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Stadtleben

»Schulklassen sind nur im Alter homogen«

Julika Prantner-Weber und Pauline Seuß wollen pädagogische Fachkräfte in der Demokratiebildung unterstützen

  »Schulklassen sind nur im Alter homogen« | Julika Prantner-Weber und Pauline Seuß wollen pädagogische Fachkräfte in der Demokratiebildung unterstützen  Foto: Christiane Gundlach

Kulturwissenschaftlerin Pauline Seuß (PS) und Sexualwissenschaftlerin Julika Prantner-Weber (JPW) gründeten im Februar 2025 das »Bildungsinstitut für inklusive Vielfalt«. Seuß war jahrelang in der Demokratiebildung und Rechtsextremismus-Präventionsarbeit an Schulen in Sachsen tätig, Prantner-Weber in der Praxis des Queeren Bildungs- und Beratungsvereins Rosalinde Leipzig aktiv. Gemeinsam stellten sie fest, dass Präventionsarbeit nicht mehr ausreicht. So entwickelten sie ihr erstes inklusives Bildungsmaterial »Lasst uns …!«, um pädagogische Fachkräfte in Demokratiebildung fortzubilden und zu sexueller, romantischer und geschlechtlicher Vielfalt zu sensibilisieren.

Aus welcher Not gründeten Sie das Bildungsinstitut?

PS: Ich habe mich gefragt: Was bringt das Ganze noch? Ein Schulprojekt im Jahr ist toll und hilfreich, aber was passiert den Rest des Jahres? Ich hatte das Gefühl, ich werde zum Brandlöschen geholt, weil Lehrpersonen sich oft selbst nicht zutrauen, Diskriminierung im Unterricht zu begegnen. Das wird dann einmal im Jahr an Außenstehende weitergegeben. Demokratiebildung ist Pflicht für Lehrerinnen und Lehrer. Wir arbeiten daran, wie das wieder, am besten selbstsicher, das ganze Schuljahr funktionieren kann.

JPW: Es wird von Lehrkräften erwartet, dass sie alles wissen und immer gut reagieren können. Das Klassenzimmer ist der Spiegel unserer Gesellschaft: Was im politischen Diskurs stattfindet, diskriminierende Aussagen, Stereotype bis hin zu Verschwörungstheorien finden genauso dort statt. Gleichzeitig muss man unterrichten. Und da herrscht große Unsicherheit. In den Begleitmaterialien geben wir so viel Sicherheit wie möglich mit auf den Weg und nehmen die pädagogischen Fachkräfte an die Hand.


Wie kann mit dem Material konkret gearbeitet werden?

PS: Es soll das empathische Verständnis und Wissen von Jugendlichen zu sexueller, romantischer und geschlechtlicher Vielfalt stärken. Gleichzeitig hat es umfangreiches Begleitmaterial, damit sich pädagogische Fachkräfte sicher fühlen: in der inklusiven Anwendung und wenn es zu Diskriminierung kommt. Wir gehen davon aus, dass jede Lerngruppe in sich divers ist. Schulklassen sind nur noch homogen in Bezug aufs Alter. Vorwissen, Sprache, Hören und Sehen, das sind alles unterschiedliche Fähigkeiten. Wir wollen Material in die Lerngruppe mitbringen, an dem man kleine Stellschrauben drehen kann, um es möglichst für alle anwendbar zu machen. Das heißt, nicht tausend Materialien in einem riesigen Koffer mitzunehmen, sondern eins dabeizuhaben und das leicht anwendbar für alle zu machen.

JPW: Auf den Karten sind alltagsnahe Situationen und Charaktere zu sehen, über die in der Klasse gesprochen wird. Es geht um junge Charaktere, über die wir sprechen und mit denen wir uns identifizieren können, gleichzeitig geht es auf der Meta-Ebene um alle im Raum.


Welche Lücke füllt das Bildungsmaterial?

JPW: Wir geben den Fachkräften im wahrsten Sinne etwas in die Hand, um Lernen inklusiv zu gestalten und dem pädagogischen Alltag handlungssicherer zu begegnen, gerade wenn es um Diskriminierung geht.

PS: Coming Outs, aber auch diskriminierende Aussagen passieren alltäglich. Es braucht deshalb auch alltäglich anwendbare Werkzeuge.


Was macht das Material inklusiv?

PS: Oft werden verschiedene Fähigkeiten, wie Sprache, Kognition und Sozialverhalten der Lernenden, nicht mitgedacht. Unser Material basiert auf dem Universal Design for Learning (UDL), einem innovativen Bildungs- und Inklusionstool, bei dem sich das Lernumfeld an die Lernenden anpasst und nicht umgekehrt. Zum Beispiel: Leo hat eine Lernbehinderung und muss selber schauen, wie sie mit dem Lernstoff und Tempo hinterherkommt. Beim UDL wird der Spieß umgedreht, indem man im Vornhinein schon schaut, wie Inhalt, Setting und Gegenstand so modifizierbar aufgebaut werden, dass alle mit unterschiedlichen Fähigkeiten gleichzeitig zu gleichen Themen lernen können.

JPW: Außerdem sind die Karten auf Rot-grün-Kontraste geprüft. Mit den Illustrationen wollen wir vielfältige Identifikationsmomente für Jugendliche schaffen. Ich finde, bei sexualpädagogischen Themen sind die Zeichnungen oft infantilisierend. Ich möchte, dass junge Menschen mit egal welcher Voraussetzung sich ernst genommen fühlen.


Und ihr plant weiteres Bildungsmaterial?

Seuß: Nach dem ersten Bildungsmaterial zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, wollen wir mit dem zweiten Bildungsmaterial das Vielfaltsthema »Umgang und Erfahrung mit Behindertenfeindlichkeit« in den Fokus stellen. Ein Thema, das uns alle angeht, aber leider kaum an Lernorten besprochen wird. Das wollen wir ändern und arbeiten an einem Bildungsmaterial, das das Thema empathisch und niedrigschwellig vermittelt.

Prantner-Weber: Wir wollen das Material ähnlich mit einer analogen und digitalen Variante mit Begleitmaterialien und Situationen aufbauen. Dabei liegt der Fokus auf Jugendliche mit Behinderungserfahrung, ob sichtbar oder unsichtbar.


Für die Finanzierung habt ihr euch für eine Crowdfunding-Kampagne entschieden. Wieso?

Seuß: Wir möchten regionale Druckereien unterstützen, die nachhaltig produzieren. Der Druck in Sachsen ist teuer, deswegen brauchen wir jetzt Unterstützung. Ich finde den Gedanken auch schön, dass solche Themen gemeinschaftlich umgesetzt werden: Wir haben die Idee, aber bei der Umsetzung sind durch die Kampagne viele beteiligt.

Prantner-Weber: Gleichzeitig gibt es die Möglichkeit über die Kampagne die Finanzierung für das erste Bildungsmaterial, für einen Bildungsort, zu übernehmen. Wir haben einige Bildungsorte auf unserer Kampagnenseite gelistet, die sich auf unseren Aufruf gemeldet haben. Aber man kann auch der Schule seiner eigenen Wahl eins ermöglichen. Es gibt auch kleinere Optionen der Unterstützung, wie zum Beispiel eine limitierte Auflage unserer Regelkarten, ein Spiel oder Kunstdrucke.


> Hier geht es zum Crowdfunding.


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