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»Alleine schafft 
man es nicht«

Chriss engagiert sich bei den Leipziger Peers, einer Gruppe ehemals obdachloser Menschen, die diejenigen unterstützt, die auf der Straße leben

  »Alleine schafft 
man es nicht« | Chriss engagiert sich bei den Leipziger Peers, einer Gruppe ehemals obdachloser Menschen,  die diejenigen unterstützt, die auf der Straße leben  Foto: Christiane Gundlach

Fünfzehn Jahre war Chriss obdach- und wohnungslos. Er kennt die Probleme, die damit verbunden sind, er kennt gute Schlafplätze und er kennt viele Obdachlose. Seit zwei Jahren engagiert sich der 42-Jährige bei den Leipziger Peers, ehemalige Obdachlose, die Menschen unterstützen, die auf der Straße leben. 2022 hat sich die Leipziger Peer-Gruppe auf Initiative von Sozialarbeiter Tino Neufert (s. S. 24) gegründet. Wir haben mit Chriss über Unterstützung auf Augenhöhe und seine Motivation dafür gesprochen.


Wie ist es, durch die Arbeit als Peer wieder mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert zu werden?

Wir haben es selber durch, ja. Man wird immer wieder an seine eigene Leidensgeschichte erinnert. Das ist schwierig. Es muss etwas dafür getan werden, dass Peer-Arbeit nicht immer auf Verschleiß aus ist. Auch die Peers brauchen Supervisionen, jemanden, mit dem sie reden können.


Sie hätten sich auch dafür entscheiden können, nichts mehr mit dem Thema zu tun zu haben.

Ja, aber das wäre Weggucken. Und das hilft anderen Leuten nicht. Dann würde ich nicht zu meiner Vergangenheit, nicht zu mir stehen. Ich möchte auch gar nicht weggucken. Diese Menschen werden bespuckt, beklaut, überfallen, auch Frauen. Ein Kumpel von mir wurde im Schlafsack angezündet. Was ist denn da los? Wie kann man das den ärmsten Menschen antun? Die haben doch eh schon nichts. Kein Wunder, dass obdachlose Menschen sich immer mehr zurückziehen. Jetzt kann ich mit dem Finger auf solche Dinge zeigen und werde gehört. Ich habe richtig Bock, den Menschen in den Kopf reinzuscheißen und zu sagen: »Das ist ein Mitmensch. Sei doch achtsam. Der hat dir doch gar nichts getan.«


Wie sind Sie damals aus der Obdachlosigkeit herausgekommen?

Das werden Sie kaum glauben: durch die Liebe. Ich habe meine Freundin kennengelernt. Das ist das Märchenhafteste, das mir je passiert ist. Sie hat mich von der Straße weggeholt. Früher war sie selbst obdachlos, seit einigen Jahren ist sie aber stabil und hat eine Wohnung. Sie hat in mir etwas gesehen, das ich selbst nicht mehr gesehen habe. Wenn man in der Scheiße sitzt, dann ist es schwer, an sich selbst zu glauben. Durch sie habe ich auch andere Unterstützungen gefunden. Mittlerweile habe ich eine Betreuung, mit der ich vieles aufarbeite. Und ich hatte richtig viel Glück, seit einem Jahr lebe ich in meiner eigenen Wohnung. Das soll auch so bleiben.


Was war das für ein Gefühl, nach Jahren eine Wohnung zu haben?

Die erste Zeit war schwierig. Ich saß in der Wohnung und wusste nicht, was ich mit mir anfangen soll. Anfangs hatte ich noch alles griffbereit, falls ich schnell abhauen muss. Genau deshalb ist Nachsorge so wichtig. Da kommen viele Fragen auf: Wie führe ich einen Haushalt? Wie gehe ich mit dem ganzen Geld um? Es reicht nicht, den Menschen einfach einen Wohnungsschlüssel zu geben.


Was ist Ihre Aufgabe bei den Peers?

