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Kultur

Das Mikro weiterreichen

Jazz-Schlagzeugerin Eva Klesse lässt in ihrem Stimmen-Projekt die Lebenswirklichkeiten marginalisierter Gruppen hörbar werden

  Das Mikro weiterreichen | Jazz-Schlagzeugerin Eva Klesse lässt in ihrem Stimmen-Projekt die Lebenswirklichkeiten marginalisierter Gruppen hörbar werden  Foto: Peter Tümmers


Seit eh und je ist Jazz ein Resonanzraum für marginalisierte Stimmen, die sich mal lautstark, mal subtil in emanzipativen Kämpfen erheben – ein Resonanzraum, in dem sich das Politische mit dem Persönlichen, das Ästhetische mit dem Ethischen verschränkt. »Ich wünschte, der Klang baute einen Raum für die Trauer«, erklingt es im Introsong des Albums »Stimmen« vom Eva Klesse Quartett. Auf diesem werden die Lebenswirklichkeiten von Menschen hörbar gemacht, die Ungerechtigkeit und Diskriminierung erfahren haben und sich gegen diese einsetzen. Im Gespräch sagt Eva Klesse dazu: »Musik bietet die einzigartige Möglichkeit, bestimmte Dinge auch ohne Worte zu verhandeln oder auf einer anderen Ebene Leute zu berühren.« Das Album sei ein »musikalisches Essay«, ein Versuch also, denn so politisch und persönlich sei noch keins ihrer Projekte gewesen.

Eva Klesse gehört zu den renommiertesten Jazz-Schlagzeugerinnen in Deutschland. Ihre musikalische Karriere begann die 1986 im nordrhein-westfälischen Werl Geborene neben Stationen in Weimar und Paris vor allem an der HMT in Leipzig. 2018 wurde sie als erste deutsche Instrumental-Professorin im Jazz-Bereich an die Hochschule für Musik, Theater und Medien nach Hannover berufen. Daneben ist Klesse in zahlreiche musikalische Projekte involviert. Mit ihrem 2013 gegründeten Eva Klesse Quartett hat sie nun auch das Stimmen-Projekt verwirklicht, im Zuge dessen ist dieses allerdings zu einem Kollektiv angewachsen. Zur eigentlichen Besetzung – mit Pianist Philip Frischkorn, Saxofonist Evgeny Ring, Kontrabassist Marc Muellbauer und natürlich ihr selbst – gesellen sich Michael Schiefel und Zuza Jasinska (Vocals) sowie Philipp Rumsch (Elektronik). Die stimmliche Vielfalt der Musikerinnen und Musiker wird durch weitere politische und persönliche Stimmen ergänzt, die von ihrer jeweiligen Lebensgeschichte und -realität berichten. In »Witnesses«, dem von Philip Frischkorn konzipierten ersten Teil, kommt als Zeitzeugin die Schauspielerin Ellen Hellwig zu Wort. Ihre Erfahrungen in Leipzig 1989/90, ihr Leben in der DDR und deren Ende werden mit angedeutetem Sirenengeheul und kammermusikalischer Untermalung greifbar. So kann man sich mit den damaligen Utopien, die leider oder zum Glück nicht Wirklichkeit geworden sind, auseinandersetzen. Evgeny Ring ist in Russland aufgewachsen und hinterfragt im zweiten Teil sein Herkunftsland und seine Vergangenheit im Schatten der russischen Invasion in die Ukraine. Dabei verschafft er zwei russischen Aktivistinnen Gehör, die über die brutale staatliche Repression vor und nach dem Angriffskrieg berichten.

Diesen Erfahrungen zuzuhören, erschüttert. Denn auch wenn sie ästhetisch verarbeitet wurden – verfremdet und übereinandergeschichtet, im Einklang oder in Dissonanz mit der Musik –, sind diese Stimmen inhaltlich teils nur schwer zu ertragen. Das gesprochene Wort reibt sich manchmal mit dem musikalischen Fluss. Doch das regt zum Nachdenken an und ist auch so intendiert: »Dieses Programm ist ein Brett. Es hat uns viel abverlangt und es verlangt auch den Zuhörenden viel ab – ein intensives und berührendes Konzerterlebnis«, fasst Klesse zusammen.

Dass sich der letzte Teil – »Pass the Mic« von Eva Klesse – unter anderem mit Sexismus in der Jazzszene auseinandersetzt, ist nur folgerichtig. Denn eine ehrliche Gesellschaftskritik schließt eben auch den prüfenden Blick auf das eigene Milieu mit ein. Queere Musikerinnen und Musiker hatten es in einer männerdominierten Jazzszene lange Zeit besonders schwer. Repräsentativ dafür sind die Erfahrungen des US-amerikanischen Jazzpianisten Fred Hersch. ER musste sich Sätze gefallen lassen wie: »It’s okay that you’re gay. Just don’t hit on me!« – diese werden nun mit geräuschvollem Schlagzeug-Groove eindrücklich vorgetragen. Der Abschlusssong, eine »Hoffnungshymne«, wie Klesse sagt, soll der teils unerträglichen Negativität des Gehörten etwas entgegensetzen – mehrere starke Stimmen von Women of Colour erklingen, die sich für mehr Sichtbarkeit einsetzen.

Aus einer privilegierten Position das Wort für Betroffene zu ergreifen, kann problematisch sein. Die ausführenden Musikerinnen und Musiker sind nicht im selben Ausmaß involviert, wie es die Stimmen des Projekts sind. Klesse reflektiert das kritisch: »Es war auf jeden Fall unser Ziel, zurückzutreten und eben das Mikro weiterzureichen. Ganz funktioniert es aber natürlich nicht, wir spielen die Musik, wir stehen auf der Bühne.« Gerade als Musikschaffende können sie aber den ‚Stimmen‘ gerecht werden. »Mit ihnen verbinden wir uns und möchten sie gern unterstreichen, mit Kraft und mit dem, was wir in der Hand haben – der Musik.«

Eva Klesse hat für diese Musik in diesem Jahr den Deutschen Jazzpreis als »Künstlerin des Jahres« gewonnen und beschert Leipzig einen politischen Musik-Dezember. Nicht nur tritt sie mit dem Stimmen-Projekt im Theaterhaus Schille auf. Gemeinsam mit dem Fizz-Kollektiv organisiert sie außerdem den Advenzz-Benefizz-Jazz, der sich explizit gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft positionieren möchte.


> Advenzz Benefizz Jazz, mit Mona Linus Quintett, Lucas Rauch Organ Trio, Johannes Wasikowski und dem Real Mondayboxxx Jazzorchestra: 18.12., 19.30 Uhr, Neue Musik Leipzig


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