Wo muss man Grenzen setzen und welche Regeln braucht es?« oder »Wie kann man das an die Eltern kommunizieren?«. Fachkräfte wissen, dass Kinder sich auch mal gegenseitig in die Hose schauen, weil sie neugierig sind. Dafür ist es wichtig, dass es einen Umgang damit gibt und dieser den Kindern beigebracht wird. Sie bekommen den ganzen Tag Regeln mit, nur im Bereich der Sexualität nicht, außer, dass man nicht darüber spricht. Aber dann machen sie es eben heimlich und im Heimlichen steigt die Wahrscheinlichkeit für Grenzverletzungen und Übergriffe. Trotzdem ist das bis heute nicht oder kaum Teil der Erzieher:innenausbildung.


> www.lustvolllernen.de


Kommentieren


0 Kommentar(e)