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Kultur

Vom wiederholten Verbergen

Die Ausstellung »Antitext« des Literaturmuseums Charkiw ist im Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu sehen

  Vom wiederholten Verbergen | Die Ausstellung »Antitext« des Literaturmuseums Charkiw ist im Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu sehen  Foto: Britt Schlehahn


Seit über 1250 Tagen herrscht Krieg in der Ukraine. »Russland führt diesen ungerechten Eroberungskrieg, um uns auszulöschen. Welche Möglichkeiten hat die Literatur, wenn es um Dunkelheit und Zerfall geht? Krieg ist eine Situation maximaler Entstellung, vollkommener Verwerfung.« Das sagte der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Serhij Zhadan (*1974), der in Charkiw lebt, in seiner Dankesrede am 25. Juli anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur in Salzburg. Seine Rede endete mit den Worten: »Es ist wichtig für uns, sprechen zu können. Aber es ist nicht weniger wichtig, nicht nur gehört, sondern auch verstanden zu werden. Denn die Sprache, in der heute in der Ukraine Bücher geschrieben werden, ist die Sprache von Menschen, die versuchen, ihr Leben und ihre Würde, ihre Stimme und ihr Recht zu sprechen zu verteidigen. Das heißt, das Recht, Zeugnis abzulegen und zu lieben. Manchmal reicht das aus, um dem Bösen zu widerstehen.«

Eine andere Art, um mit Literatur und dem Kriegsalltag umzugehen, zeigt die Künstlerin Dina Tschmusch in Charkiw. Auf Spanplatten, die unzählige durch russische Angriffe zerstörte Fensterscheiben ersetzen, schreibt sie Gedichte. Sie begann 2022 mit klassischen und zeitgenössischen Texten von ukrainischen Autorinnen und Autoren. Für sie bildet diese Auswahl einen Verweis auf die teils vergessenen Texte zur ukrainischen Identität.

Wie und wann ukrainische Texte verborgen wurden und werden, zeigt die Ausstellung »Antitext«, die noch bis zum 7. August im Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu sehen ist. Organisiert vom Literaturmuseum Charkiw sind leere Vitrinen, leere Wände zu sehen. Stattdessen finden sich in der Mitte des Raumes hohe Stellwände, die die Geschichte der ukrainischen Literatur im 20. Jahrhundert ausschnitthaft nachzeichnen. Sie fragen zudem wie Zensur – ob von Institutionen verlangt oder aus Schutz vor Repressionen persönlich praktiziert – auf das kulturelle Gedächtnis der Ukraine bis in die Gegenwart wirkt und was wie vor dem Vergessen gerettet werden kann.

1988 entsteht das Literaturmuseum in Charkiw, in der zweitgrößten Stadt der Ukraine, 30 Kilometer von der heutigen russischen Grenze entfernt, 1,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner leben hier im Januar 2022.

Anfangs teilte sich das Museum ein Gebäude mit dem Geheimdienst. Nach 1991 verschwand dieser – das Museum blieb. Den Grundstock bildet das Archiv des Schriftstellers Iwan Dniprowsky aus den zwanziger Jahren. Eine der ersten Museumsausstellungen thematisierte die ermordeten Schriftsteller, Komponisten und Literaturkritiker in den Jahren der sowjetischen Repression. Diese Generation der »erschossenen Renaissance«, die dem sozialistischen Realismus andere künstlerische Ausdrucksweisen zur Seite stellten, wohnte zuvor zum großen Teil im Slowo-Haus in Charkiw. Slowo – das Wort – eröffnete 1929 und wurde auf Initiative von Schriftstellern gebaut. Charkiw, bis 1934 Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, verfügte so über ein Haus mit fünf Etagen für Schreibende und andere Kunstschaffende samt deren Familien in über 60 Wohnungen mit Zentralheizung, Telefonanschluss und einer Sonnenterrasse auf dem Dach. Die erste Verhaftung fand dort 1931 statt. Über 33 Menschen aus dem Literaturfeld wurden in der Zeit bis Mitte der 1930er-Jahre entweder hingerichtet oder brachten sich selbst um aus Angst vor Repressionen. Seit 2003 erinnert eine Gedenktafel am Haus an die ersten Bewohnerinnen und Bewohner, seit 2019 zählt es als Denkmal. Das Museum nutzt eine Wohnung als Künstlerresidenz und Veranstaltungsort. Allerdings blieb auch dieses Gebäude im Angriffskrieg nicht unbeschädigt.

Die Museumsausstellung wurde am 24. Februar 2022 mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges geschlossen. Ein Teil – wie historische Bücher, Manuskripte, Zeitungen und Fotografien – wurden in Kisten verpackt und an einen geheimen Ort außerhalb des Landes gebracht. Die Wanderausstellung, die nun Station in Leipzig macht, erzählt davon, wie sie auch Biografien vorstellt. Etwa die von Wiktor Petrow (1894-1969) und all seinen Widersprüchlichkeiten. Petrow gilt als Begründer des intellektuellen ukrainischen Romans, gleichzeitig gibt es Vermutungen, dass er ein Tscheka-Spitzel oder Nazi-Kollaborateur war.

Die Ausstellung stellt nicht nur wichtige Epochen und Personen der ukrainischen Literaturgeschichte vor, sondern zeigt auch die vielen Aspekte von Erinnerungskultur und wirft die Frage auf, was wie gerettet wird, um Zugang zum kulturellen Gedächtnis zu finden. Zur Finissage am 7. August liest Olga Volyuska aus ihrem Buch »Wie der Krieg uns verändert« auf Ukrainisch mit deutscher Simultanübersetzung.


> »Antitext«: bis 7.8., Deutsches Buch- und Schriftmuseum, Deutscher Platz 1, 10-18 Uhr

www.proslovo.com> Informationen über das Haus Slowo und die Menschen finden sich auf der Homepage:


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