Sommerzeit, Freiluftzeit: Leipzig liegt – frei nach Juli Zeh – bekanntlich nicht am Meer, hat aber dennoch allerlei angenehme Orte zu bieten, an denen man es sich bei strahlendem Sonnenschein so richtig gut gehen lassen kann. Für alle Neu-Leipziger und jene, die neugierig auf ihnen vielleicht noch unbekannte Flecken sind, haben die KREUZER-Redakteure ihre aktuellen Lieblingsorte zusammengestellt. Ein Text- und Bilderbogen zur Anregung für Leipzig-Liebhaber und solche, die es werden wollen!
Einfach mal sitzen bleiben
Früher habe ich die Bibliothek nur als eine Art Serviceschalter verstanden: reingehen, raussuchen, ausleihen, auf Wiedersehen. Dann kam das Studium und der Freihandapparat wurde zum besten Kommilitonen, die Bibliotheca Albertina zum angenehmsten Gastgeber. Hier hat jeder seine kleinen Sitznischen, Strom und schicke Leselämpchen. Auf dem Weg zum ungepolsterten Holzstuhl habe ich mich stets als einer der Läufer in einem M.-C.-Escher-Gemälde gefühlt: Die vielen Treppenauf- und zugänge, die Verästelungen und die maisonetteartigen Mehrfachebenen in den großen Lesesälen sind noch beim x-ten Besuch ein systematisches Chaos. Jeder Ausleihversuch wird zum Abenteuer. Also habe ich gelernt, einfach mal sitzen zu bleiben, mich über meine Beute zu freuen und zu lesen. Am besten klappt das in der Afrikanistik. Nur sie wiederzufinden, ist immer wieder eine Herausforderung. Also habe ich umgedacht: reingehen, raussuchen, sitzen bleiben – bis mich die poppige Schließansage wieder auf die Straße befördert.
Marcel Hartwig, Musik-Redakteur
Flauschige Ohren
Ein bisschen Glück gehört schon dazu – wie immer im Leben, so auch beim Reh-Appetit. Öffne die grüne Faltschachtel, die du soeben für fünfzig Cent aus dem Automaten gezogen hast. Schon trabt die Herde freudig auf dich zu und drängt sich ungeduldig hinterm Zaun. Keine Angst vor nassen Rehnasen! Strecke ohne Furcht die Hand hin, die Rehe werden dir gierig die kleinen Gras-Röllchen und den trockenen Mais aus der hohlen Hand schlabbern. Ihre Zungen kitzeln, ihre feuchten, schwarzen Knubbelnasen stupsen deine Hand. Wenn du geschickt bist, kannst du sie mit der einen Hand ablenken und mit der anderen an den Ohren kraulen. Rehe haben flauschige Ohren, während das Rest-Fell am Kopf eher borstig ist. Und wenn sich einer der hübschen Rehböcke ans Gitter wagt, kannst du sein wie mit Samt bezogenes Geweih streicheln. Am ersten Frühlingstag jedoch lagen die Rehböcke gemütlich in der Sonne. Die Rehe trollten sich in den Weiten der Wildpark-Wiese und knabberten frisches Gras. Wir schüttelten und klapperten mit unserer Schachtel – vergeblich. Dann endlich erbarmte sich ein einsames Reh und trottete auf uns zu. Doch wir waren nicht die Einzigen, die mit dem Futter klapperten. Das Reh hatte die Wahl zwischen mindestens fünf Händen. Hierher, hierher, riefen wir. Doch nur die halbe Faltschachtel konnten wir verfüttern. Der Rest blieb übrig – fürs nächste Mal.
