Kurt Masur hat das kulturelle Leipzig jahrzehntelang verkörpert wie kein Zweiter. Zu DDR-Zeiten verfügte er als Gewandhauskapellmeister über eine weitreichende Entscheidungsgewalt, wie sie heute keinem Intendanten mehr zusteht. Er wusste sie künstlerisch und kulturpolitisch zu nutzen, formte „sein“ Orchester beharrlich zu einem international konkurrenzfähigen Klangkörper und sorgte willensstark dafür, dass Leipzig 1981 tatsächlich ein Neues Gewandhaus bekam. Im Wende-Herbst warf er seine Autorität in die Waagschale, indem er am 9. Oktober 1989 dem Aufruf der „Leipziger Sechs“ seine Stimme lieh.
Kurt Masur hat das kulturelle Leipzig jahrzehntelang verkörpert wie kein Zweiter. Zu DDR-Zeiten verfügte er als Gewandhauskapellmeister über eine weitreichende Entscheidungsgewalt, wie sie heute keinem Intendanten mehr zusteht. Er wusste sie künstlerisch und kulturpolitisch zu nutzen, formte „sein“ Orchester beharrlich zu einem international konkurrenzfähigen Klangkörper und sorgte willensstark dafür, dass Leipzig 1981 tatsächlich ein Neues Gewandhaus bekam. Im Wende-Herbst warf er seine Autorität in die Waagschale, indem er am 9. Oktober 1989 dem Aufruf der „Leipziger Sechs“ seine Stimme lieh.
Als Dirigent wird Kurt Masur weltweit hoch geschätzt. Seine künstlerische Nachwende-Karriere führte ihn als Chef nach New York, London und Paris. Der Stadt Leipzig und dem Gewandhausorchester hatte er zum Jahresende 1996 nach internen Querelen den Rücken gekehrt.
Am 18. Juli wird Kurt Masur 80 Jahre alt. Die Geburtstagsparty steigt jedoch schon vorher: Am 16. Juni dirigiert der Maestro ein Gala-Konzert mit Anne-Sophie Mutter (als Solistin im Mendelssohn-Violinkonzert) und Harald Schmidt (als Moderator) im Gewandhaus, das via Leinwand für alle Leipziger auf den Augustusplatz übertragen wird.
KREUZER: Herr Masur, Sie haben kürzlich in einem Interview bedauert, dass die Leipziger Ihnen mit zu viel Respekt begegnen würden. Wünschen Sie sich mehr Lockerheit im Umgang und weniger Heldenverehrung?
MASUR: Ja, genau. Wissen Sie, das Kuriose ist ja: Wenn Leipziger unterwegs sind, dann sind sie viel lockerer. In der Stadt selbst gibt es Formalitäten, die mich immer noch stören.
KREUZER: Woran liegt das?
MASUR: Vielleicht wird einem hier bewusster, dass der Masur für Leipzig mehr bewirken konnte als für New York. Denn dort gibt es viele von der Kategorie. Wenn man weiß, dass jemand Erfolg hat, dann ist man dort entweder ein echter Fan oder man sagt: Donnerwetter, prima! Ich gratuliere. In Amerika behandelt Sie fast jeder als seinesgleichen. Am Abend meines Antrittskonzertes machte der Schaffner – dort heißt er conductor – an der U-Bahn-Station eine Durchsage: Viele Grüße an meinen Kollegen Masur! (lacht) Das war ein schöner Witz. Es stand sogar in der New York Times. Hier ist oft die Bewunderung zu stark und auch die Unsicherheit: Wie soll ich einem solchen Mann begegnen?
KREUZER: Haben Sie deshalb Harald Schmidt als Moderator Ihrer Geburtstags-Gala am 16. Juni im Gewandhaus engagiert?
