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Stadtleben

Leerstellen im Lehrplan

Kinderschutz ist im Lehramtsstudium nicht verpflichtend – an der Uni Leipzig setzt sich eine AG für das Thema ein

  Leerstellen im Lehrplan | Kinderschutz ist im Lehramtsstudium nicht verpflichtend – an der Uni Leipzig setzt sich eine AG für das Thema ein  Foto: Symbolbild/Pixabay


Gegen die Fenster der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät in der Jahnallee schlagen vereinzelte Regentropfen. Im kleinen Konferenzzimmer im dritten Stock sitzen vier Mitglieder der AG Kinderschutz an einem ovalen Tisch. Es gibt Sprudelwasser mit Zitronengeschmack. Die AG hat sich vorgenommen, das Thema Kinderschutz in der Lehrkräfteausbildung zu stärken. Und kämpft damit gegen eine Leerstelle im Lehrplan. Wer sich mit Kinderschutz in seinem Studium beschäftigt, macht das bisher meist freiwillig. Eine verpflichtende Auseinandersetzung mit dem Thema wird es wohl auch in Zukunft nicht geben.

Dabei sind Studierende regelmäßig schon während ihrer insgesamt fünf Praktika vor dem ersten Staatsexamen mit Kindeswohlgefährdung konfrontiert, erzählt Jakob Heuschmidt, der am Institut für Förderpädagogik Lehrkraft für besondere Aufgaben ist. Als Betreuer von Praktikantinnen und Praktikanten habe er sich regelmäßig mit Fällen von Kindeswohlgefährdung auseinandersetzen müssen. »Da fängt man dann an, rumzutelefonieren und zu überlegen: Wen kontaktiert man zu welchem Zeitpunkt und wen gerade nicht?«, sagt Heuschmidt. Vor einigen Jahren habe ihn eine ehemalige Studentin dann angesprochen: »Sie kam auf mich zu und meinte, sie würde gern an der Uni eine AG ins Leben rufen. Da konnte ich nicht nein sagen.«

Keine rechtliche Grundlage

Ziel der AG, die bisher ehrenamtlich arbeitet, sei es zu Beginn gewesen, Kinderschutz an der Uni zu institutionalisieren. Nicht nur in Form der AG selbst, sondern auch als Vorlesungsinhalt. »Wir als Fakultätsleitung haben dann gesagt: Wir sind nicht der richtige Ansprechpartner«, sagt Prodekanin Conny Melzer, die seit Anfang des Jahres ebenfalls Teil der AG ist und das Grundproblem benennt: »Es gibt die Lehramtsprüfungsordnung I (LAPO I) und da steht genau drin, was zu thematisieren ist in der Lehre. Und da steht nichts von Kinderschutz.«

Die Wahrnehmung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus (SMK) von Conrad Clemens (CDU) scheint sich maßgeblich von jener der Dozierenden zu unterscheiden. Das geht aus einer Anfrage des kreuzer an das Ministerium hervor. Auf die Frage, ob das SMK den Kinderschutz ausreichend im Studium thematisiert sehe, antwortet Ministeriumssprecher Tilo Schumann: »Kinderschutz ist bereits in allen drei Phasen der Lehrkräftebildung fest verankert.« Also im wissenschaftlichen Studium, im Referendariat und in der Fortbildung bereits ausgebildeter Lehrkräfte. Das deckt sich mit der Einschätzung des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) von Sebastian Gemkow (CDU), das für die erste Phase der Lehrkräfteausbildung, also das wissenschaftliche Studium, mitverantwortlich ist.

SMWK-Sprecher Falk Lange schreibt dem kreuzer, dass das SMK mit der LAPO I den Rahmen des Studiums festschreibe. Zwar plant das SMK aktuell eine Überarbeitung der LAPO, ein großer Wurf für den Kinderschutz ist jedoch nicht zu erwarten: »Hier zielen die bisherigen Überlegungen nicht auf eine umfassende Reform, sondern auf notwendige strukturelle Anpassungen«, schreibt SMK-Sprecher Schumann, lässt aber eine Tür offen: »Es wird aber einen breiten Diskussionsprozess inklusive Stellungnahme-Verfahren geben.« Laut Lange stehe das SMWK mit dem Kinderschutzbund Sachsen im Austausch, der den Kinderschutz in der Lehrkräfteausbildung stärken will. Und: Am Ende obliege die konkrete Ausgestaltung der Studieninhalte ohnehin den Hochschulen.

