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»Mit dem breitesten Sächsisch wirst du nicht gewählt«

Die Grünen-Politikerin Paula Piechotta über die Ost-Quote und die neuen Pläne ihrer Partei

  »Mit dem breitesten Sächsisch wirst du nicht gewählt« | Die Grünen-Politikerin Paula Piechotta über die Ost-Quote und die neuen Pläne ihrer Partei  Foto: Paula Piechotta in ihrem Wahlkreis/Christiane Gundlach

Paula Piechotta schließt die Tür von ihrem Abgeordnetenbüro auf der Karli schnell wieder. Der Lärm der Baustelle dröhnt trotzdem hinein. In der Sommerpause konnte die Grünen-Bundestagsabgeordnete mehr Zeit in ihrem Wahlkreis verbringen. Aber die Maskenaffäre um Jens Spahn rief sie immer wieder in die Hauptstadt. Piechotta ist zum Gesicht des Untersuchungsausschusses gegen den ehemaligen CDU-Gesundheitsminister geworden. Und auch Raumfahrtministerin Dorothee Bär (CSU) knöpfte sie sich vor. Als Bär vom ersten Westdeutschen im All sprach, erinnerte Piechotta an den vergessenen Sigmund Jähn – ein Ostdeutschen – der bereits fünf Jahre früher, nämlich 1978 ins Weltall geflogen war. Mit dem kreuzer spricht sie darüber, warum sich auch ihre eigene Partei in ihrer Heimat so schwertut und was sie von Plänen ihrer Parteispitze hält, im Osten wieder Fuß zu fassen.

Was denken Sie, wie viele Abgeordnete aus ihrer eigenen Bundestagsfraktion kannten vor 3 Monaten Sigmund Jähn?

Natürlich alle, ganz vorbildlich. (lacht) Ich kann es Ihnen ehrlicherweise nicht sagen. Aber nach der Debatte im Bundestag, mit Doro Bär, Sigmund Jähn und mir, kam eine Ostkollegin aus der SPD zu mir und meinte: »Danke. Auch für die Leute von der Union, die werden ja noch mehr untergebuttert als wir.«

So schlimm steht es um die Abgeordneten aus dem Osten?

Egal ob in der SPD, in der Union oder bei uns: Seit der letzten Bundestagswahl merken wir, dass wir wieder mehr kämpfen müssen. Das liegt auch daran, dass wir Ostdeutschen in den demokratischen Parteien weniger geworden sind. Nicht nur aufgrund der Bundestagsverkleinerung, sondern auch wegen der AfD-Ergebnisse. Wir können weniger einfordern, das zieht sich durch alle Parteien durch und langsam wächst der Unmut.

Das klingt widersprüchlich. Diese AfD-Wahlergebnisse müssten ja eigentlich dazu führen, dass mehr auf die Ost-Abgeordneten gehört wird.

So funktioniert Politik ja nicht. Das ist denen im Endeffekt komplett egal. Da geht’s darum, wie viele Stimmen und wie viel Macht hast du.


Wem ist das egal?

Vielen anderen. Man ist als Ostdeutscher im Bundestag immer in der Minderheit. 2021 waren die ostdeutschen Landesgruppen stärker und konnten mehr Forderungen stellen. Jetzt ist es eher so, dass viele denken: Auf die paar Ostdeutschen soll ich noch Rücksicht nehmen? Insbesondere in Union und SPD gibt es viele, die sagen, im Osten werden wir nie wieder auch nur einen Blumentopf gewinnen.


Diese Stimmen gab es aber auch in Ihrer Partei.

Das war 2017, als die AfD bei der Bundestagswahl in Sachsen stärkste Kraft wurde. Dagegen haben wir innerparteilich sehr, sehr viel gearbeitet und angefangen, als ostdeutsche Grüne geschlossen für unsere Interessen einzutreten. Zwei Jahre später sind dann Robert Habeck und Annalena Baerbock im Landtagswahlkampf durch die mittleren Städte im Osten getourt und das war gut. Jetzt befürchten wir einen Rückfall.


