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Erwachsene Probleme

Mit der Volljährigkeit fallen einige Jugendliche aus dem Hilfesystem – 
und landen auf der Straße

  Erwachsene Probleme | Mit der Volljährigkeit fallen einige Jugendliche aus dem Hilfesystem – 
und landen auf der Straße  Foto: Christiane Gundlach


Er kommt immer viel zu früh«, sagt Becky Wehle (Foto) und schaut durch die Fensterfront auf die Straße raus. Vor dem Eingang von Machtlos, einem Verein für Jugendsozialarbeit, steht ein junger Mann, der von einem Fuß auf den anderen wippt. Er nimmt seine Hand an die Stirn, um hineinsehen zu können. »Er weiß, wann wir aufmachen. Er muss sich noch gedulden«, sagt Wehle und trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee. In 40 Minuten öffnet der Verein seine Türen und wird zur Anlaufstelle für alle Menschen zwischen 14 und 27 Jahren, die Unterstützung und Beratung brauchen, insbesondere wenn sie ohne Wohnung oder festen Schlafplatz sind. In Leipzig gibt es laut Jugendamt drei kommunale und sechs weitere Teams in freier Trägerschaft, die im öffentlichen Raum ambulante Unterstützung für Jugendliche anbieten. Das bedeutet, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter wie Becky Wehle und ihr Team sind draußen unterwegs und sprechen Jugendliche und junge Erwachsene an. »Wir schauen, ob wir Gruppen wiedererkennen, die sich hier regelmäßig aufhalten, egal ob sie hier leben, hier zur Schule gehen oder weil sie vor Supermärkten schnorren oder in manchen Fällen eben kein Obdach haben«, sagt Wehle. Wehle und ihr Team besuchen auch Gemeinschaftsunterkünfte und Schulen, sind vor allem auch im Nachtleben unterwegs.

In der Kurt-Eisner-Straße 44, wo wir Becky Wehle zum Gespräch treffen, können die Jugendlichen von Montag bis Freitag auch in die Vereinsräume kommen und hier Angebote nutzen: gemeinsames Kochen, Sport, ehrenamtliche Rechtsberatung und Zugang zu einem Computer und Internet. Wer möchte, kann hier duschen, warme Kleidung abholen oder Wäsche waschen. Am häufigsten kommen die jungen Menschen wegen ihrer Wohnsituation, erzählt Wehle. »Was mich bei den Entwicklungen des Wohnungsmarktes in Leipzig nicht wundert.« Außerdem brauchen die jungen Erwachsenen Beratung und Hilfe bei Finanzen, Ausbildung, Schule, Beruf und Gesundheit. Die Sozialarbeiter von Machtlos helfen auch oft dabei, Anträge auszufüllen.

Punkt 15 Uhr öffnet eine Kollegin von Wehle die Türen – und lässt den wartenden jungen Mann rein. Becky Wehle holt einen Laptop für ihn. Heute habe er »zu viel im Kopf«, aber er sei morgen wieder da, um mit uns zu sprechen. Dann widmet er sich dem Laptop, sucht auf Youtube nach Hardtekk-Musik und steckt sich Kopfhörer in die Ohren.

Am nächsten Tag steht der junge Mann in der Küche von Machtlos und rührt in einem dampfenden Topf. Er hat wieder einen Laptop aufgeklappt. Darauf läuft ein Youtube-Video, in dem ein Typ erklärt, wie schnell der neue Audi ist. Er drückt auf Pause, aber bleibt am Herd stehen, während er erzählt: Er ist Mitte zwanzig und kommt aus einer sächsischen Kleinstadt. Seit Jahren ziehe er von Heim zu Heim, von Stadt zu Stadt und von Straße zu Straße. »Jetzt sitze ich ohne Geld und ohne Krankenversicherung auf der Straße und weiß nicht, wie ich weitermachen soll.« Seine Postanschrift ist der Machtlos-Verein.

Eine halbe Stunde lang sprechen wir mit ihm in der Küche. Er erzählt uns, woher er kommt, wie er auf der Straße gelandet ist und wie sein Zustand heute ist. Einige Tage später, kurz vor Drucklegung dieser Ausgabe, zieht er seine Zusage zurück. Einblicke in seine Biografie möchte er nicht veröffentlichen.

Lücken in der Notversorgung für junge Menschen

»Junge Menschen bekommen oft das Gefühl vermittelt, dass sie individuell dafür verantwortlich sind, wie ihr Leben läuft«, sagt Becky Wehle. Dabei werden die Herausforderungen für junge Menschen immer komplexer: Schule, Jobsuche, Digitalisierung, Nachwehen einer Pandemie, Klimakrise und Kriege. Die Gründe für Wohnungslosigkeit in so jungem Alter seien außerdem sehr vielfältig und oft kompliziert, fügt Wehle hinzu: Ein desolates oder gewaltvolles Elternhaus, Schicksalsschläge oder Aufwachsen in den Strukturen der Jugendhilfe. Andere verlieren eine Ausbildung oder den Job, sind in Abhängigkeiten gerutscht oder haben noch nicht gelernt, mit Geld umzugehen. »Mietschulden katapultieren einen direkt aus dem Wohnungsmarkt«, sagt Wehle. Auch Haft oder Langzeittherapie können dazu führen, die Wohnung zu verlieren. »Das Amt übernimmt die Miete nur sechs Monate lang«, erklärt die Sozialarbeiterin.