ANNA POSTELS, THEATER-REDAKTEURIN
Auszeit im Grünen
Frühling und Friedhof – auf den ersten Blick eine merkwürdige Kombination. Aber der Alte Johannisfriedhof ist zu jeder Jahreszeit reizvoll. Am besten betritt man ihn über den Eingang zum Grassimuseum und taucht beim Durchqueren des Art-déco-Innenhofes stilvoll in die Vergangenheit ein. Am Tor des Friedhofs eröffnet sich ein schöner Blick über das parkähnliche Gelände. Im Frühling leuchtet das Gelb der Forsythien und das Grün der Linden; Amseln hüpfen auf den Wegen herum. Die eleganten Inschriften auf den alten Grabplatten sind zwar teilweise kaum mehr zu entziffern, wecken aber Neugier auf vergangene Zeiten und Schicksale. Zum Beispiel auf das Leben von Goethes Jugendliebe Anna Katharina Schönkopf, die hier begraben ist. Zu viel Nachdenklichkeit kommt allerdings schon wegen der regelmäßig hinter den Mauern entlangratternden Straßenbahnen nicht auf; so haftet dem Friedhof etwas angenehm in die Welt Eingebundenes an. Hier kann man sich mitten in der Stadt eine kleine Auszeit im Grünen nehmen.
ANDREA KATHRIN KRAUS,
SPEZIAL-REDAKTEURIN
Zwölf Stunden Leipzig
Eine Panorama-Aufnahme im Uhrzeigersinn ergibt: eine Baustelle (Freilegung Pleißekanal) mit allem, was das Kinderherz begehrt. Dann – Zeiger auf 2 Uhr – die Stele mit der Mendelssohn-Büste; dieser übersieht geflissentlich einen DDR-Wohnkasten an der Ecke Simson- und Mozartstraße und schaut (5 Uhr) stattdessen auf die Gedenkplatte fürs alte Neue Gewandhaus am neuen GWZ. Daneben die prächtig renovierte Universitätsbibliothek. Auf 7 Uhr steht das Bundesverwaltungsgericht, dann öffnet sich der Blick aufs Neue Rathaus (9 Uhr). Das letzte Viertel des Rundblicks gehört dem tosenden Verkehr auf der Harkortstraße mit einer typischen Leipziger Silhouette aus alt, neu, heil, kaputt: Parkplatz auf Brache, Eckhaus-Ruine, Baulücke, Penthouse auf saniertem Gründerzeitbau, scheußlicher Nachwende-Neubau.
Und mittendrin in diesem Kreis, über dem sich der Himmel immer ganz hoch reckt wie auf einem Gemälde, liegt mein Leipziger Lieblingsort: der kleine, dreieckige, grüne und über einer Tiefgarage neu gestaltete Simsonplatz. Hier können Eltern und Kinder rennen, Joggen lernen, Radfahren üben, auf den Holzkästen und Stufen zum Kanal hinab sitzen, Steinchen werfen – und Leute begucken, deren Wege sich hier kreuzen, treffen und wieder trennen.
ULRIKE GROPP, REDAKTEURIN FÜR
KINDER UND FAMILIE
... in den Himmel hinein
Eigentlich mag ich Spielplätze nicht besonders. Sie sehen irgendwie alle gleich aus, und die Momente, in denen ich es schaffe, in meiner Vaterrolle zwischen Rutsche und Sandkasten beglückend über mich hinauszuwachsen, sind leider überschaubar. Aber dieser Ort hier ist anders, nahezu spektakulär! Wo bitte gibt es das sonst in Leipzig: Himmelsschaukeln, von denen aus kleine Feen oder Hexen laut juchzend mit etwas Schwung und Fantasie das nahe Zentralstadion überfliegen können? Da möchte ich manchmal mit – so ansteckend ist das Lachen meiner fünfjährigen Tochter, wenn ich sie im Spaß anflehe, bitte nicht abzuheben. Und erst weiter unten »die Wellen« – eine Asphaltpiste, auf der skatende Teenager in friedlicher Koexistenz mit Laufrad-Rasern wie meinem dreijährigen Sohn an ihrer Technik feilen; köstliche Szenen spielen sich da ab. Auf den Rasenflächen dazwischen kann man Fußball spielen – und dabei von besseren Zeiten träumen, in denen das Leben auch in die tote WM-Arena nebenan zurückkehrt.
