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Der tägliche Antisemitismus

Antisemitische Vorfälle sind Alltag – die Bedrohung für jüdisches Leben ist seit dem 7. Oktober 2023 auch in Sachsen stark angestiegen

  Der tägliche Antisemitismus | Antisemitische Vorfälle sind Alltag – die Bedrohung für jüdisches Leben ist seit dem 7. Oktober 2023 auch in Sachsen stark angestiegen  Foto: Christiane Gundlach


Im Juni 2025 wurde ein 36-Jähriger in der Eisenbahnstraße mit einem Messer bedroht. Laut Polizeibericht pöbelte ihn zuvor eine Gruppe Männer wegen eines Israel-Aufnähers am Rucksack an, sie verwendeten das Wort Jude als Schimpfwort. Einer von ihnen verfolgte den Rucksackbesitzer und machte Stichbewegungen in seine Richtung. Als der Bedrohte wegrannte, wurde ihm das Messer hinterhergeworfen. 

Ob physisch oder mit Worten: Auch in Sachsen haben antisemitische Vorfälle nach dem 7. Oktober 2023 zugenommen. Sie richten sich gegen Jüdinnen und Juden, aber auch Menschen, die für solche gehalten werden oder sich pro-israelisch positionieren. Antisemitismus ist in allen politischen Lagern verbreitet und insbesondere dann als »Israelkritik« getarnt, wenn er von links erfolgt.

»Wir müssen erkennen, dass Antisemitismus aus allen Richtungen kommt. Er macht bei den Hochschulen und im Kulturbetrieb nicht halt, im Gegenteil. Es erfüllt mich mit Sorge, dass er gerade in der jüngeren Generation auf fruchtbaren Boden fällt. Die werden in den nächsten 10, 15 Jahren zu Entscheidungsträgern heranwachsen.« Mit wenig warmen Worten tritt Thomas Feist, sächsischer Staatsbeauftragter für das Jüdische Leben, Anfang Dezember als Gastredner im Leipziger Felsenkeller auf. Hoffnungsfroh ist allerdings keiner der knapp 30 Anwesenden auf der Jahresendveranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG); nur wenige Tage darauf sollte der Terroranschlag in Sydney 16 Menschen das Leben kosten. 

Die meisten Besuchenden bei der DIG-Veranstaltung erleben Antisemitismus im Alltag. Einer spricht von einer Bedrohung durch die Türsprechanlage, mutmaßlich, weil er das DIG-Magazin per Post bezieht. Ein anderer sagt, er meidet die Eisenbahnstraße, obwohl er sich dort früher gern aufgehalten hat. Die vielen Träger des Palästinensertuchs, das nicht nur er mit dem Befürworten der Intifada verbindet, bereiten ihm Unbehagen. Eine Frau erklärt, nicht fassen zu können, wie queere und feministische Positionen die Hamas zu Widerstandskämpfern deuten würden. Dass der Freistaat Sachsen über keine verbindliche Antisemitismus-Definition verfügt, wird ebenfalls thematisiert.

Dass die geäußerten Ängste nicht unberechtigt sind, zeigen die Zahlen. Im Jahr 2024 verzeichnete die Meldestelle RIAS Sachsen fast doppelt so viele antisemitische Vorfälle wie im Vorjahr, nämlich 349 nach zuvor 192 – damals stiegen sie bereits ab dem 7. Oktober an. Das entspricht im letzten Jahr rechnerisch fast einem Vorfall täglich. Für 2025 liegen noch keine abschließenden Zahlen vor. Als Zwischenstand erklärt RIAS-Referentin Lisa Jacobs im kreuzer-Gespräch, »dass die Anzahl der Vorfälle auf einem hohen Niveau bleibt«. Sie schränkt ein, dass erst seit 2023 vollständig Daten erhoben werden. Es werde ungefähr fünf Jahre dauern, bis die Meldestelle über ausreichend Bekanntheit verfügt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, was auch die regionale Verteilung nahelegt: Der Schwerpunkt lag 2024 deutlich auf den Großstädten Leipzig (230), Dresden (69) und Chemnitz (15). Das sind fast 90 Prozent aller Vorfälle.

»Man kann für den ganzen deutschen Raum sagen, dass sich wieder mehr Menschen trauen, sich antisemitisch zu äußern«, sagt RIAS-Referentin Jacobs. »Denn der gesellschaftliche Widerspruch ist gerade seit dem 7. Oktober viel geringer geworden.« Das liegt auch daran, dass viele Menschen sich weigern, Antisemitismus anzuerkennen, gerade wenn es um Debatten zum Nahostkonflikt geht. Dabei ist die verbreitete Definition der International Holocaust Remembrance Alliance deutlich: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.«

Während Hetze und Gewaltbereitschaft spürbarer geworden sind, habe sich die Mehrheitsgesellschaft daran gewöhnt, leitet der RIAS-Rapport 2024 ein: »Aufrufe zur Vernichtung Israels, Befürwortung von Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, offene Unterstützung des Terrors der Hamas und die Relativierung der Shoa – all das ist [...] zur bedrückenden Normalität geworden.« Die Meldestelle dokumentierte für 2024 insgesamt 16 Angriffe, 8 Bedrohungen und 16 Sachbeschädigungen in Sachsen. Dazu zählt die Beschädigung oder Entfernung von jüdischem Eigentum und von Gedenkzeichen wie den Stolpersteinen, während die Gewaltandrohungen direkt gegen Einzelne adressiert wurden. Menschen wurden geschlagen, getreten, bespuckt und an den Haaren gezogen, heißt es im Bericht. Im Juni 2024 zum Beispiel unterhielten sich in der Nähe des Lene-Voigt-Parks drei Männer über Antisemitismus, als eine sie passierende Gruppe von 10 bis 15 Männern sie unvermittelt angriff. Sie schlugen die drei mit stumpfen Gegenständen und riefen »Scheißjude«. Im Februar 2024 griffen Vermummte auf der Hauptstraße in Dresden eine Gruppe von Männern unter antisemitischen Parolen an.