In diesem Sommer war der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak auf Ost-Tour. Man hat den Eindruck, jetzt muss erst der Chef vorbeikommen, damit die Grünen den Osten verstehen. Schaffen das die Ost-Grünen nicht selbst?

(lacht) Es ist total wertschätzend, dass er hier so viel Zeit verbringt. Gleichzeitig lauert dahinter immer die Gefahr, dass sich der Eindruck der Westpartei dadurch noch verstärkt. Ich glaube, dass man dabei immer zeigen sollte, dass es viele ostdeutsche Grüne hier vor Ort gibt. Da sind Felix Banaszak und ich gar nicht so unterschiedlicher Meinung. Bei einer Ost-Quote sind wir es schon.


Liest man die verschiedenen Impuls-Papiere aus Ihrer Partei, wie die Grünen jetzt zu retten sind, entsteht der Eindruck, Sie müssen einfach mehr auf soziale Gerechtigkeit setzen, besser kommunizieren, öfter vorbeischauen – und dann wird es irgendwie wieder.

Wichtig ist, dass wir Akteure haben, die die Sprache von hier sprechen. Dass wir als ehrlich und authentisch wahrgenommen werden und dafür brauchst du am Ende Leute, die von hier sind. Da ist unser Personal aktuell nicht optimal aufgestellt. Was zum Beispiel Arbeiterkinder angeht, ist Luft nach oben da. Gleiches gilt für Ostdeutsche.


​20 Prozent der Macht für Ostdeutsche. Auch in meiner Partei.


Deshalb fordern Sie eine Ost-Quote?

Ja, wir haben uns das jetzt 35 Jahre angeschaut. Ostdeutsche sind weiterhin massiv unterrepräsentiert, wir haben ungefähr 20 Prozent Bevölkerungsanteil und an den gesamtdeutschen Eliten nur ungefähr 10 bis 12 Prozent. Selbst in den ostdeutschen Bundesländern sind Ostdeutsche in den Eliten unterrepräsentiert. Nach 35 Jahren muss man sagen: Es ist nett, dass ihr den Osten mitdenkt. Es ist nett, dass ihr der Meinung seid, der Osten ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Aber wenn das eben nicht dazu führt, dass am Ende auch Ostdeutsche gemäß ihres Bevölkerungsanteils repräsentiert sind, dann braucht man etwas, das sicherstellt: 20 Prozent der Macht für Ostdeutsche. Auch in meiner Partei.


Was hat für Sie als Ostdeutsche denn die Grünen attraktiv gemacht?

Ich bin 2010 in Thüringen beigetreten, weil ich furchtbare Erfahrung mit dem Gesundheitswesen gemacht hatte. Gesundheitspolitik macht man eher bei der SPD, aber da waren nur Männer. Außerdem waren die damals noch für die Kohleverstromung und meine Großeltern haben in der Nähe von Ronneburg gewohnt, dort gab es große Uran-Abraumhalden. Als ich dort in den Neunzigern Kind war, sind noch unglaublich viele ehemalige Wismut-Bergleute an Lungenkrebs gestorben wegen der Strahlenbelastung. Meine Eltern standen der DDR sehr kritisch gegenüber. Dann geht man tendenziell auch in eine Partei, die der DDR sehr kritisch gegenübersteht. Ich habe viel mit Kollegen der Linken über ihre Parteiwahl gesprochen. Deren Eltern waren meistens DDR-Facharbeiter, für die ‘89 eher scheiße gelaufen ist als gut. Das zieht sich bis heute durch, dass du bei uns tendenziell Menschen hast, deren Familien durch den Zusammenbruch der DDR besser leben konnten.


Bündnis 90, also das Erbe der Bürgerrechtsbewegung, scheint für viele Grüne eher ein unwichtiges Anhängsel zu sein als Kernidentität. Die Partei wird als sehr westdeutsch wahrgenommen. Wie groß ist denn innerparteilich die Distanz zwischen West und Ost?