MASUR: Das war eine Idee meiner Frau. Vorher haben wir gerätselt. Ich will hier kein Estradenkonzert* geben und keine Brucknersinfonie zur Feier dirigieren. Ich möchte nicht so ernst damit umgehen. Es gab für mich in der ganzen Zeit, die ich hier in Leipzig war – als Student, als Opernkapellmeister – so viele Werke, die mir viel Spaß gemacht haben. Diese Seite kennt man von mir gar nicht mehr. Von Masur erwartet man immer die schweren Brocken. Das hat mich nie belastet, denn ich bin ein ernster Mensch. Ich lache zwar auch gern, aber im Prinzip nehme ich auch das Lachen und die Freude ernst. Als Gewandhauskapellmeister musste ich mich darauf einstellen, dass man diese gewichtigen Werke vom Gewandhausorchester erwartet. Das hat mich geprägt – und mich dann zuerst zu einem "Beethoven-Heroen" gemacht, dann zu einem "Brahmsianer", einem “Brucknerianer” und was weiß der Teufel noch alles. Aber gewisse Dinge erwartet man von mir gar nicht mehr. Und da mache ich mir dann den Spaß und gebe Konzerte, bei denen alle überrascht sind, dass ich damit auch etwas anfangen kann.
KREUZER: Zum Beispiel?
MASUR: Na, zum Beispiel den Gershwin-Abend hier. Oder Lenny Bernstein in New York. Oder die Minimalisten. Ich bin kein Experte darin geworden, aber ich habe versucht, in Amerika fallen gelassene Traditionen wieder neu zu beleben – Duke Ellington, Stan Kenton, den sinfonischen Jazz.
KREUZER: Wir sitzen hier in Ihrem Haus in Leipzig-Leutzsch, das Sie 1972 bezogen haben. Wie muss man sich Ihr Leben heute vorstellen – zwischen London und Paris, New York und Leipzig?
MASUR: Wir haben in New York noch einen großen Freundeskreis. Der ist dort leichter entstanden als hier in Deutschland, wo es als Gewandhauskapellmeister nicht so einfach war, Privatverbindungen einzugehen. Immer diese Förmlichkeit – Leute, die in unser Haus kommen und vor lauter Verehrung gar nicht wissen, dass sie sich natürlich benehmen sollten, damit man sich wieder als Mensch fühlen kann.
KREUZER: Als weltweit gefragter Dirigent waren und sind Sie viel unterwegs. Ganz banal: Fliegen Sie eigentlich gern, oder sind Ihnen die ewigen Reisestrapazen eine Last?
MASUR: Das Packen ist eine Last. Dass man nur für ein paar Tage hier ist und schon wieder packen muss. Das hat auch mit meiner Frau zu tun, denn wir werden immer abhängiger voneinander: Wenn wir zusammen sind, fühlen wir uns zu Hause. Wenn nicht, fühlen wir uns allein. Das ist eigentlich die Geißel unseres augenblicklichen Lebens.
KREUZER: Aber Sie reisen auch allein?
MASUR: Ja. Die Reisen damals mit dem Gewandhaus waren ja sehr weit vorausgeplant, da konnte man das besser steuern. Jetzt ist es so: Wenn ich mit meinem Pariser Orchester reise, dann spielen wir in vier, fünf Konzerten alle neun Beethoven-Sinfonien in Athen und fahren wieder zurück. Und beim nächsten Mal reisen wir woandershin und spielen Brahms. Wir sind dadurch zwar beweglicher und die Reisen ziehen sich nicht so endlos hin, aber man hat immer das Gefühl, aus dem Koffer zu leben.
KREUZER: Wie geht es Ihnen gesundheitlich?
MASUR: Blendend. In den letzten Jahren habe ich leider ein paar Mal die Segel streichen müssen – natürlich bei der Nierentransplantation**, da war es ja schon lebensgefährlich geworden. Ich würde sagen, ich war selbst schuld. Ich habe gedacht, es geht immer so weiter. Eines Morgens in London spürte ich etwas am Herzen und rief einen Arzt, der gegen acht Uhr an meinem Hotelbett stand und mich untersuchte. Er sagte: Na ja, Sie sind sehr labil im Augenblick. Und ich: Aber, Herr Doktor, ich habe um zehn Uhr Probe! Darauf er: Was haben Sie? Young man, Sie sind nicht mehr zwanzig. Sie bleiben heute im Bett! (lacht) Und das ist für mich ein geflügeltes Wort geworden.
KREUZER: Wenn Sie heute nach Leipzig kommen – wie geht es Ihnen mit dieser Stadt? Sie hat sich ja im Vergleich zu der Zeit, als Sie hier Gewandhauskapellmeister waren, enorm verändert und tut es immer noch. Was nehmen Sie davon wahr?