Der junge Mann, der in der Küche steht, kommt seit einem halben Jahr zu Machtlos. »Wir bauen gerade eine Beziehung zu ihm auf, machen ihm Angebote, aber er lehnt vieles noch ab«, sagt Wehle. Ein paar Möglichkeiten hätte es gegeben, um seine Situation zu verbessern. »Aber er ist noch nicht so weit«, sagt Wehle. Er selbst sagt uns, seine Situation sei aussichtslos.

Nicht allen bei Machtlos geht es wie dem jungen Mann, mit dem wir gesprochen haben. Einige, mit denen Becky Wehle arbeitet, sind wohnungslos, noch nicht obdachlos. »Wir nennen das Phänomen Sofahopping«, sagt die Sozialarbeiterin. Junge Menschen hätten häufig andere Strategien. »Sie haben Kumpels oder Partner:innen, wo sie auch mal für paar Wochen oder Monate schlafen können.«

Die Mitarbeiter der Übernachtungshäuser und der mobilen Jugendarbeit beobachten, dass die Jugendlichen und junge Erwachsene ungern in Notunterkünften übernachten, sagt Becky Wehle. Die Häuser seien nicht dafür gemacht, die Bedürfnisse der jungen Menschen adäquat aufzufangen, findet Wehle. »Wir sagen schon immer: Da braucht es andere Angebote, aber die gibt es einfach nicht.«

Die Notunterbringung der Stadt werde »bedarfsorientiert« bereitgestellt und nicht nach Altersgruppe aufgeteilt, sagt Sebastian Fink von der Stadt Leipzig. Auf Anfrage des kreuzer sieht das Sozialamt keinen Handlungsbedarf, spezielle Übernachtungsangebote für junge Erwachsene bis 27 anzubieten. Laut Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) gebe es nämlich die Möglichkeit, betreutes Wohnen bis 27 zu verlängern. Diese Angebote würden durch das Amt für Jugend und Familie koordiniert. Theoretisch ist das auch möglich, sagt Wehle. »Dann muss aber Geld da sein und die Notwendigkeit der Unterstützung gesehen werden.«

Damit junge Menschen, die Jugendhilfeeinrichtungen mit der Volljährigkeit verlassen, nicht in Wohnungslosigkeit entlassen werden, bietet die Stadt zusätzliche Hilfe an. Gemeinsam mit der LWB initiierte das Sozialamt das Projekt »Careleaving«. Seit Beginn im Dezember 2023 wurden dadurch laut Sozialamt 36 junge volljährige Menschen aus den Hilfen zur Erziehung sowie aus dem elterlichen Haushalt mit ambulanter Hilfe in eigenen Wohnraum vermittelt. Außerdem konnten über das Projekt 14 Personen aus der Wohnungslosigkeit und fünf Personen aus der Obdachlosigkeit versorgt werden. Das geht aus einer Anfrage der Linken an den Oberbürgermeister hervor. Um die Obdachlosigkeit von Menschen unter 18 Jahren zu vermeiden, stehen zusätzlich acht Plätze im Jugendnotdienst und drei Plätze im Bed by Night in Reudnitz zur Verfügung. An diese Einrichtungen können sich junge Menschen selbst wenden und um Aufnahme bitten. Laut Sozialamt ist das Bed by Night zu 70 Prozent ausgelastet.

Ein halbes Jahr Wartezeit

Für eine eigene Wohnung, sagt der junge Mann in der Küche, fehlen ihm noch bestimmte Dinge, von denen er nicht wisse, woher er sie bekommt. Auf der Straße sei er allein unterwegs und fühle sich sehr einsam und allein. »Ich bin wie ein verschlossener Hund, der nicht wahrgenommen wird. Mir tut einfach alles weh«, sagt er. Er wünsche sich psychiatrische Hilfe, aber ihm fehle ja die Krankenversicherung. Hinzu kommt, dass die »weiterführenden Angebote« in Leipzig oft ausgelastet sind, gibt Becky Wehle zu bedenken. Seitdem sie 2008 bei Machtlos angefangen hat, habe es zugenommen, dass sie gar nicht mehr weitervermitteln könne. Die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt in Leipzig momentan sechs Monate. Die Jugendlichen hätten dann gar keine Chance, in eine weiterführende Einrichtung zu kommen. In der Zwischenzeit kümmern sich zwar die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, aber das ersetze nicht, was eigentlich nötig ist. »Ich kann mal ein Stabilisierungsgespräch führen, wenn große Krise ist, aber wir können keine Therapie leisten«, sagt Wehle. In den nächsten Monaten werde man im Verein den jungen Mann weiter ermutigen und versuchen, ihm zu helfen.


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