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Stadtleben

Im Team gegen den Krebs

Das Projekt »Krebs Campus« möchte Betroffenen zu mehr Eigenständigkeit verhelfen

  Im Team gegen den Krebs | Das Projekt »Krebs Campus« möchte Betroffenen zu mehr Eigenständigkeit verhelfen  Foto: Christiane Gundlach


Babett Baraniec lehnt noch am Geländer auf dem Treppenabsatz und blickt nach oben. Ihr Partner Sebastian Miedtank nimmt da schon die letzten Stufen zur Redaktion des kreuzer in der zweiten Etage. Wegen krebsbedingter Lungenembolien und Bestrahlungen sei ihre Lunge vernarbt und deswegen nicht mehr so leistungsstark, sagt Baraniec zwischen tiefen Atemzügen, als sie oben ankommt. Schnaufend betritt sie das Büro.

Vor über zwölf Jahren erkrankte sie an Leberkrebs. Ihre metastasierte Krebserkrankung sei chronisch, aber sie selbst »quicklebendig«, sagt Baraniec, nachdem sie und ihr Partner sich an einen Tisch in der Redaktion setzen. Mit Sebastian Miedtank gründete sie vor drei Jahren den Krebs Campus, eine unabhängige Online-Plattform zur Aufklärung über den Umgang mit Krebserkrankungen für Betroffene und Angehörige. Was die beiden nicht wissen: Noch am gleichen Tag erhalten sie dafür in Dresden von der Sinn-Initiative Sachsen den Publikumspreis.

Seit dem vergangenen Jahr verleiht die Sinn-Initiative Sachsen, ein sachsenweites Netzwerk, den Sinnovationspreis an Projekte, die gesellschaftliche Probleme innovativ angehen. Der von der EU geförderte Sinnovationspreis wird an sächsische Projekte verliehen, die den sozialen Zusammenhalt stärken. Eine Jury, bestehend aus Vertretenden von Stiftungen, Wohlfahrtsverbänden, Hochschulen, Wirtschaftsförderung, Kreativwirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen, wählte zehn Ansätze aus. Der Leipziger Krebs Campus setzte sich mit rund 1000 von insgesamt über 3.200 online abgegebenen Stimmen für den Publikumspreis durch. »Wir sind von Patienten, mit Patienten, für Patienten und bereit, selbst Verantwortung für unsere Therapie zu übernehmen«, sagt Baraniec, die kurz nach ihrer Krebsdiagnose ihre Promotion in Biologie ablegte. Im November 2022 gründeten sie den Krebs Campus, durch den sie Menschen, die selbst Krebs haben, zu mehr Wissen und Eigenständigkeit im Umgang damit befähigen wollen.

2012 diagnostizieren Ärzte zum zweiten Mal einen Tumor in Baraniecs Leber. Wie beim ersten Mal gehen sie davon aus, dass er gutartig ist, und entfernen ihn in einer Notoperation. Doch wenige Monate später entdecken die behandelnden Ärzte Metastasen in Baraniecs Bauchdecke – die vermeintlich harmlose Wucherung in der Leber versteckte Krebszellen in ihrem Inneren und wird zum Beginn eines langen Kampfes.

Heute hat Baraniec 15 Operationen hinter sich. Sie setzt sich für eine Veränderung der Sichtweise auf die Heilbarkeit von Krebserkrankten mit Metastasen ein. Anstatt Betroffene nur palliativ zu behandeln, den Fokus allein auf die Schmerzlinderung zu legen, fordert sie einen Ansatz, der ein langes und gutes Leben fördert. Mittlerweile gebe es Mittel und Wege mit einer chronischen Krebserkrankung älter zu werden – sie sei der beste Beweis dafür: »quicklebendig«, trotz ihrer Erkrankung.