Öffentlichkeitsarbeit. Mir ist es wichtig, für das Thema Obdachlosigkeit zu sensibilisieren. Häufig wird gesagt, man sei selbst schuld: »Geh arbeiten, mach was. Jeder kann eine Wohnung, eine Arbeit haben.« Aber wenn ich nicht weiß, wo ich schlafen soll, meine Papiere vom Regen durchnässt sind, ich keine Wäsche waschen kann und mein ganzes Zeug mit mir rumschleppe
– wo soll ich mich denn da vorstellen? Das Letzte, woran ich dann denke, ist, pünktlich beim Arbeitsamt zu sein. Mir fehlt der ehrliche Blick: Obdachlosigkeit kann jeden treffen. Ein Schicksalsschlag – dann kommen Schulden, eine Sucht dazu. Rein rutschst du schneller, als du gucken kannst. Aber rauszukommen ist wirklich schwierig. Man fühlt sich von der Gesellschaft im Stich gelassen. Ausgestoßen.


War das auch Ihre Motivation, bei den Peers mitzumachen?

Am Anfang überhaupt nicht. Wenn du frisch von der Straße kommst, ist Reisen das Letzte, was du dir ausmalst. Da habe ich die Chance genutzt, mal rauszukommen. Das erste Mal war bei einer Bundesfachtagung für Streetwork. Das war krass. Ich wurde gehört, ich wurde wahrgenommen. Das kannte ich so nicht. Inzwischen sehe ich den Wert der Peer-Arbeit. Für mich ist es ein Weg, danke zu sagen. Denn alleine schafft man es nicht. Viele Menschen haben an mich geglaubt und waren für mich da. Jetzt kann ich etwas zurückgeben und mit meinen Erfahrungen anderen helfen. Ich finde meine Aufgabe sehr sinnvoll.


Wie organisieren sich die Peers als Gruppe?

Wir sind ein Kern von etwa sechs Leuten. Wir schließen niemanden aus, nur wer gerade wohnungslos ist, sollte nicht mitmachen. Der Struggle ist einfach zu groß. Wir treffen uns jeden ersten und dritten Dienstag im Monat, jeweils für zwei Stunden. Für die ganzen Aufgaben, die wir haben, und die wenigen Leute, die wir sind, ist das wenig. Es ist immer chaotisch und hektisch. Ein buntes Durcheinander. Aber das macht es auch aus.


Was hat sich seit der Gründung 2022 getan?

Was in drei Jahren alles passiert ist, das kann man sich nicht ausmalen. Es ging ab wie eine Rakete. Wie waren an Schulen und Hochschulen, haben mit dem Sozialamt, dem Stadtrat und Bundestagsabgeordneten gesprochen. Inzwischen machen wir uns einen Ruf. Das ist ziemlich cool. Wir waren mehrfach beim Tag der Wohnungslosen und zweimal in Wien – dort gibt es seit Jahren eine Peer-Ausbildung. Das wollen wir auch in Deutschland probieren. Als Peer-Gruppe sind wir hier bisher noch einzigartig. Aber in Dresden entsteht gerade ein Ableger.


Das hört sich nach sehr vielen Erlebnissen an.

Ja. Aber unsere Hauptaufgabe bleibt, Menschen zu helfen, die in einer ähnlichen Situation sind wie wir früher.


Wie sieht diese Hilfe aus?

Gerade mache ich das noch in meiner Freizeit. Wir begleiten zum Amt oder zum Arzt, füllen Anträge aus. Viele Leute haben keinen Nerv für das Amtsdeutsch. Ich erkläre dann kurz, worum es geht, oder gehe mit. Wir sind wie Mädchen für alles. Aber meine Hilfe zwinge ich niemandem auf. Ich kann sie nur anbieten. Mittlerweile bin ich schon bekannter, und viele kommen von selbst, wenn sie Unterstützung brauchen. Oft geht es aber ums Dasein, ums Zuhören. Viele wollen einfach von ihrem Tag erzählen, etwas Schönes oder dass es ihnen gerade scheiße geht. Das macht jeder andere zu Hause auch. Es ist viel Geplänkel, auf Kumpelbasis. Sie reden mit jemandem, der den Scheiß versteht, aber nicht mehr im gleichen Boot sitzt. Jemand, der das alles kennt und sagt: »Pass auf, so und so können wir das machen.« Das macht viel aus.


Ist es das, was Ihre Arbeit von der klassischen Sozialarbeit unterscheidet?

