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Kultur

Die erste Deportation

Die Ausstellung »Ausgewiesen!« erinnert an die Zwangsausweisung von Jüdinnen und Juden nach Polen 1938

  Die erste Deportation | Die Ausstellung »Ausgewiesen!« erinnert an die Zwangsausweisung von Jüdinnen und Juden nach Polen 1938  Foto: Andreas Praefcke


Seit 25 Jahren befindet sich am Zaun des Hauses in der Wächterstraße 32 – genau gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht – eine Gedenktafel. Sie erinnert an die Zeit, als sich hier das polnische Konsulat befand und an die Rettungsaktion des Generalkonsuls Felix Chiczewski. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass über 1.200 Menschen aus Leipzig mit polnischen Pässen ihrer Zwangsausweisung entgingen. Anlässlich einer Tagung vom Dubnow-Institut und dem Polnischen Institut zu den Ereignissen der sogenannten Polenaktion im Herbst 1938 wurde die Tafel im Jahr 2000 eingeweiht.

Das Haus selbst ließ der Verleger Arthur Seemann 1908 errichten. Ab 1918 wohnte Moritz Ury mit seiner Frau Selma darin. Moritz Ury (1872-1939) und sein Bruder Julius (1873-1940), beide jüdischen Glaubens, kamen 1896 aus dem Elsass nach Leipzig und eröffneten am Königsplatz (heute Wilhelm-Leuschner-Platz) im Haus vom Café Royal das erste Warenhaus – das Warenhaus Ury - in der Stadt. 1914 kam das Gebäude des Hotels Münchner Hof dazu und so erstreckte sich das Kaufhaus vom Königsplatz über die Nonnenmühlgasse und Wächterstraße. Es stand an der Stelle, wo sich heute eine Baugrube gegenüber dem Polizeigebäude befindet. 1937 emigrieren Moritz und Selma Ury in die Schweiz. Das Kaufhaus ging in den Besitz des Leipziger Messeamtes über und wurde am 4. Dezember 1943 durch Bomben zerstört.

In der Villa in der Wächterstraße war von 1936-39 das Polnische Generalkonsulat eingemietet. Auch dieses Haus wurde zwangsarisiert. Für 1940 findet sich im Leipziger Adressbuch unter Eigentümer der Vermerk »Ungenannt«. Von 1948 bis 2006 unterhielt hier die Stadt ein Gästehaus. Seitdem gehört es einer GmbH, die Zahnarzt Jens Voss verantwortet, der sich gleich nebenan einen Neubau mit großem eigenem Schriftzug leistete.

In der Ausstellung »Ausgewiesen! 28. Oktober 1938«, die das Aktive Museum Faschismus und Widerstand Berlin konzipierte und die bis zum 12. Januar im Flur des Erdgeschosses der Volkshochschule zu sehen ist, wird sowohl die Außenansicht der Villa als auch der Blick in einen der völlig überfühlten Innenräume am 28. Oktober 1938 gezeigt. Die Aktion bildete eine Besonderheit innerhalb der von den Nazis seit dem 26. Oktober 1938 initiierten Ausweisungen von Menschen mit polnischen Pässen, bei denen es sich vor allem um Jüdinnen und Juden handelte, die in der Mehrzahl seit 1918 in Deutschland lebten. Die Ausstellung erzählt die Vorgeschichte zu dieser Aktion anhand von antisemitischen Übergriffen seit den 1920er-Jahren – etwa die Einrichtung von Sammellagern in Cottbus und Stargard 1920/21 für Juden aus Osteuropa oder die Pogrome im Berliner Scheunenviertel 1923.

Nach 1933 folgten das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft vom 14. Juli 1933. In der sogenannten Polenaktion wurden vom 26. bis 28. Oktober über 17.000 Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland verhaftet und in Zügen an die polnische Grenze transportiert. Da Generalkonsul Chiczewski bereits vorab aus Halle von den dortigen Abschiebungen, die einen Tag vor Leipzig stattfinden, erfuhr, gewährte er 1.269 Jüdinnen und Juden im Konsulat Asyl. Nach der »Polenaktion« konnten sie das Gebäude verlassen und zunächst in Deutschland bleiben. Wenige Tage später folgte mit der sogenannten Reichspogromnacht am 9. November 1938 die Brandschatzung jüdischen Eigentums. Wenig später wurden die Mietverträge mit jüdischen Mieterinnen und Mietern aufgelöst, was die Zwangsübersiedlung in sogenannte Judenhäuser bedeutete und oft die spätere Deportation in Vernichtungslager.

Exemplarische Familiengeschichten aus ganz Deutschland

Die Ausstellung erzählt exemplarisch die Geschichten von ausgewählten Familien aus ganz Deutschland, ihrem Leben vor 1933, während der Aktion und danach.

Aus Leipzig wird Familie Weitz vorgestellt. Rosa Weitz, 1918 in Leipzig geboren, heiratete 1935 den Kürschner Moritz Weitz, dessen Familie aus der heutigen Ukraine stammte, und der deshalb die polnische Staatsbürgerschaft besaß. Diese ging mit der Hochzeit auf Rosa über. Im Mai 1935 wurde ihre Tochter Edith Klara in Leipzig geboren. Die Familie wohnte in der Eberhardtstraße 12 in der Nordvorstadt, ganz in der Nähe zur heutigen Volkshochschule.

Am Morgen des 28. Oktobers 1938 wurden sie, wie auch die in Leipzig lebenden Eltern von Moritz Weitz, verhaftet. Sie kamen erst in eine Sammelstelle, dann zum Hauptbahnhof, von wo aus die Züge gen polnischer Grenze fuhren. Insgesamt 5000 Menschen jüdischen Glaubens mit polnischer Staatsbürgerschaft wurden in vier Sonderzügen zwischen 9 und 20 Uhr abgeschoben.

Die Familie Weitz kam nach Krakau. Im Sommer 1939 wurde Rosa Weitz die Wiedereinreise erlaubt, um den Leipziger Hausstand aufzulösen. Dafür wurden ihr fünf Wochen Aufenthalt genehmigt. Zurück in Krakau musste die Familie ab März 1940 im Ghetto leben, das drei Jahre später aufgelöst wurde. Moritz Weitz verrichtete Zwangsarbeit, danach verlieren sich seine Spuren. Rosa und ihre Tochter kamen im Sommer 1944 mit einem Transport wieder nach Leipzig – zur Zwangsarbeit beim Rüstungsunternehmen HASAG. Ihr Aufenthalt war von kurzer Dauer. Sie wurden Ende August 1944 nach Auschwitz deportiert und unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Rosas Mutter musste ihre Wohnung in der Uferstraße verlassen und in ein sogenanntes Judenhaus in der Humboldtstraße 15 ziehen. Sie wurde im Sommer 1942 nach Auschwitz deportiert.

So ähnlich lesen sich auch die Familiengeschichten aus Dortmund, Berlin oder Hamburg. Proteste seitens der Stadtgesellschaft gegenüber den Abschiebungen sind in Leipzig nicht bekannt. 


> »Ausgewiesen. Die Geschichte der ›Polenaktion‹«: bis 12.1.2026, Volkshochschule Leipzig, Löhrstr. 3–7, Mo-Fr 8–21.30 Uhr, Sa 8–18 Uhr, So 8–14 Uhr


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