Über die vielen Jahre werden immer wieder Tumore und Metastasen aus ihrer Leber, einer Nebenniere, Bauchdecke sowie der Lunge entfernt. Immer wieder bildet der Krebs neue Metastasen, immer wieder kommt es zu Komplikationen – manche aufgrund ihrer komplexen Behandlungssituation, andere aufgrund von Fehleinschätzungen. Ihr Vertrauen in die Menschen, die sie behandeln, geht nicht verloren, auch weil sie als Ausbilderin von Pflegepersonen die Strukturen des Gesundheitssystems kennt: »Die Ärzt:innen können meist gar nichts dafür, dass die Fehler passieren. Sie passieren, weil das System sehr fehleranfällig ist.«

Die Folgen des Personalmangels hat sie am eigenen Leibe gespürt: Vor zwölf Jahren kannte eine feste Ansprechperson ihre Erkrankung, ihre Therapie und auch sie als Person. Über die Jahre geriet sie immer öfter an Ärztinnen und Ärzte, die keine Ahnung von ihr oder ihrem Krankheitsverlauf hatten. Baraniec erinnert sich an eine Situation vor fünf Jahren: Damals wollten ihre behandelnden Ärzte zunächst ihre Immuntherapie absetzen: »Hätte ich die Immuntherapie vor fünf Jahren verloren, wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr hier.« Bei der Immuntherapie handelte es sich um eine sehr neue Therapieform. Baraniec habe sich mit ihrem Vorwissen bereits mit ihr auseinandergesetzt und ist auf das Phänomen der Pseudoprogression gestoßen. Dabei liegt eine vermeintliche Vergrößerung des Tumors vor, bei der es sich allerdings um Immunzellen im Tumorgewebe handelt. Baraniec vermutete damals, dass dies auch bei ihr der Fall ist. Mithilfe ihrer Blutwerte konnte sie die Behandelnden davon überzeugen, die Immuntherapie weiter auszuprobieren. Bei der darauffolgenden Kontrolle bestätigte sich Baraniecs Annahme. Seither sei ihr klar, dass sie auch selbst Verantwortung übernehmen müsse.

Weil sie frustriert sind über den Zustand des Gesundheitssystems und den Mangel an Informationen für Patientinnen und Patienten, die nicht aus Verschwörungstheorien oder fragwürdigen Internetforen stammen, gründen Baraniec und ihr Partner Sebastian Miedtank den Krebs Campus. »Gemeinsam mit anderen Patient:innen schaffe ich Strukturen, mit denen wir in diesem bröckelnden Gesundheitssystem überleben«, sagt Baraniec. Sie sei nicht mehr nur Patientin, die sich einfach fallen lässt, sondern in einem Team mit dem medizinischen Personal, das sie betreut. Zusammen kämpfen sie gegen den Krebs.

Was als kleiner Instagram-Kanal vor drei Jahren mit einem Video startete, ist heute ein Netzwerk aus über 600 Betroffenen und Angehörigen. Der Krebs Campus ist eine Lern- und Austauschplattform, auf der Baraniec und andere Betroffene mit Expertise Seminare und Workshops anbieten und sich an die Erkrankten richten. So lernen diese beispielsweise den Umgang mit Blutwerten, werden angeleitet, ihre Arzttermine zu strukturieren und erhalten Informationen darüber, wie sie ihre eigene Therapie unterstützen können. Baraniec will, dass Betroffene selbst handeln können. Denn Wissen über den eigenen Körper lasse auch die Angst schwinden.

Der Krebs Campus möchte so einen wissenschaftlich fundierten, personalisierten Lernweg durch die eigene Krebsgeschichte bieten. Dafür arbeitet das Projekt auch mit Leipziger Vereinen zusammen, wie dem Haus Leben, das als persönliche Beratungsstelle fungiert. Aktuell wollen Baraniec und Miedtank einen Ärztlichen Beirat gründen, um die wissenschaftliche Expertise des Krebs Campus auszubauen. Diese erhalten sie auch durch eine Kooperation im Bereich der Versorgungsforschung mit der Berliner Charité.

Die 3000 Euro, mit denen der Sinnovationspreis dotiert ist, möchten Baraniec und Miedtank in ihr Projekt investieren, erzählen sie auf die Nominierung angesprochen: in psychoonkologische Gruppensitzungen oder die Wirkungsmessung des angebotenen Metastasen-Kurses. Langfristig wollen sie, dass der Krebs Campus von Krankenkassen als Leistung anerkannt wird, denn aktuell übernehmen diese den Mitgliedsbeitrag nicht. 18 Euro müssen aktive Mitglieder pro Monat zahlen. Geld, das nicht jede chronisch erkrankte Person aufbringen könne. Die Wirkungsmessung sei ein erster Schritt in Richtung Anerkennung.


> Sinn Innovationspreis: www.sinn-sachsen.de

> www.krebscampus.org


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