BJÖRN ACHENBACH, CHEFREDAKTEUR
Verwilderte Winkel
Meine Großeltern wohnten in Mockau, direkt am Abtnaundorfer Park. Noch heute bin ich gern dort. Der Park ist wild und romantisch und an vielen Ecken scheint seit Urzeiten alles unverändert. Einen Spielplatz gab es damals hier nicht. Ich turnte am liebsten am Teich oder am Wehr der Parthe herum – was meine Oma regelmäßig in Angst und Schrecken versetzte und ständige Suchaktionen auslöste. Unerreichbar war für uns als Kinder der Pavillon mitten im Teich. Nicht mal mit einem selbst gebauten Floß schafften wir es auf die winzige Insel. Was mir damals schon gefiel: Dieser Park im Norden Leipzigs wirkt nie gepflegt und aufgeräumt, auch wenn das Gras inzwischen regelmäßig gemäht wird. Noch heute gibt es dort verwilderte Winkel, noch immer rankt Efeu um uralte Bäume und die Parthe fließt durch kleine Bogenbrücken. Die Kinder tollen inzwischen auf einem Spielplatz oder gehen zum Reiterhof. In Abtnaundorf siehts aus wie auf dem Dorf.
PETRA MEWES, GASTRO-REDAKTEURIN
Spröder Charme
Auf den Fahrradweg am Karl-Heine-Kanal gelangt man zum Beispiel von der Erich-Zeigner-Allee. Richtung Westen passiert man bald Industriedenkmäler aus vergangenen Zeiten. Die Flora dringt bei der Zurückeroberung des Terrains Jahr für Jahr weiter vor. Mit zurückgelegter Wegstrecke verliert die Umgebung zusehends das Städtische, bis man das Ufer wechseln muss und an einer Kleingartensiedlung vorbei den Hafen erreicht. Der Bau wurde in der Nazizeit begonnen und kurz vor Kriegsende wieder abgebrochen. Seitdem harren die ungenutzten Überbleibsel der Anbindung Leipzigs ans Meer. Hier kann man zwar nicht das Ein- und Ausfahren von Frachtschiffen beobachten, aber der Lindenauer Hafen hat dieses unaussprechliche Etwas von Industriebauten im Grünen, die halb verloren, halb abschreckend daliegen und nach denen man sich im Vorbeifahren unwillkürlich noch mal umdreht.
BEATE DIETRICH, SERVICE-REDAKTEURIN
Erfrischend wenig los hier
Das Schöne an Leipzig ist, dass die Stadt auch irgendwo zu Ende ist. Während sich anderswo auch hinter der Stadtgrenze Vorort an Vorort reiht, kommt man, wenn man Leipzig Richtung Süden verlässt, von urbanen Straßenzügen direkt ins Grüne. Hinter der Auffahrt zur B2 nach links abbiegen und nach etwa 10 Minuten Fußmarsch erinnert nur das entfernte Donnern der Autos daran, dass eine Stadt in der Nähe ist – und die grauen Röhren, die sich durch den Auewald ziehen. Keine Ahnung, wen diese Leitungen womit versorgen, aber Grau auf Grün gibt einen schönen Kontrast, gerade wenn es Frühling wird. Zu viel Natur ist ja für einen Stadtmenschen auch nicht gut. Hier trifft man zwar vereinzelte Spaziergänger, aber sonst ist erfrischend wenig los. Keine Horden von Nordic Walkern oder anderen Gesundheitsfanatikern stören das Bild, niemand beklagt sich über frei laufende Hunde. Kein Lieblingsplatz, sondern eine Lieblingsstrecke.
THYRA VEYDER-MALBERG,
POLITIK-REDAKTEURIN
Leander und der Eismann
Jede Stadt hat ihre Flaniermeile. Seit die Leipziger City nur noch zum Shoppen taugt, ist diese Funktion auf die Sachsenbrücke übergegangen, die den Johannapark übers Wasser nach Schleußig führt. Das steinerne Bauwerk ist breit genug für die Grundregel des Flanierens: In der Mitte bewegt man sich, am Rand sitzt und schaut man. Ein italienischer Eismann bedient im Sommer aus dem Wagen heraus. In seinen kurzen Pausen kann man ihn durchs Seitenfenster beobachten: Niemand raucht so cool wie er. Wenn er im Winter in Sizilien weilt, versorgt ein deutscher Kollege den Leipziger Parkway mit Bockwurst und Glühwein. Gegenüber spielt ab fünf Grad Außentemperatur Alleinunterhalter Leander sehr freie Interpretationen von Elton John und Richard Marx. Das Ganze geht tatsächlich ans Herz. Die Sachsenbrücke erlaubt sich auch mal gehörigen Kitsch: Ende Dezember tanzten mehrere Paare zu Leanders Rhythmusgruppe.