MASUR: Ich habe viel Freude an bestimmten Gegenden. Aber ich habe das Gefühl, dass die Stadt keine großen Risiken mehr eingeht, nicht jung genug ist. Man müsste Leipzig attraktiv für alle machen, die mit Kultur zu tun haben wollen!
KREUZER: Es gibt, Ihrer Biografie zufolge, zwei musikalische Schlüsselerlebnisse in Ihrer Kindheit und Jugend: zunächst Bachs "Kunst der Fuge" in der Nikolaikirche Ihrer Heimatstadt Brieg in Schlesien – da waren Sie zwölf – und dann, im Sommer 1943, in der Breslauer Philharmonie Beethovens Neunte, nach der Sie "tagelang nicht ansprechbar" waren und "wie abwesend durch die Straßen gelaufen sind". Wie haben diese beiden Urknall-Erfahrungen – Bach und Beethoven – Ihren späteren Weg beeinflusst?
MASUR: Bach eigentlich pausenlos, obwohl ich Angst davor hatte, seine Werke selbst zu dirigieren. Ich wollte Organist werden, und als der Arzt bei einer Handuntersuchung feststellte, dass das nie sein kann, weil die Finger verkrüppeln werden im Laufe der Zeit, war ich ratlos. Und dann, nach diesem Konzert mit der Neunten, sagte ich mir: Vielleicht kannst du Dirigent werden? Mit der Hand hast du dann nicht so viel zu tun. Das für mich Entscheidende wurde aber der Bach’sche Geist. Ich habe bereits durch die ”Kunst der Fuge” gelernt, dass bei Bach ein Wunder geschehen ist. Diese Musik wirkt so harmonisch, so bereichernd, sie besitzt eine enorme Farbigkeit und birgt bei aller klanglichen Vielfalt gleichzeitig eine vollendete Ordnung in sich.
Und Beethoven?
MASUR: Beethoven war dann mein neuer Weg. Ich wollte Dirigent werden. Und ich spürte, dass bei Beethoven etwas existierte, was es auch bei Bach gab – die Vorstellung einer göttlichen Kraft. Wenn ich heute die Missa solemnis dirigiere, wird mir sehr klar, wie Beethoven Gott als Partner ansieht und ihn sogar anspricht: Wenn du nicht zeigen kannst, dass du Gott bist – wie sollen wir an dich glauben? Es sind Forderungen an Gott, die bei Beethoven gestellt werden. Bachs innere Festigkeit ist das Geheimnis seiner Musik. Bei Beethoven ist die innere Unruhe mit einer enormen Sehnsucht verbunden. Mit ihm geschah ein Wunder in einer Zeit, in der er allein lebte, in der er krank war, total taub – und trotzdem den Auftrag spürte, eine Sinfonie zu schreiben, die die Hoffnungen der Menschheit ausdrückt.
KREUZER: Ist es möglich, diese Neunte Sinfonie, die Sie wahrscheinlich unglaublich oft dirigiert haben, ohne Automatismen, ohne Routine, ohne die Wiederkehr des Immergleichen zu dirigieren? Passiert da jedesmal was Neues bei Ihnen?
MASUR: Jedesmal. Und auch jedesmal in einer anderen Richtung. Wenn wir die Neunte hier wiederholt haben, war es jedesmal mein Antrieb, dem Chor, den Solisten, dem Orchester klarzumachen, dass es Menschen gibt, die die Neunte wieder neu hören wollen und müssen, als ob sie sie zum ersten Mal hören. Dieser erste große Choreinsatz mit „Freude“ war für mich das Wichtigste überhaupt. Dass es herausbricht aus dem Innersten der Sänger. Dass sie nicht nur kontrolliert sauber singen, sondern spüren, warum sie jetzt das Wort Freude singen. Es ist meist auch gelungen.
KREUZER: Sie waren – kaum vorstellbar – "ein scheuer Junge", in Ihrer Biografie erinnern Sie sich an "meine Weichheit, meine Unfähigkeit mich auszudrücken". Dann steht dort noch: "Ich wollte meine Scheu endlich überwinden, mich nicht mehr blamieren, nicht belächelt werden." Auch darum sind Sie letztlich Dirigent geworden?