Wenn jemand als Streetworker auftaucht und die Leute ins Büro einlädt, wirkt das oft
abgehoben. Von wegen: »Ich habe studiert, ich bin etwas Besseres.« Die Leute denken dann: »Ich sitze hier in der Scheiße und du willst mir das Leben erklären.« Da haben die keinen Bock drauf. Ich habe selbst auf der Straße gelebt. Viele kennen mich noch von früher. Das macht es leichter. Ich werde anerkannt, weil ich die gleichen Erfahrungen gemacht habe. Deswegen verstehe ich auch ihre Sorgen und Probleme. Die Gespräche sind ehrlicher, direkter. Außerdem haben wir Peers den Vorteil, dass wir die Hotspots und Schlafplätze kennen. Wir wissen, wo wir hingehen müssen. Und dann kann ich auch nur vermitteln, unterstützen und begleiten. Zum Glück schaut in Leipzig niemand auf uns herab, der Wert der Peer-Arbeit wird gesehen. Jetzt fehlen nur noch feste Stellen.


Hier setzt also auch die Peer-Ausbildung an?

Ja. In Deutschland ist das ein komplett neues Berufsfeld. Wir arbeiten jetzt im zweiten Jahr daran, zusammen mit der Internationalen Berufsakademie und Silke Baum. Sie ist super engagiert und kennt Hinz und Kunz. Das ist top. Die Ausbildung orientiert sich am Neunerhaus in Wien. Dort werden ehemals obdachlose Menschen zu Peers ausgebildet, die wiederum andere auf der Straße unterstützen. So eine Ausbildung kann auch ein Anreiz sein, Menschen von der Straße zu holen. Sie zeigt ihnen, dass sie etwas wert sind. Die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig: bei den Streetworkern, in Hilfebussen, Übernachtungshäusern oder der JVA. Der Sozialdienst hat hier kaum Kapazitäten. Da wäre Peer-Arbeit sinnvoll. Wir wollen ja niemandem den Job wegnehmen, sondern das bestehende Hilfesystem entlasten und ergänzen. Aber bis wir so weit kommen, dass die Ausbildung anerkannt wird …


Ist das im Moment die größte Herausforderung?

Na ja, wir haben uns das einfacher vorgestellt. So eine Ausbildung ist sehr umfangreich. Wir müssen genau überlegen, was in die Module kommt: Erste Hilfe bei Drogennotfällen, Umgang mit Behörden … Und auch so was wie: Wie schreibe ich eine E-Mail? Ich kann doch als Peer nicht sagen: »Komm, ich begleite dich« und dann vorm Arbeitsamt keinen Ton rausbekommen. Das muss schon seriös sein.


Was würde Ihnen die Ausbildung persönlich bringen?

Ich könnte beruflich endlich Fuß fassen. Wo soll ich mich mit meiner Geschichte denn bewerben? Wer nimmt mich denn? Soll ich sagen, dass ich mich 15 Jahre lang selbst gefunden habe? Bäcker, Maurer, Tierpfleger – alles nicht meins. Aber das, was ich jetzt mache, das kann ich.


Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf im Umgang mit obdachlosen Menschen?

Ein Thema liegt mir besonders am Herzen: menschenfeindliche Architektur. Bänke, auf die man sich nicht hinlegen kann, neue Häuser, deren Fassaden keinen Schutz vor Wind und Wetter bieten. Wenn jemand sich kurz irgendwo ausruhen will, kommt sofort die Security oder das Ordnungsamt, die sind oft nicht gerade freundlich. Anstatt den Menschen noch eine Stunde Ruhe zu gönnen, droht man ihnen mit Gewalt. Ich habe Sätze gehört wie: »Die jagen wir weg.« Verdrängung ist nicht die Lösung. Das Wohnen muss nicht neu erfunden werden. Es gibt so viele Möglichkeiten, von Tiny Houses bis zu Wagenburgen. Viele Menschen auf der Straße sind auch mit wenig zufrieden. Hauptsache ein Dach überm Kopf und eine Tür, die man zumachen kann.
Die Leute machen das schon, sie wissen sich zu helfen. Man muss ihnen nur die Chance geben.


Was wünschen Sie sich von Ihren Mitmenschen?

Achtsamkeit, Mitgefühl. Dass man einfach mal fragt: »Was kann ich dir Gutes tun?« Die Gesellschaft ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Und die Schwächsten, das sind wir. Es macht etwas aus, wie mit uns umgegangen wird. Wenn wir diese schwachen Menschen unterstützen, sind wir eine starke Gesellschaft.


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