Kein Platz im Studium

Doch in der Praxis stellt das die Lehre vor Probleme. Ohne gesetzlichen Rahmen fällt Kinderschutz zu häufig hinten runter – denn der Lehrplan ist voll, Extras müssen irgendwie reingequetscht werden. Und der Kinderschutz konkurriert dabei mit anderen Themen. Inklusive Bildung, Künstliche Intelligenz, Digitalisierung – die Entwicklungen der letzten Jahre in der Lehre abzudecken, ohne den Umfang zu sprengen, ist die große Herausforderung. Deshalb könne sie auch keine Dozierenden verpflichten, Kinderschutz in ihren Veranstaltungen zu behandeln, sagt Melzer. Zwar gebe es schon heute Dozierende, die aufgrund eigener Berührungspunkte das Thema aufgriffen, sagt sie, »aber eher nicht systematisch«.

»Wenn man Glück hat!«, wirft Franziska Greiner-Döchert von der anderen Seite des Tisches ein. Greiner-Döchert bildet Lehrkräfte für Grundschulen weiter. Sie stellt nicht nur bei angehenden Lehrkräften eine Verunsicherung fest, sondern auch bei den Dozierenden selbst. »Und das ist genau der Knackpunkt«, sagt Jakob Heuschmidt. »Bei Kindeswohlgefährdung gibt es ein unfassbar großes Dunkelfeld von nicht entdeckten Fällen, was natürlich unter anderem auch daran liegt, dass Personal nicht ausreichend geschult ist.«

Anfänge

Unter diesen Rahmenbedingungen versucht die AG, die Lehre trotzdem zu verbessern. Das Zentrum für Lehrer:innenbildung und Schulforschung (ZLS), eine institutsübergreifende Schnittstelle, veranstaltet künftig einmal im Jahr eine Informationsveranstaltung zum Kinderschutz, die Studierende schon vor ihrem ersten Praktikum vorbereiten soll. »Lehramtsstudierende im Praktikum sind keine Zuschauer, sondern Teil des pädagogischen Alltags – Kinderschutz geht auch sie etwas an«, sagt Daniela Münch vom ZLS. Zusätzlich entwickelte das ZLS eine Internetseite mit einem Leitfaden zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung sowie einen Flyer. Herzstück der bisherigen Arbeit ist ein Foliensatz, den die AG erstellt hat und den Dozierende nun in ihre Vorlesungen einbauen können – freiwillig.

»Ich glaube, es ist ein sehr guter erster Aufschlag«, sagt Conny Melzer. »Aber es ist überhaupt nicht umfänglich klar, was wir da machen. Wir werden vermutlich nicht alle Studierenden erreichen.« Für Greiner-Döchert ist das bisher geleistete ein »erster Impuls, um das Thema überhaupt auf dem Schirm zu haben. Wir können aber auch nicht alles im Studium leisten«. Vielmehr müsse auch in den anschließenden Praxisphasen eine Vertiefung stattfinden. Wie groß der Nachholbedarf dort ist, wird an einem Detail deutlich: Anders als Kindergärten oder Horte sind Schulen in Sachsen nicht verpflichtet, ein Kinderschutzkonzept zu erstellen. Auch hier besteht bisher Freiwilligkeit. SMK-Sprecher Tilo Schumann verweist gegenüber dem kreuzer darauf, dass das Ministerium Schulen beim Erstellen von Schutzkonzepten unterstütze.

Langfristig hofft Greiner-Döchert auf mehr Unterstützung für ihre Profession: »Viel zu oft sind Lehrkräfte noch Einzelkämpfer.« Es brauche mehr multiprofessionelle Kooperation, also Zusammenarbeit mit anderen Berufsfeldern, »mit dem Kinderschutzbund, mit Ärzten oder der Jugendhilfe«. Diese Zusammenarbeit auch im Studium zu lehren, müsse das Ziel sein.


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