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Kultur

Jenseits der Schockeffekte

Liebe, Körper, Politik: Die Euro-Scene zeigt Chancen für zuschauende Selbstbefragung

  Jenseits der Schockeffekte | Liebe, Körper, Politik: Die Euro-Scene zeigt Chancen für zuschauende Selbstbefragung  Foto: Sarah Chelhot


»Bye, bye, Beauty« – Sprach’s und verhüllte sein Gesicht mit Klebeband. Unter den Streifen verschwanden dekorative Muster. In einem Abschminkritual verabschiedete sich Steven Cohen vor zwei Jahren vom Publikum der Euro-Scene. Das hatte er zuvor mit einer Gedenkperformance an seinen verstorbenen Partner in Atem gehalten. Nun ist er auf dem Festival zurück, das in diesem Jahr zum 35. Mal stattfindet. Neben ihm werden zwei Choreografie-Stars Schwerpunkte im Programm bilden. Mit »Love Body Politics« ist dessen inhaltlicher roter Faden überschrieben. Es geht also um das Verhältnis von Körper und Politik, wobei die Liebe das Brennglas bilden soll. Wie formt Liebe das leibliche Verständnis, kann sie Herrschaft etablieren oder Widerstand beflügeln? Und so fort.

»Verstörend«, »intim-anrührend«, »empörend« – so unterschiedlich fielen die Urteile der Leipziger über die Performances von Steven Cohen aus. Der hat vom Festivalleiter Christian Watty eine Carte blanche bekommen, kann also zeigen, was er möchte. Er kündigte an, sich dieses Mal vom Körper abzuwenden und mit Sprache dem Publikum zuzuwenden – was das Festivalmotto auf den Kopf stellt.

Der immer mal wieder aufkommenden Frage, was denn solche Provokationen sollen, ob Blut und Nacktheit unbedingt sein müssen, kann man nur antworten: It depends! Es hängt davon ab, ob die Wirkung mehr als bloßer Schockeffekt ist. Wenn diese Mittel etwas auslösen, dann nur zu. Radikale Konfrontationen zählten immer schon zu den Höhepunkten der Euro-Scene. Es ist an Ivo Dimchev zu erinnern, der mehrfach zu Gast war. Im Opern-Kellertheater etwa fügte er sich mit der Rasierklinge einen Cut zu, um eine ganz intime Situation zu erschaffen. Oder an Pippo Delbonos Vaganten-Theater, das 2010 mit brachial-poetischer Sozialkritik triumphierte. Wie ein Conférencier führte er durch eine Gratwanderung aus Revue und Freakshow nicht normkonformer Leiber, aus Tanztheater und Monologen, Burleske und Operette. Und nachdem die Socìetas Raffaello Sanzio unter anderem eine Christusikone mit Handgranaten bewerfen ließ, rang bei der Eröffnungsrede 2012 ein sichtlich derangierter Referent der CDU-geführten Staatsregierung mit den Worten.

Ein großer Tusch eröffnet das diesjährige Festival: In einer Koproduktion mit den Wiener Festwochen ruft das Performance-Kollektiv Caravan of LUV zum Woodstock 3.0. Nach zehn Jahren zurück ist Anne Teresa De Keersmaeker. Die gefeierte Choreografin hat eine Mitmachproduktion dabei, die sie bereits in ihrer belgischen Heimat erprobt hat. Bei »Slow Walk« bewegen sich Zuschauergruppen mit fünf Metern pro Minute durch die Innenstadt. So braucht man vier Stunden für eine der gut einen Kilometer langen Strecken. Das ändert die Perspektive, verspricht De Keersmaeker.

Auf hämmernde Geschwindigkeit hingegen setzt Manuel Roque. Der Euro-Scene-Neuling wird sich wohl in die Herzen des Publikums tanzen, wie er es andernorts schon getan hat. In »Bang Bang« legt der kanadische Tänzer ein Stakkato des Fußdribblings hin. Es geht in dem Duett um Konkurrenz und Solidarität, so sieht sich dieses Duell schön und zugleich absurd an. »Choreografien, die von wiederholten Bewegungen inspiriert sind, sind ein bisschen wie ein neuer ›Sacre du Printemps‹!«, erklärte Roque auf dem Antistatic-Festival in Bulgarien. »Aus genau diesem Grund habe ich zunächst gezögert, diesen Weg einzuschlagen. Andererseits wird man mit dieser Herangehensweise nie etwas schaffen, da man davon ausgeht, dass alles schon einmal gemacht und erfunden wurde. Es geht nicht um die Sprünge, sondern darum, was ich damit mache.«

In einem zweiten Stück ist Roque in entfesselter Körperlichkeit zu erleben, wenn er versucht, die Grenzen der Kultur zu sprengen und zum Naturphänomen zu werden. Andere Highlights werden sich für beinahe jeden Geschmack im Festival-Programm finden. Ein persönlicher Tipp: Das Lego-»Amazonen«-Stück für Kinder bis zwölf Jahre. Bei dem müssen die Eltern draußen bleiben, während das Publikum zum offenen Gespräch zwischen Gleichaltrigen ermuntert wird. Das erfüllt ganz die Bestimmung, welche die Euro-Scene einst für sich und die Avantgarde ausgab: »Sie liebt den Zuschauer, der sich anhand des Gesehenen und Gehörten selbst befragt.«

> Euro-Scene: 4.–9.11., versch. Orte, www.euro-scene.de


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