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Kultur

Poppy’s Welt

Gute Laune als konstruktive Lebensstrategie: Sally Hawkins verkörpert in »Happy-go-lucky« die moderne Kindfrau und entflieht damit nicht nur der Realität

  Poppy’s Welt | Gute Laune als konstruktive Lebensstrategie: Sally Hawkins verkörpert in »Happy-go-lucky« die moderne Kindfrau und entflieht damit nicht nur der Realität

Es soll tatsächlich Menschen geben, die jeden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht aufwachen. Die Paarung von unverwüstlicher Gelassenheit, stoischer Lebensfreude und Dauergrinsen dieser sonnigen Gemüter stößt bei der tendenziell miesepetrigen Umwelt größtenteils auf Unverständnis und Verstörtheit.

Es soll tatsächlich Menschen geben, die jeden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht aufwachen. Die Paarung von unverwüstlicher Gelassenheit, stoischer Lebensfreude und Dauergrinsen dieser sonnigen Gemüter stößt bei der tendenziell miesepetrigen Umwelt größtenteils auf Unverständnis und Verstörtheit. Genervt und irgendwie neidisch werden den Ewig-Gute-Laune-Menschen gerne Naivität, Realitätsverweigerung, fehlende Selbstreflexion oder andere psychische Knackse unterstellt.

Poppy, die Protagonistin aus Mike Leighs »Happy-go-lucky«, ist so ein Exemplar Frohnatur. Eine Quasselstrippe, die ihr Herz auf der Zunge trägt und sich eine kindliche Unbeschwertheit bewahrt hat. Leichtfüßig springt sie auf ihrem Trampolin durch die Welt. Untermalt wird ihr Dasein von ihrer Vorliebe für Kirsch- und Erdbeerketten, wild kombiniert mit zigeunerhaft klirrenden Armreifen, bunten Ringelshirts, Boots und Spitzenleggins. Obwohl sie bereits mit kreativem Überschwang als Grundschullehrerin unterrichtet, ist sie selbst irgendwo stehen geblieben zwischen Kind und Frau. Als exotischer Paradiesvogel irritiert wie fasziniert sie ihre Mitmenschen, insbesondere ihren mürrischen Fahrlehrer Scott. Ein frustriert einsilbiger Verschwörungstheoretiker (Typ Bulldogge), der schwarze Pädagogik vom Feinsten betreibt. Zwei Welten prallen aufeinander und die subtilen Machtspiele während der Fahrstunden nehmen gar sadistische Züge an. Doch Poppys kindlicher Charme, kombiniert mit einem Mini und den heiß geliebten Boots, stürzen den armen Scott unweigerlich in ein Gefühlschaos.

Der englische Regisseur Mike Leigh wendet sich vom Genre der Sozialdramen ab und zeigt ein Feelgood-Movie mit Tiefgang, getragen von der einzigartigen Performance Sally Hawkins’ als Poppy. Als studierter Designer kreiert Leigh dazu die passende Bilderbuch-Ästhetik mit knalligen Farben und verspielten Ausstattungsdetails. In bunt aneinandergeklebten Episoden wird durch Poppys Leben geblättert, das trotz allem nicht immer wie im Bilderbuch verläuft. Leigh verteidigt wie hinterfragt die Sonnenschein-Mentalität seiner Filmheldin, indem er nicht nur eine differenzierte Charakterstudie entwirft, sondern diese in Bezug zum gesellschaftlichen Umgang mit der heiteren »Andersartigkeit« setzt. Poppy selbst scheint ihre Lebensweise kurzzeitig infrage zu stellen, sucht sie doch die Konfrontation mit dem Griesgram Scott, ihrem dunklen Pendant – Furcht einflößend verkörpert von Eddie Marsan. Im Gegensatz zu ihm hat Poppy jedoch genug Freunde, wie ihre langjährige Mitbewohnerin Zoe, die ihre Unbefangenheit zu schätzen wissen und sie gerade dafür lieben.

Mit der Figur Poppy greift Leigh die Thematik der Kindfrau auf. Das facettenreiche Phänomen wurde im 20. Jahrhundert zur gesellschaftlichen Modeerscheinung und durch Vladimir Nabokovs Roman »Lolita« erstmals definiert. Vor allem junge Schauspielerinnen wie Brigitte Bardot gründeten auf dem Kindfrauen-Image ihre Karriere. In der heutigen Gesellschaft, die nicht erwachsen werden will, sich nach ewiger Jugend und grazilen Körpern sehnt, ist die Kindfrau in den Medien wie auf der Straße präsent. Poppy erinnert speziell an zwei prägende (Kind-)Frauen-Bilder der Filmgeschichte. Zum einen an Audrey Hepburns chaotisch-charmante Holly Golightly in »Breakfast at Tiffany’s«, zum anderen an Audrey Tautous verträumte »Amélie«. Nicht nur die zarte Statur und das Kindchenschema der Darstellerinnen sind ähnlich, auch wesentliche verspielte Charakterzüge finden sich hier wieder, stets gepaart mit einer untergründigen Melancholie. Auch Poppy braucht neben Phasen des quirligen Redewirrwarrs besinnliche Ruhepausen (der Zuschauer übrigens auch), in denen sie ganz bei sich ist und zu pompös-klassischer Musik gedankenversunken durch Lavendelfelder streift.

Insgesamt scheint Poppy wie eine emanzipierte, sozialisierte Variante derselben. Weitaus weniger naiv und verträumt als ihre Vorgängerinnen geht sie unbeirrbar ihren eigenen Weg, nicht, wie im Falle Amélie, von einem Mann gesteuert. Auch wenn sie manchmal wie von einem anderen Stern zu kommen scheint, reagiert sie auf soziale Missstände der Gesellschaft und übernimmt rührend Verantwortung für ihre Schulschützlinge. Somit umschifft Leigh gekonnt die Gefahr, Poppys Unbeschwertheit als naive Realitätsflucht zu deuten, denn sie stellt sich den Widrigkeiten des Lebens auf ihre Art, indem sie das Kindfrauen-Dasein als konstruktive Lebensstrategie nutzt.

Interessant ist die Verschmelzung von Darstellerin und Rolle, was im Falle Hawkins auch auf der spezifischen Arbeitsweise der Regie beruht. Auf Improvisationsbasis entwickelt Leigh zusammen mit seinen Schauspielern über mehrere Monate hinweg die Figuren, die dann die Grundlage für das Drehbuch bilden. Dementsprechend gelingt Hawkins eine Metamorphose: Sie ist Poppy, von der Nasenspitze bis zum kleinen Zeh. Dafür wanderte der Silberne Bär auf der diesjährigen Berlinale zu Recht in ihre Hände. Im Falle Hepburn und Tautou wurde den Darstellerinnen die Symbiose zum leidigen Verhängnis, konnten sie doch das Kind in der Frau nicht mehr abschütteln. Bleibt abzuwarten, wie sich Hawkins von dem Kindchenschema emanzipiert. Vorerst sollte man sich im Kino von ihrem herzerfrischenden Lachen anstecken lassen.


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