MASUR: Es war derselbe Weg. Ich habe später, als ich hier an der Leipziger Oper in eine Krise geriet, sogar überlegt, Tonmeister zu werden. Dann hätte ich hier in Ruhe arbeiten können. Es ist natürlich in jungen Jahren schwer, weil man sich erst einen gewissen Respekt bei den Musikern verdienen muss. Heute ist es wahrscheinlich noch schwerer, weil die Ausbildung auf einem so hohen Standard ist. Deswegen gebe ich jetzt auch mehr Meisterklassen für junge Dirigenten, um ihnen Wege zu zeigen, überzeugend auf Orchester zu wirken. Ich sage immer wieder: Wenn ihr ein Orchester nicht dazu bringen könnt, dass es besser spielt, wenn ihr dirigiert, als wenn es allein spielt, dann seid ihr keine Dirigenten.
KREUZER: Offensichtlich war dieses Selbstbewusstsein aber auch bei Ihnen nicht von Anfang an da, sondern der Wunsch, Dirigent zu werden, war zunächst ein Hoffnungsanker und wurde dann zu Ihrem Weg.
MASUR: So war es, ja.
KREUZER: Sie kamen 1946 zum Musikstudium hierher nach Leipzig und wurden 1953 nach Stationen in Halle und Erfurt als Erster Kapellmeister der Städtischen Theater Leipzigs berufen. Welche Erinnerungen haben Sie an jene frühen Jahre? Sie erwähnten vorhin eine Krise in jener Zeit ...
MASUR: Die begann im zweiten Jahr meiner Tätigkeit hier an der Oper, eine typische Opernintrige. Ich habe als junger Dirigent von einem ersten Tenor verlangt, dass er seine Partie nochmal studiert, weil er sehr viel falsch gesungen hatte, und dieser Mann ging dann zum Direktor: Wieso muss ich mir von einem jungen Mann so etwas sagen lassen? Da ging das los. Ich war verzweifelt und lief wie ein geschlagener Hund herum, bis zwei Sänger mich zum Kaffee einluden und mir sagten: Pass mal auf, du läufst hier rum, als ob wir alle gegen dich wären. Dabei ist es bloß einer. Aber wenn du weiter so rumläufst, dann werden bald alle sagen, der Masur ist nicht stark genug, um sich durchzusetzen. Und das musst du verhindern! Du musst lernen, darüber hinwegzukommen.
KREUZER: Sie haben dann massiv dazugelernt und zwar vor allem Anfang der sechziger Jahre als Chefdirigent an der Komischen Oper in Berlin. Nach vier Jahren kündigten Sie dort, und es begann eine dreijährige, staatlich verordnete "Arbeitslosigkeit" für Sie. Waren das auch Jahre Selbstzweifels und der Ungewissheit oder konnten Sie damit ganz gut leben?
MASUR: Nein, ganz gut leben konnte ich nicht. Denn ich merkte in der Zeit, dass der Staat in der Lage gewesen wäre, den Namen, den ich mir inzwischen erarbeitet hatte, auch wieder auszulöschen. Ein Freund, der Komponist Wagner-Régeny, sagte mir damals bei einem Spaziergang: Wir müssen alle überleben, auch du musst überleben. Aber solange, bis du aus dieser Situation herauskommst, musst du versuchen, so viel zu arbeiten, dass hinterher alle erstaunt sind, wie gut du geworden bist. Das war für mich der wertvollste Hinweis in dieser schweren Zeit. Dann kamen diese drei Jahre. Am Schluss musste ich sogar mein Auto verkaufen, um finanziell zurechtzukommen.
KREUZER: Das Jahr 1967 brachte dann die Wende zum Guten ...
MASUR: Auf einmal wollten mich die Dresdner Philharmoniker als Chef haben, und das half mir wieder auf die Beine. Dann kam das Angebot von Venedig, dort den „Lohengrin“ zu dirigieren. Das zwang mich, zum Minister zu gehen und zu sagen: Herr Minister, ich habe in Venedig zugesagt. Da sagt er: Sie können das nicht, Sie wissen das. Und ich: Gut, ich gehe aber trotzdem. Ich werde versuchen, über die Grenze zu kommen, und wenn mir was passiert, sind Sie mit schuld. Er hat mir dann hinterher gesagt: Wenn er nicht gespürt hätte, wie entschlossen ich war, hätte er mich nicht schon am nächsten Nachmittag mit einem Visum überrascht. Das ging dann wahnsinnig schnell, und hinterher wurde nicht mehr diskutiert. Das war ein neuer Status. Es hatte sich für mich eine Tür geöffnet.
