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Stadtleben

Die Schattenflotte kommt

Lieferando streicht bundesweit Stellen und lagert an Subunternehmen aus - auch in Leipzig formiert sich Widerstand

  Die Schattenflotte kommt | Lieferando streicht bundesweit Stellen und lagert an Subunternehmen aus - auch in Leipzig formiert sich Widerstand  Foto: Marco Brás Dos Santos


Es ist ein sonniger, aber schneidend kalter Freitag am Lieferando-Hub. Hier, wo die Kuriere ihre E-Bikes und die orangefarbene Arbeitskleidung fassen, herrscht Unruhe. Coco*, eine der Organisatorinnen vor Ort, versucht, die eintreffenden Kollegen abzufangen. Ihr Ziel: die heutige Betriebsversammlung. Dass im Anschluss ein Warnstreik den Betrieb lahmlegen soll, deutet sie zunächst nur vorsichtig an. »Es gibt Kaffee, Brötchen, und es ist warm«, sagt sie. Die Banalität des Angebots täuscht nicht darüber hinweg, wie mühsam die gewerkschaftliche Organisierung in der Plattformökonomie ist. Es fehlt an physischen Begegnungsräumen; der Flurfunk wurde längst durch anonyme WhatsApp-Gruppen ersetzt.

Das Kapital greift durch

Lieferando, eine Marke des Mutterkonzerns Just Eat Takeaway, galt in Deutschland lange als das »kleinere Übel« der Branche meint Coco. Im Gegensatz zur Konkurrenz von Wolt oder Uber Eats setzt der Marktführer auf die Direktanstellung seiner Fahrerflotte. Das ermöglichte es der Belegschaft – gegen erheblichen Widerstand des Konzerns –, überhaupt erst Betriebsräte zu gründen. Doch dieser vermeintlich sozialpartnerschaftliche Burgfrieden bröckelt massiv.

Rund um die Übernahme durch den niederländisch-südafrikanischen Tech-Riesen Prosus im Jahr 2025 weht ein anderer Wind durch die Konzernzentrale. Das Unternehmen vollzieht derzeit eine fatale Rolle rückwärts: Die Auslagerung von Aufträgen an Subunternehmen wird forciert. Kritiker sprechen vom Aufbau von »Schattenflotten«– Konstrukten, die Tarifbindungen und Arbeitnehmerrechte systematisch unterlaufen. Bundesweit stehen bis zu 2.000 Fahrerstellen auf der Kippe, was rund 20 Prozent der gesamten Flotte entspricht. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hält mit der Forderung nach einem Sozialtarifvertrag dagegen.

Leipzig: Die Ruhe vor dem Sturm

Nach Arbeitskämpfen in bereits gut einem Dutzend Städten – darunter zuletzt Berlin und Dresden – erfasste die Protestwelle am Freitag nun auch Leipzig. Knapp 250 Beschäftigte waren aufgerufen, die Arbeit niederzulegen. Die lokale Situation wirkt auf den ersten Blick paradox: Laut Unternehmensangaben betrifft der Stellenabbau in der Messestadt lediglich ein bis zwölf Stellen – eine fast homöopathische Dosis im Vergleich zum Bundesdurchschnitt.

Pressesprecher Oliver Klug versucht auf kreuzer-Anfrage zu beschwichtigen: Bundesweit handele es sich größtenteils um Mini- oder Midi-Jobber, es gebe Abfindungen, und Kündigungen würden oft durch Nicht-Nachbesetzung vermieden. Für Leipzig bedeute dies: Der Abbau von knapp zehn Prozent der Stellen käme »ganz ohne Kündigungen« zustande. Doch auf die entscheidenden Fragen weicht der Konzern aus: Plant Lieferando weitere Auslagerungsschritte in den kommenden Monaten? Und dient die jetzige Umstrukturierung womöglich dazu, einem anstehenden Termin beim Bundesarbeitsgericht proaktiv den Boden zu entziehen? Klug antwortet auf diese Fragen nicht.

Sisyphos auf dem E-Bike

Dass trotzdem gestreikt wird, hat weniger mit direkter Betroffenheit als mit prinzipieller Gegenwehr zu tun. Die Kuriere protestieren gegen die drohende Prekarisierung der gesamten Branche. Die Forderungen der NGG nach einem Einstiegslohn von 15 Euro sowie Zuschlägen für Nacht-, Wochenend- und Feiertagsarbeit werden seit Beginn der Tarifkampagne 2021 konsequent von Lieferando ignoriert. »Schattenflotten mit Sub-, Sub- und Subunternehmen sind nicht die Lösung«, betont Lea Marschall von der NGG.

Der Zeitpunkt der Umstrukturierung wirkt dabei kaum zufällig. Bis November 2026 muss die Bundesregierung die EU-Plattformrichtlinie in nationales Recht gießen. Das Ziel aus Brüssel: Scheinselbstständigkeit beenden und Plattformen in die Arbeitgeberpflicht zwingen. Lieferandos Flucht in Subunternehmer-Konstrukte erscheint da wie ein präventives Ausweichmanöver. Indem die Verantwortung in der Kette nach unten durchgereicht wird, läuft die Richtlinie ins Leere, noch bevor die Tinte im Gesetzblatt trocken ist.

Gegen 13 Uhr endet die Betriebsversammlung in der Villa Leipzig. Der Warnstreik beginnt offiziell. Die Fahrerinnen und Fahrer ziehen in einem Demonstrationszug zum Leipziger Markt. Für Coco ist es ein Erfolg: Die Mobilisierung hat funktioniert, die Gewerkschaft verzeichnet Neuzugänge. Doch der Arbeitskampf in der Gig-Economy bleibt eine Sisyphusarbeit. Die Sonne ist weg, die Kälte ist geblieben. Um Mitternacht endet der Ausstand. Die Nachtschicht übernimmt – bis in die Morgenstunden wird weitergeliefert.

*Name von der Redaktion geändert.


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