Mit NRW gibt einen Landesverband, der hat Bündnis 90 aus seinem Namen gestrichen und aus seinen Logos. Das gab damals große Empörung. In den ostdeutschen Landesverbänden, gerade hier in Leipzig, sind wir sehr stark mit der Bürgerrechts-Tradition verbunden. Dass wir als westdeutsche Partei wahrgenommen werden hat ja auch viel mit Zuschreibungen von außen zu tun. Aber spannend ist, dass wir lange eine deutlich bessere ostdeutsche Repräsentation hatten, mit Katrin Göring-Eckardt oder Steffi Lemke – die aber lange nicht viel über Ostdeutschland reden konnten, weil sie ja mehrheitsfähig in der gesamten Partei sein mussten.


Warum fehlen diese Gesichter jetzt?

Mit dem breitesten Sächsisch wirst du auf dem Bundesparteitag bei uns, bei der SPD oder der Union nicht gewählt, mit Schwäbisch schon. Ostdeutsch sein musst du eher kaschieren. Das ist ein grundsätzliches Problem für ostdeutsche Politik. Menschen wollen sich mit dir identifizieren, wollen sehen und hören, dass du einer von ihnen bist. Aber wenn du in der Bundesrepublik mehrheitsfähig sein willst, dann passt du dich möglichst stark an. Michael Kretschmer ist genau den anderen Weg gegangen, weil er als Ministerpräsident versuchen musste, die Leute einzusammeln. Ich bin kein Kretschmer-Fan, aber Kretschmer im Bundestag war ein komplett anderer Mensch: super geschmeidig und super unproblematisch. Umso mehr er versucht hat, in Sachsen mehrheitsfähig zu sein, umso spezieller wurden sein Auftritt und seine Position und umso weniger war er es bundesweit mehrheitsfähig.


Muss es dann nicht eine grüne Ostpartei geben, die viel stärker diese Besonderheiten in ihren Bundesländern vertritt? Die Sachsen-Union ist ja auch eine ganz andere Partei als die NRW-CDU.

Auf jeden Fall. Wir müssen mehr regionale Spannbreite zulassen. Das können auch wir schaffen, wenn wir nicht versuchen, für jedes Bundesland das gleiche Rezept zu haben, sondern in Sachsen anders reden als in NRW oder Bayern.

Wir machen eine harte, aber notwendige Oppositionsarbeit gegenüber der CDU.

Sie wollen CDU-Wähler von den Grünen überzeugen. Warum?

Du wirst im Osten nur gute Politik machen können, wenn du wieder bessere Mehrheiten hast. Wir sehen ja gerade diese katastrophale Situation im Sächsischen Landtag, der Monate braucht, um einen Haushalt zusammenzuzimmern. Um daran etwas zu ändern, reicht es halt nicht, wenn wir der SPD zwei Prozent abluchsen oder der Linken, damit ändert man unter dem Strich nichts an den Mehrheiten. Bessere Mehrheiten gibt es nur, wenn man zusätzliche Wähler zurückholt.


Wie wollen Sie denn CDU-Wähler ansprechen?

Ich beschäftige mich ja gerade sehr viel mit Jens Spahn.


Sie gelten in der Maskenaffäre als seine entschiedenste Widersacherin.

Wir machen eine harte, aber notwendige Oppositionsarbeit gegenüber der CDU. Weil die einfach sehr viel Mist bauen und weil der Verdacht der Korruption besteht. CDU-Minister haben sehr viel Steuergeld der Menschen in diesem Land aus dem Fenster geworfen. Wir sehen, dass dadurch die Werte der CDU massiv zurückgehen, ohne dass SPD, Linke oder wir bislang davon profitieren. Die Menschen sind nach 100 Tagen super unzufrieden mit dieser Regierung und trotzdem kommen sie nicht zu anderen demokratischen Parteien. Wenn wir dafür keine Lösung finden, dann wird es absehbar auch auf Bundesebene keine ordentlichen Mehrheiten mehr geben.


Im Zweifel wählen Menschen aber vielleicht trotzdem CDU, um einen AfD-Wahlsieg zu verhindern – wie bei der letzten Landtagswahl.

