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Die Stadtschreiberinnen

Ein Hohelied auf Leipzigs Widersprüche: Warum im Pfarrhaus von Lindenau ein geheimnisvoller Kunst-Krimi entsteht

  Die Stadtschreiberinnen | Ein Hohelied auf Leipzigs Widersprüche: Warum im Pfarrhaus von Lindenau ein geheimnisvoller Kunst-Krimi entsteht

Im internationalen Vergleich ist die Stadt winzig, sie zählt nicht einmal eine halbe Million Einwohner. Trotzdem gilt sie als global city, denn außer zwei Hochschulen von Weltruf beherbergt sie eine Anzahl mächtiger Banken und Versiche-run-gen. Arbeitslosigkeit ist hier ein Fremdwort. Eine Studie hat sie 2007 zum sechsten Mal in Folge als Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität ermittelt.

Im internationalen Vergleich ist die Stadt winzig, sie zählt nicht einmal eine halbe Million Einwohner. Trotzdem gilt sie als global city, denn außer zwei Hochschulen von Weltruf beherbergt sie eine Anzahl mächtiger Banken und Versiche-run-gen. Arbeitslosigkeit ist hier ein Fremdwort. Eine Studie hat sie 2007 zum sechsten Mal in Folge als Stadt mit der weltweit höchsten Lebensqualität ermittelt. Die Rede ist von Zürich. Wer zöge schon freiwillig von dort nach Leipzig, genauer gesagt nach Lindenau? Die Fotografin Bea Huwiler und die Schriftstellerin Mitra Devi haben es getan. Sie haben ihre Wohnung in Zürich gekündigt, ihre Möbel eingelagert und wohnen seit Anfang April als »Artists in Residence« im Lindenauer Pfarrhaus. »Es ist schon komisch«, sagt Huwiler in nur leicht helvetisch gefärbtem Hochdeutsch. »Die Deutschen gehen in die Schweiz, weil es dort Arbeit gibt, und wir gehen von Zürich nach Leipzig.« Organisiert hat den Künstleraufenthalt der Bürgerverein Lindenau unter seiner überaus umtriebigen Chefin Christina Weiß. Schon im vergangenen Jahr arbeiteten die Fotokünstler Magdalena Kunz und Daniel Glaser, ebenfalls aus Zürich, auf Einladung des Vereins in Lin-denau. Als die beiden ihr Atelier für die Dauer ihres Leipzig-Aufenthaltes untervermieten wollten, hatten sich Huwiler und Mitra Devi auf das Inserat gemeldet. So kam der Kontakt zustande. In Leipzig wird das Künstlerpaar gemeinsam an einem illustrierten Leipzig-Krimi arbeiten, der im September als Buch vorliegen soll. Mitra Devi scheint für diese Aufgabe geradezu prädes-tiniert. Die 1963 geborene Züricherin ist von Haus aus Malerin, hat sich aber schon länger auf die Schriftstellerei verlegt und unter anderem einige hoch-gelobte Kurzkrimis geschrieben. Zuletzt erschien von ihr »Das Buch Antares«, ein rasanter Science-Fiction-Roman, der in mehreren Zeiten und Welten spielt. Die 49-jährige Bea Huwiler hat Malerei und Fotografie studiert und kann auf eine beeindruckende Reihe von Ausstellungen zurückblicken, zum Beispiel 2006 in der Galerie D21 in Leipzig. Ein Stipendium ist mit dem doppelten Stadtteilschreiberamt nicht verbunden. Bea Huwiler und Mitra Devi werden in Naturalien bezahlt, sie dürfen mietfrei im Pfarrhaus woh-nen, bekommen ihre Frühstücks-brötchen, die (selbstredend hausgemachte) Marmelade gratis und ein Dienstfahrrad gestellt. Das klingt charmant, aber nicht gerade verlockend. Trotzdem hat das Künstlerpaar nicht lange mit der Zusage gezögert. »Vieles ist natürlich noch im Aufbau, das könnte alles noch professioneller werden«, räumen die beiden ein. »Aber ausschlaggebend war die Herzlichkeit, die uns hier begegnet ist. Wir waren beeindruckt, mit welcher Energie hier die Dinge in Eigen-initiative angepackt werden.« Für die beiden Züricherinnen ist Leipzig ein kleiner Kulturschock. »Auf den ersten Blick ähneln sich Zürich und Leipzig«, meint Mitra Devi. »Der schöne Bahnhof und die herausgeputzte Innenstadt, das ist alles ziemlich ähnlich.« Aber die Unterschiede wurden schon nach wenigen Straßenbahnhaltestellen deutlich: »Als wir nach Lindenau kamen, konnten wir das überhaupt nicht einordnen. Du meine Güte, ist das vom letzten Krieg noch so übrig geblieben? « Ein Wohnungsleerstand wie in Lindenau wäre in der Schweiz undenkbar. »Dort ist alles perfekt und deswegen manchmal auch langweilig, ›tötelig‹, wie der Zürcher sagt. Leipzig ist wunderbar unperfekt, es gibt noch etwas zu tun.« Doch die Eindrücke sind widersprüchlich. »Wir nehmen sehr wohl auch die Melancholie und Depression wahr, die herrscht«, sagt Huwiler. Gerade die eng beieinanderliegenden Gegensätze, hier touristische Flaniermeile, dort Leerstand und Verfall, inspirieren jedoch zu einer spannenden Kriminal-story und ausdrucksstarken Fotografien. Über ihren Krimi wollen Huwiler und Devi verständlicherweise nicht allzu viel verraten. Weil für umfassende Recherchen ein halbes Jahr zu knapp ist, wird sich Mitra Devi auf die internationale Künstlerszene am Lindenauer Markt und in der Baumwollspinnerei konzentrieren. Auf keinen Fall soll bei dem Projekt ein herkömmlicher Regionalkrimi her-auskommen. Denn die Stadtschreiberinnen von Lindenau begegnen Leipzig mit einem fremden Blick, den sie auch in ihre Kunst hineintragen werden. Den Leipziger Lesern wiederum bietet der Krimi die spannende Möglichkeit, sich und ihre Stadt in der Wahrnehmung der Zürcherinnen zu erleben. Mit seinem Projekt der »Artists in Residence« demonstriert der Bür-gerverein Leipzig-Lindenau wieder einmal, wie viel sich auch mit geringem finanziellem Aufwand erreichen lässt. Ideenreichtum, kreatives Engagement und – oh ja – eine gute Portion Größenwahn stellen ein Kapital dar, über das Leipzig offensichtlich nach wie vor und in beträchtlichen Mengen verfügt. Und genau das macht, wie das Bei-spiel Mitra Devi und Bea Huwiler zeigt, die Anziehungskraft der Stadt für Kulturschaffende aus. Offen-heit und Weltläufigkeit, die das offizielle Leipzig so gerne für sich beansprucht und so oft nur simuliert, stellen sich, ob an Limmat oder Pleiße, nämlich ganz von selbst ein, sobald man sie einfach – praktiziert. Lindenau macht es vor.


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