ROBERT SCHIMKE, KUNST-REDAKTEUR
Maritime Illusion
Viel Wasser hat Leipzig ja nicht zu bieten. Aber schaut man von der Industriestraße, die hier für ein paar Meter Karlbrücke heißt und die Stadtteile Schleußig und Plagwitz miteinander verbindet, über die an dieser Stelle überraschend breite Weiße Elster Richtung Norden, kann man, je nach Gemütslage, in seinem MP3-Player Hans Albers’ »Kleine weiße Möwe« oder Jacques Brels »Amsterdam« abspielen und sich für einen Augenblick der Illusion hingeben, man stünde am Hamburger Hafen oder auf irgendeiner Grachtenbrücke in Amsterdam. Die prächtigen Gründerzeit-Gebäude der ehemaligen Buntgarnwerke, welche sich noch vor Jahren – wie ganz Plagwitz – in einem erbarmungswürdigen Zustand des Verfalls befunden haben, erstrahlen unter sommerlichem Himmel auch schon einmal wie ein südlicher Palazzo. Wenn der schwarze Schnee von den Dächern rinnt, erinnern sie wieder an ein viktorianisches Kolonialmuseum. Das kommt, wie gesagt, auf die Stimmung des Betrachters an. Meistens denke ich an Amsterdam.
Olaf Schmidt, Literatur-Redakteur
Gespenstisches Pfeifen
Mein Lieblingsort unter freiem Himmel ist leicht zu übersehen, fernab der Naturidylle, aber aufgrund seiner sonderbaren Geräusche unglaublich anziehend – die Baustelle des City-Tunnels an der Markt-Südseite. Nicht wegen des Bautreibens an sich, sondern wegen zwei neugierig in die Welt schauender Rohre. Wofür sie dort stehen, weiß ich nicht, möglicherweise dienen sie der Lüftung. Alle zwanzig bis dreißig Sekunden kommt aus ihnen ein gespenstisches Pfeifen, das an einem weitgehend menschenleeren Sonntagmorgen auf dem ganzen Markt zu hören ist. Und es klingt, als ob bereits regelmäßig S-Bahnen durch die Tunnelröhren rauschen würden. Selbst wenn ich tagsüber an den Rohren vorbeikomme, halte ich kurz inne und warte auf die nächste »Durchfahrt«. Im Frühling werde ich sicherlich noch häufiger und länger lauschen.
Jens Wollweber, Clubbing- und Chique-Redakteur
Überall Spuren
Eigentlich gibt es sie überall, die Ruinen und leer stehenden Häuser. Wer nie eines bestiegen hat, kennt Leipzig nicht. Ein maroder Zaun, eine niedrige Mauer – und schon ist man im Land der Entdecker. Riesige Hallen von alten Fabriken. Gemäuer von einer Schönheit, die heute der Funktionalität weichen muss. Überall Spuren von Arbeit und Leben: alte Maschinen, ein bürgerliches Kaminzimmer, Schlafsäcke von Obdachlosen, der Geruch von Geschichte. Die Treppen geht es hinauf, und oben ein kleines Wunder: ein irrwitziger Ausblick, als säße man auf einer Wolke, könnte fliegen und würde dennoch nicht gesehen. Ein Hauch romantische Verklärung – wie im Film und trotzdem spürbar wahr. Wie schön müsste das sein, wäre es nicht verboten. Zum Glück hat uns ein anonymer Engel ein Foto zugeschanzt.
JÖRN SEIDEL, FILM-REDAKTEUR