KREUZER: Als Sie das Gewandhausorchester 1970 als Chef übernahmen, war es – Ihren eigenen Worten zufolge – "keine Liebe auf den ersten Blick“. Dann haben Sie es 27 Jahre lang geleitet, und es wurde eine sehr beständige und erfolgreiche Ära. Wie blicken Sie heute auf die Leipziger Jahre zurück?
MASUR: Es war das Fundament meines künstlerischen Lebens. Ich wurde schon von Gewandhausmusikern unterrichtet: Mein Paukenlehrer und mein Cellolehrer waren Gewandhausmusiker. Das Gewandhaus in seiner Klangcharakteristik, in seiner Art, Brahms, Bruckner, auch Beethoven zu spielen, war für mich damals zum Nonplusultra geworden. Das Orchester hat mir sehr geholfen, erst als jungem Opernkapellmeister und dann als jungem Gewandhauskapellmeister. Es gab eine große Fairness. Natürlich gab es auch gefährliche Situationen, wenn manchmal mit zu viel Routine gearbeitet wurde oder sich das Orchester teilweise nicht gut vorbereitet hatte. Bis wir gemeinsam feststellten, dass es aufwärts ging. Und das war der nächste Schritt zum Ziel, dass ein neues Gewandhaus gebaut wird. Ich habe ja dann versucht, den Beschluss herbeizuführen ...
KREUZER: ... in dem Sie einen Brief an Honecker schrieben ...
MASUR: ... richtig. Dass es geklappt hat, ist aber auch ein Verdienst des damaligen Kulturministers. Er kam ja aus Leipzig und wusste, dass die Zukunft der Stadt auch von einem blühenden Gewandhaus abhängen würde. Als ich das erste Mal bekannt gab, dass ein Neues Gewandhaus gebaut würde, hat mir das vom Publikum nur Lachen eingebracht. Doch langsam wurde der Zweifel besiegt.
KREUZER: Sie haben das Orchester in über 1.800 Konzerten dirigiert. Welche Momente fallen Ihnen ein, die Sie am meisten berührt haben? Denn das war ja Ihr Credo – „nach dem Berührenden suchen“ …
MASUR: Es war zu viel (seufzt). Natürlich müssen wir die Tradition der Neunten zum Jahreswechsel in den Vordergrund stellen. Die Neunte als Friedensfeier, als Hoffnungsfeier, als Versuch, das Verbindende bei den Menschen zu suchen. Wie dieser erste Satz beginnt – das muss zu Beethovens Zeit so erregend gewesen sein! Das hat mit allem, was vorher geschehen war – nicht nur im Vergleich zur klassizistischen Achten – nichts mehr zu tun. Das hat schon mit der Musik der Zukunft zu tun. Es folgt ein ungebärdiges Scherzo. Diese Pauke muss wie ein Furioso in die damaligen Konzertsäle hineingefahren sein! Und dann kommt vielleicht sein größtes Adagio überhaupt – mit einer Einfachheit und Sauberkeit, wie man sich langsame Sätze einfach schöner und bewegender gar nicht vorstellen kann. Dann zitiert er noch einmal den Urknall, mit dem die Welt wahrscheinlich entstanden ist, und findet über die ungewöhnliche Form einer Art Kantate mit Schillers Worten „O Freunde, nicht diese Töne“ zu „Freude schöner Götterfunken“. Es ist für mich ein Wunder, was dieser Mann an philosophischen Gedanken in der Musik äußern konnte, ohne dass man als Zuhörer davon etwas wissen muss. Aber man spürt, dass etwas geweckt worden ist. Und was immer bei Beethoven geweckt wird, ganz gleich, wie er anfängt, ist am Schluss die Hoffnung, die ihn beseelt haben muss. Ohne diese Hoffnung für die Menschheit hätte das Werk gar nicht entstehen können.