Menschen sagen vielleicht ein oder zweimal, ich wähle gegen meine Überzeugung die CDU. Dann sehen sie aber, dass mit ihrer Stimme Politik gegen sie gemacht wird: Michael Kretschmer hat einen Kürzungshaushalt vorgelegt, der den sächsischen Breitensport, die Feuerwehren und die Kultureinrichtungen gefährdete – also gegen die Interessen der Wähler entscheidet, die ihn nur dafür gewählt haben, dass die AfD nicht die stärkste Partei wird. Das taktische Wählen wird nicht so weitergehen, weil Leute merken, dass es keine Probleme löst.


Trotzdem scheinen Inhalte aktuell weniger zu zählen als eine gesellschaftliche Stimmung, die aktuell auch eine Anti-Grünen-Stimmung ist.

Es gibt auch Gegenbeispiele. Das BSW ist grandios nach oben gegangen und dann auch wieder relativ krass auf den Boden der Tatsachen gelandet. Und ansonsten ist es natürlich so, dass man gerade sehr stark merkt, dass selbst unsere Wähler, die immer so super differenziert sind und die Die Zeit lesen, von der aktuellen Gesamtsituation auf der Welt einfach überfordert sind. Und umso überforderter du bist, umso einfachere Antworten findest du attraktiv.


Bei der Linken zeigt der Trend nach oben. Liefert die Partei aktuell die eindeutigeren, einfacheren Antworten?

Einfachere Antworten ja, aber ehrliche oder bessere nicht. Wir können nicht darauf verzichten, dass wir eine Partei im Bundestag haben, die tatsächlich die Regierung kontrolliert und nicht nur auf maximale Außenwirkung geht, wie es die Linke tut. Sonst würde noch viel mehr Mist passieren. Wenn ich zum Beispiel im Haushaltsausschuss Jens Spahn zu den Maskendeals befragt habe, stellt die AfD sechs Fragen, die Linke zwei und ich die restlichen 30. Irgendjemand muss ja die Arbeit machen.


Manchmal geht es aber auch einfach darum, die Lebensrealität der Menschen spürbar zu verbessern. Da hat die Linke in Leipzig mit ihrem Mietenrechner vorgelegt.

Der Mietenrechner war ja erst mal eine große PR-Aktion, wo Leute Mietwucher melden konnten und dann ist lange nichts passiert. Am Ende brauchten sie auch die Verwaltung, um darauf reagieren zu können. Die Linke war in der absoluten Todeszone nach der letzten Europawahl und musste sich einmal komplett neu erfinden. Und dann hat sie sich auf drei Themen gestürzt, die sie schwerpunktmäßig bearbeitet – und sonst nichts. Wir haben den Anspruch, Lösungen für alles anzubieten.


Im Impulspapier der Parteispitze steht auch, dass sich die Grünen kurzfristig auf Orte konzentrieren müssen, wo sie jetzt schon verankert sind. Wie wichtig ist es denn, dass die Grünen in Leipzig den nächsten Oberbürgermeister oder die nächste Oberbürgermeisterin stellen?

Das Schicksal der Grünen entscheidet sich nicht an der Leipziger OBM-Wahl. Aber natürlich ist es so, dass die urbanen Zentren im Osten super wichtig sind, weil das ganz wichtige Zufluchtsorte im Osten sind, die auch politisch andere Mehrheiten und Möglichkeit bieten, dass junge, zum Beispiel queere Menschen aus Bautzen nicht nach Köln ziehen müssen oder nach Berlin, sondern nur nach Dresden oder Leipzig – so können sie im Osten bleiben. Kommunalwahlen in Dresden oder Leipzig entscheiden damit auch darüber, ob diese großen Städte weiter solche safe spaces für Minderheiten im Osten sind. Im ersten Wahlgang sollten wir dabei die Breite der Kandidierenden der fortschrittlichen Parteien haben, denn drei Kandidierende werden immer mehr Wähler zusammen ansprechen als einer allein. Wer schon im ersten Wahlgang einen gemeinsamen Kandidaten aufstellt, spricht automatisch weniger Wähler an und hilft damit nur der AfD.


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