Die anderen Taten umfassen 39 antisemitische Massenschreiben, die sich an eine große Gruppe richteten, und 270, die die Studie unter »verletzendem Verhalten« summiert. Das betrifft vor allem schriftliche Äußerungen im öffentlichen Raum, wie Plakate, Aufkleber und Graffiti. Von diesen enthielten 66 Vorfälle Vernichtungsdrohungen, darunter Graffiti wie »Zios töten«. Auch das rote Hamas-Dreieck diente auf Wände gesprüht als Warnung und Gegnermarkierung. Noch am Tag der Verkündung des Themenjahr-Programms in Chemnitz hinterließ jemand auf einem entsprechenden Plakat das Wort »Gaza«. Der SPD-Politiker Igor Matviyets kommentierte auf X: »Herzliche Grüße aus Chemnitz, wo das öffentliche Zeigen von etwas irgendwie Jüdischem natürlich ein ›aber Gaza‹ provoziert. Das ist Antisemitismus.« Rechnerisch fand 2024 eine antisemitische Versammlung pro Woche statt, so die Studie.

Die Terrorattacke der Hamas und der nachfolgende Gaza-Krieg dienen hierbei als »Gelegenheitsstruktur«, erklärt Lisa Jacobs. »Das kann man sich mit dem Bild eines Katalysators veranschaulichen: Die Ansichten, die vorher schon da gewesen sind, werden seit dem 7. Oktober verstärkt an die Öffentlichkeit gebracht.« Betroffene berichteten immer wieder, dass Umstehende nicht helfen. In der Konsequenz wählen viele Strategien, um öffentlich nicht als jüdisch erkennbar zu sein. Das liege auch an einer bestehenden Verantwortungsumkehr, so Jacobs: »Ihnen wird zum Teil die Schuld für Angriffe gegeben, wenn sie zum Beispiel eine Israelfahne in der Hand haben. Dann heißt es, sie müssten sich nicht wundern, wenn ihnen etwas passiere.« In einem Fall genügte die gelbe Schleife, die die Solidarität mit den Terroropfern und den Angehörigen ausdrückt, um Aggressionen auszulösen. »Die bloße Sichtbarkeit von Jüdischsein wird zur Provokation erklärt.«

Dass Ernstnehmen von Jüdinnen und Juden sei wichtig und dass die von Antisemitismus Betroffenen sich nicht rechtfertigen müssten, so Jacobs. »Ihnen wird teilweise abgesprochen, überhaupt diskriminiert worden zu sein.« Es fehle Zivilcourage. »Die Hemmschwelle ist geringer geworden, da braucht es mehr Widerspruch.«

Solidarität wünschen sich auch die Besuchenden der DIG-Veranstaltung. Die Gesellschaft hat einige neue Mitglieder zu verzeichnen. »Nach der ganzen medialen Berichterstattung und der einseitigen Debatte in Deutschland konnte ich nicht anders«, erklärt eine Frau im Gespräch. »Ich bin überhaupt kein Vereinstyp, aber so will ich wenigsten ein kleines Zeichen setzen.«

»Betroffene brauchen Solidarität«, antwortet Kristin Kaufmann vom Fachnetzwerk Antisemitismus im Ariowitsch-Haus auf kreuzer-Anfrage. »Die nicht-jüdische
Zivilgesellschaft kann Kulturveranstaltungen oder Demonstrationen unterstützen, die jüdisches Leben sichtbar machen.« Antisemitismus sähen sich die Mitarbeitenden des Hauses sehr häufig ausgesetzt. »Das äußert sich in Form von Anrufen, E-Mails, postalischen Sendungen, Kommentaren auf Social-Content-Plattformen und antisemitischen Aussagen oder Beleidigungen während Veranstaltungen.« Antisemitismus, das sind keine einzelnen Vorfälle, sondern eine soziale Erfahrung. »Seit dem 7. Oktober stehen 24/7 zwei Polizei-Einsatzfahrzeuge vor dem Ariowitsch-Haus (siehe Foto). Dieser sichtbare Polizeischutz führt uns jeden Tag vor Augen, wie real und gegenwärtig Antisemitismus in Deutschland ist. Diese Sicherheitsmaßnahme ist durchaus ambivalent zu betrachten. Einerseits sind wir als Einrichtung dankbar, geschützt zu werden. Andererseits steht das für eine Realität, in der jüdisches Leben nur unter Ausnahmebedingungen existieren kann – somit wird der Ausnahmezustand zum Alltag.« Juden und Jüdinnen leben im Bewusstsein, immer potenzielle Ziele zu sein. »So wird der Polizeischutz zu einem Symbol für die ungelösten strukturellen Probleme unserer Gesellschaft.« Kaufmann formuliert eine klare gesellschaftliche Aufgabe: »Die Verantwortung, Antisemitismus entgegenzutreten, liegt primär bei Nicht-Jüd:innen. Wenn antisemitische Aussagen fallen, ist es wichtig, ihnen zu widersprechen und sie klar zu benennen – und sie nicht zu verharmlosen, zu relativieren oder gänzlich zu schweigen.«


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