KREUZER: Das Verhältnis zu Ihren Musikern beschreiben Sie selbst am liebsten mit dem lateinischen Begriff primus inter pares, "Gleicher unter Gleichen". Viele Kollegen aus dem Orchester, die Sie noch leibhaftig als Chef erlebten, haben das ganz anders empfunden. Inwieweit sind Sie heute – mit dem Abstand von zehn Jahren – offen für die Wahrnehmung der anderen Seite?
MASUR: Ich bin viel offener geworden und konnte das aus einem bestimmten Grund: Ich kam ans Gewandhaus als ein in der DDR groß gewordener junger Dirigent. Die Dresdner Staatskapelle hat in der Zeit immer versucht, Dirigenten aus dem westlichen Ausland zu engagieren. Das Gewandhausorchester hatte den Wunsch auch – und musste sich dann mit der Möglichkeit beschäftigen, mit dem Masur zurechtzukommen. Diese Konfrontation habe ich gespürt. Sie hat mich nicht belastet, denn ich hatte das Gefühl, ich könnte es schaffen – und habe dabei natürlich mit der Hilfe der Musiker gerechnet. Es gab aber viele Momente, in denen ältere Musiker am Gewandhaus versucht haben, mich zu verunsichern. Ich erinnere mich an eine katastrophale Probe von Bruckners Neunter, nach der ich den zweiten Violinen ankündigte: Wir müssen etwas im Streicherapparat verändern! Da stand einer der älteren Musiker auf und sagte: Junger Mann, wenn Sie sich mit uns einen Namen gemacht haben, dann können Sie so reden, wie Sie es jetzt tun – aber im Augenblick noch nicht! Er kriegte Applaus, aber ich war mir sicher, dass ich recht hatte. Ich bekam dann nach und nach mehr Freunde im Orchester, die zumindest sagten: Masur hat nicht ganz unrecht. Heute habe ich das Glück, dass man – ganz gleich, wo ich hinkomme – den Namen Masur kennt, ihn respektiert und erwartet, dass er gute Konzerte dirigiert. Das macht mich überall glücklich.
KREUZER: Der ehemalige 1. Konzertmeister Karl Suske beschreibt in der von Ihnen ja sicher autorisierten Biografie Ihre fordernde, manchmal unbeherrschte Art, Kritik an den Musikern zu üben. Dort heißt es: „Seine künstlerische Besessenheit hat ihn gelegentlich so mitgerissen, dass er die Selbstkontrolle zu verlieren schien.“ War es so?
MASUR: Ja. Meine Reaktionen auf manche Fehler waren Überreaktionen, absolut. Weil meine Spannung Überspannung war. Dennoch haben wir eine sehr große Gemeinsamkeit erreicht.
KREUZER: In Tokio haben Sie mal einen japanischen Solisten nach Hause geschickt, weil er nicht sauber spielte. Daraufhin musste das nächste Konzert unter Polizeischutz stattfinden, weil der Mann Sie bedrohte. Was war da los?
MASUR: Man hatte ihn mir empfohlen, er war vorhergehender Konzertmeister des Orchesters. Er kam zur ersten Probe mit dem Brahms-Violinkonzert und spielte so schlecht, dass viele Geiger im Tutti besser gespielt hätten. Ich habe ihm gesagt: Bitte, seien Sie so lieb, melden Sie sich krank! Ich kann nicht verantworten, mit Ihnen das Konzert so zu spielen. Er hat sich auch krank gemeldet, aber mir dann über seine Gewerkschaft gedroht. Die riefen bei meiner Frau an und erklärten ihr japanisch, dass sie mir Schwierigkeiten machen würden. Die Orchestergewerkschaft hatte aber einen Kontrabassisten, ein vierschrötiger Kerl, der zu meiner Frau sagte: Frau, hör gut zu. Das ist wie eine Kakerlake, davor musst du keine Angst haben.
KREUZER: Sie waren ein von Musikern und Mitarbeitern respektierter, aber auch ein strenger, ja gefürchteter Chef. Ihr Biograf Johannes Forner hingegen schreibt über Sie: "Wer Masur privat erlebt, lernt ihn von einer ganz anderen Seite kennen – gesellig, gelöst, familiär, zu Späßen aufgelegt." Wie erklären Sie sich selbst diese zwei Gesichter?
