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Kultur

Animierte Erinnerung

»Memory Hotel« erzählt eine surreale Parabel auf die deutsche Nachkriegsgeschichte – handanimiert in 25 Jahren

  Animierte Erinnerung | »Memory Hotel« erzählt eine surreale Parabel auf die deutsche  Nachkriegsgeschichte – handanimiert in 25 Jahren  Foto: Filmstill »Memory Hotel«/Neue Visionen


Die fünfjährige Sophie und ihre Eltern stolpern in ein verlassenes Hotel, mitten im vom Krieg zerstörten Deutschland. Auf der Flucht vor der Roten Armee haben sie ein paar Kleidungsstücke und die Fahrkarten für ein Schiff nach Amerika im Gepäck. Doch dort sollen sie nie ankommen. Der sadistische Nazi Scharf lauert ihnen auf. Der Sowjetsoldat Wassili kracht in das Hotel. Die Eltern werden getötet. Sophie landet in der Obhut der Sowjets und wächst heran. In der Küche des Hotels ist sie für die Speisung der Soldaten verantwortlich. Doch immer wieder verschwinden Mahlzeiten, die der ehemalige Hitlerjunge Beckmann abzweigt, der sich in einem Zwischengeschoss versteckt. Und auch Scharf hat den Krieg überlebt und sinnt auf Rache.

Ein albtraumhaftes Szenario mit surrealem Einschlag entwarf der in der DDR geborene Berliner Puppenspieler und Animationsfilmregisseur Heinrich Sabl – und animierte seine Geschichte in mühevoller Handarbeit über einen Zeitraum von 25 Jahren. »Die Modelle der Wirklichkeit entsprachen meinem Ansatz, eine Situation zu schaffen, die wie ein Modell ist«, sagt Sabl, »und anhand dieser Modelle den Zeitenwandel von 1945 bis im Grunde genommen heute darzustellen. Daher schien mir die Stop-Motion-Technik am geeignetsten.« Mit einem kleinen Team gestaltete er über Jahre hinweg Bild für Bild veränderte winzige Details und fotografierte – 25 Mal für eine Sekunde Film. »Wir waren eine relativ kleine Gruppe, die sich in all den Jahren natürlich auch verändert hat, weil sich Biografien verändern. Dadurch musste immer einer zurückbleiben, und das war ich. Ich habe halt einfach immer weiter gemacht.« Dass es am Ende fast ein Vierteljahrhundert dauern würde, hätte Sabl auch nicht geahnt. »Es war sehr anstrengend, aber wenn man etwas gedreht hat – und manchmal habe ich für eine Sekunde zwei Wochen gebraucht – dann sehe ich diese Sekunde und dann hat man so ein Glücksgefühl, wenn es geklappt hat – das ist mit nichts zu vergleichen.«

In akribischer Kleinarbeit entwarf er ein Hotel im Niemandsland, ein mehrgeschossiges, metaphorisches Labyrinth der Erinnerungen und Abgründe, das für die Insassen zum Gefängnis wird. Das Hotel spielt eine Hauptrolle in »Memory Hotel« und ist gefüllt mit liebevollen Details. »Es ist ein metaphorischer Ort, eine Zwischenstation, die Menschen kommen und gehen, so wie Gesellschaften kommen und gehen«, formuliert es Sabl. Seine Geschichte spannt sich über viele Jahrzehnte hinweg. Anspielungen auf den Lauf der Zeit, den Akkord im Sozialismus, Produktivität und kollektive Disziplin, aber auch der harte und monotone Arbeitsalltag von Sophie sind ebenso wie der Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht im Osten Deutschlands zwischen den Wänden zu entdecken. Die zutiefst humanistische Geschichte der kleinen Sophie dominiert die politische Botschaft. Sabl wurde in Görlitz am Tag des Mauerbaus geboren, die deutsch-deutsche Teilung begleitete ihn durch sein Leben. Der Impuls für den Film kam schon mit dem Fall der Mauer und der Ernüchterung, die folgte. Hier sammelte Sabl erste Ideen, aus denen Jahre später der fertige Film entstehen sollte.

Als im Februar 2022 der Krieg gegen die Ukraine begann, änderte sich der Film noch einmal. »Damals hatte ich gedacht, er ist fertig – und dann habe ich noch einmal angefangen«, sagt der heute 64-jährige Regisseur. So wirkt sein Film trotz des historischen Settings brandaktuell und erzählt viel über die Sinnlosigkeit des Krieges.

Die Finanzierung für einen ernsthaften Animationsfilm für Erwachsene gestaltete sich schwierig. Mit Mitteln von ZDF, Arte, WDR sowie mit Fördermitteln unter anderem aus Sachsen konnte die langwierige Arbeit schließlich vollendet werden.

Im Animationswettbewerb beim letztjährigen Dok-Filmfestival in Leipzig feierte »Memory Hotel« seine Premiere und erhielt eine besondere Erwähnung. Für Sabl sei es fast unwirklich gewesen, den fertigen Film tatsächlich auf der Leinwand zu sehen. »Man verliert über so einen langen Zeitraum, in dem man am Film arbeitet, die Vorstellung, dass das überhaupt mal stattfinden kann. Als es dann soweit war, hat es mich fast erschlagen.« Sabl war überwältigt, empfand seinen Film als atemlos. In gewisser Weise ist seine Wahrnehmung richtig. »Memory Hotel« ist ein irrer Ritt mit Ecken und Kanten und weit von der Perfektion internationaler Produktionen mit hunderten Kreativen entfernt. Aber das Unperfekte und der unbändige Ideenreichtum verleihen ihm einen unnachahmlichen Charakter. Für Sabl ist es ein selbstloser Akt der Liebe und Leidenschaft, ein Lebenswerk.


> »Memory Hotel« (D 2025, R: Heinrich Sabl, mit den Stimmen von Dagmar Manzel, Milan Peschel, Milton Welsh, 101 Min.), ab 30.10., Passage-Kinos

> Doppelpremiere am 28.10., 18.30 Uhr, Passage-Kinos, 19.30 Uhr, Luru-Kino in der Spinnerei in Anwesenheit des Regisseurs


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