MASUR: Das ist das Gesicht des scheuen jungen Mannes, der ich geblieben bin. Ich habe mir angewöhnt, mit Selbstsicherheit auf die Bühne zu gehen. Wenn Sie mich aber durch Publikum laufen sehen, bin ich der scheue Junge, der vermeidet, jemandem ins Gesicht zu schauen.
KREUZER: Zu Ihrer Verabschiedung als Gewandhauskapellmeister vor reichlich zehn Jahren stellte der damalige Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube eine kühne These auf, nämlich: "Das Gewandhausorchester ist die einzige große Institution in Leipzig, die die Zeit der DDR ohne Beschädigung an Leib oder Seele überstanden hat." Würden Sie diesen Satz unterschreiben?
MASUR: Ja.
KREUZER: Wie sehen Sie selbst Ihre Rolle im Herbst 89?
MASUR: Voll Bescheidenheit. Wir haben am 9. Oktober in derselben Ecke gesessen, in der wir hier sitzen, und beraten. Das so genannte Wunder von Leipzig ist ein Verdienst dieser klugen Stadt – aller Leute, ganz gleich in welcher Funktion. Denn man hätte ja auch losschießen können ohne Begründung. Aber es wurde keine Fensterscheibe eingeworfen, es wurde sogar die Wache vor dem Stasi-Gebäude von den Mitarbeitern des Neuen Forums beschützt.
KREUZER: Wenn ich an das Gewandhaus der Wendezeit denke, dann gibt es da einen Widerspruch, der mich nicht loslässt: Einerseits waren Sie für viele Leipziger die einzig vorstellbare moralische Instanz, der man überhaupt noch Vertrauen entgegenbringen konnte – und Sie waren es, der „sein“ Haus für das Volk geöffnet hat; andererseits war das Gewandhaus in den ersten Nachwende-Jahren stark darauf bedacht, sich gegen die Zumutungen der neuen Zeit abzuschotten – Sie selber haben oft vom Gewandhaus als einer „Insel“ gesprochen. Wie passen die Offenheit des Herbstes 89 und diese Insel-Mentalität der frühen Neunziger zusammen?
MASUR: Beides kann gar nicht zusammenpassen. Man hat sofort versucht, andere Gesetze zu schaffen. Als mir plötzlich die Gesamtverantwortung durch einen Verwaltungsdirektor abgenommen werden sollte, habe ich die seit Mendelssohns Zeiten führende Position des Gewandhauskapellmeisters verteidigt. Damals wurde Sturm gelaufen gegen den Dinosaurier Gewandhaus. Es hieß, solche Orchester können wir uns einfach nicht leisten, Leipzig lebt über seine Verhältnisse. Das stimmt sogar: Leipzig hat immer über seine Verhältnisse die Kultur gepflegt!
KREUZER: Wie war es für Sie, im Herbst 1991 plötzlich der umjubelte „Maestro of the Moment“ in New York zu sein, während sich gleichzeitig in Leipzig alles im Umbruch befand? War es nicht eigentlich völlig unmöglich, auf zwei so verschiedenen Hochzeiten zu tanzen?
MASUR: Nein, im Gegenteil. Ich konnte dadurch in Leipzig mehr erreichen. Und wenn Masur nicht nach New York gegangen wäre, möchte ich nicht wissen, wie sein Schicksal hier verlaufen wäre.
KREUZER: Sie waren – und sind – in New York seitdem ein Celebrity, ein Star von vielen in der „Hauptstadt der Welt“. Können Sie diesen Status – bei aller Konzentration auf das Eigentliche, die Musik – manchmal auch genießen?
MASUR: Ich genieße die Zuwendungen auf der Straße in New York, in London und in Paris. Wenn das Publikum mich erkennt und sagt: „Maestro, wir vermissen Sie!“ Diese Wärme tut mir gut.
*Ein Estradenkonzert ist – laut Duden – eine "volkstümliche künstlerische Veranstaltung, bei der ein gemischtes Programm (bes. Musik, Tanz od. Artistik) dargeboten wird" (als Wort nur regional gebräuchlich).
**Im November 2001 unterzog sich Kurt Masur einer Organtransplantation an der Leipziger Universitätsklinik.