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Politik

»Viele können mit meinem Engagement nach 89 schlecht umgehen«

Gesine Oltmanns ist Leipzigs zweite Ehrenbürgerin

  »Viele können mit meinem Engagement nach 89 schlecht umgehen« | Gesine Oltmanns ist Leipzigs zweite Ehrenbürgerin  Foto: Christiane Gundlach

Gesine Oltmanns springt noch mal vom Sofa in der Denkmalwerkstatt auf, um uns das Modell des Siegerentwurfs fürs Leipziger Einheits- und Freiheitsdenkmal zu zeigen. Als Projektleiterin bei der Stiftung Friedliche Revolution ist sie entscheidend an dessen Entstehungsprozess beteiligt. Oltmanns ist eines der Gesichter der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Die Bilder, als die Stasi Oltmanns und ihrer Freundin Katrin Hattenhauer ein Banner auf dem Nikolaikirchhof aus den Händen riss, gingen um die Welt. Für ihr politisches Engagement wurde Oltmanns nun als Ehrenbürgerin Leipzigs ausgezeichnet, auch für ihr Engagement nach 1989: für ihre Positionierung gegen Autokraten in Osteuropa und Rechtsextreme bei Legida und Querdenken.

Sie haben auf unsere Interviewanfrage geschrieben, dass die Ehrenbürgerschaft noch eine »ungewohnte Rolle« für Sie ist. Können Sie inzwischen etwas damit anfangen?

Ja, inzwischen habe ich mich irgendwie damit vertraut gemacht. Für mich persönlich ist es etwas Wunderschönes: Meine Eltern sind hier aufgewachsen und haben sich in Leipzig kennengelernt. Ich bin 1983 dann aus freien Stücken in die Stadt gekommen und bin reingewachsen in die Kultur und Kunst und Jugendszene der Achtziger und habe mich dann ab 87 intensiver in den Oppositionsgruppen engagiert. Dass die Stadt mir jetzt so eine große Würdigung entgegenbringt für das, was ich immer wieder angepackt habe, das finde ich schon was sehr Besonderes und bin tief gerührt.

 

Wissen Sie schon, wie Sie diese Rolle ausfüllen wollen?

Erst mal ist es ja so, dass meines Wissens eigentlich nichts weiter dranhängt außer einer Grabstätte auf einem städtischen Friedhof (lacht). Aber ich glaube, es gibt unheimlich viel Spielraum und ich finde es sehr ungewöhnlich, dass man in verhältnismäßig jungen Jahren – wenn man das mit fast 60 sagen darf – so eine Ehrung bekommt.

 

Sie sind erst die zweite Frau überhaupt, die nach der inzwischen verstorbenen Channa Gildoni diese Auszeichnung erhält. Im Rahmen unserer Titelgeschichte vom März 2023 haben wir 83 Frauen als Ehrenbürgerin vorgeschlagen – Sie waren auch dabei.

Diese Aktion hatte meine allergrößte Sympathie. Ich war verblüfft, wie viele tolle Frauen es eigentlich zu würdigen gibt in unserer Stadt. Daher war es so ein schönes Aufatmen: Aha, jetzt werden die vielen Frauen gesehen, die hier über Jahrhunderte die Stadt zu der gemacht haben, die sie heute ist.

 

In der Bürgerrechtsbewegung waren Sie nie in einer feministischen Gruppe aktiv, als neunfache Mutter aber damit konfrontiert, Ihr politisches Engagement mit der Familie vereinbaren zu müssen, oder?

Es gab natürlich eine Zeit, in der ich bewusst diese Care- und Familienarbeit mit meiner ganzen Rolle ausgefüllt habe. Ich habe aber auch sehr schnell begriffen, dass für unsere Kinder die Widerstandsgeschichte von meinem Mann und mir eine interessante und wichtige war und dass ich diese Rolle auch weiter trage. Dieses politische Interesse, diesen eigenen Aktivismus habe ich immer verbunden mit dem, was mich auch persönlich umgetrieben hat. Das ist tatsächlich in der Bürgerrechtsbewegung verwurzelt, es waren immer Themen wie Rechtsstaatlichkeit, die mich selbst politisiert haben.

 

CDU-Fraktionschef Michael Weickert sagte im Stadtrat zu Ihrer Auszeichnung, dass die Konservativen mit ihrer Zustimmung gerungen hätten, weil Sie sich politisch »gern auch gegen uns oder gegen andere« äußern würden. AfD-Stadtrat Udo Bütow kritisierte Sie für die von Ihnen initiierte Leipziger Erklärung 2021 gegen Querdenken. Das BSW enthielt sich bei der Abstimmung. Am Ende bekamen Sie die notwendige Zweidrittel-Mehrheit sehr knapp. Wie haben Sie die Debatte im Stadtrat wahrgenommen?

Ich war beeindruckt, dass die Zweidrittel-Mehrheit sich doch zusammengefunden hat, das hatte ich nicht unbedingt für möglich gehalten. Ich fand es total ehrlich, was Herr Weickert gesagt hat. Ich glaube, das ist auch das Ringen. Ich nehme auch gern an, diese Würde zu öffnen und viele mit einzubeziehen. Und ich habe mich insgeheim sogar gefreut über die Rede von Herrn Bütow: Meine Kinder und ich waren uns einig, dass sie eine runde Sache war, weil er die Leipziger Erklärung fast komplett verlesen hat, die 2021 wirklich was aufgegriffen hat, wo es an die Substanz der Demokratie ging, unangemeldete, zum Teil aggressive »Spaziergänge« in Sachsen stattfanden, ohne dass das Versammlungsgesetz durchgesetzt wurde und es gefühlt nah am Kippen war.

 

Mit Christoph Wonneberger stand dort ein ehemaliger Mitstreiter aus dem Herbst 89 auf der anderen Seite, hat bei Querdenken gesprochen. Sie sahen in seinem Auftritt damals eine gewisse Logik, weil er schon immer ein dialogorientierter Mensch gewesen sei. Was hat Sie denn davor bewahrt, dort zu stehen?

 

Dass ich die Gefahren gesehen habe, die der Ruf aus diesen Versammlungen auch für das demokratische Gemeinwohl mit sich brachte. Und ich habe es sehr wohl toleriert, dass die da auftreten. Aber ich habe eben genauso Gegenprotest für wichtig und notwendig gehalten.

 

Die Stadt begründet Ihre Auszeichnung auch damit, dass Sie stellvertretend für viele Bürgerrechtlerinnen und -rechtler stehen würden. Sehen Sie sich denn so, als Stellvertreterin?

Das ist ein Teil der Würdigung und da wollen sich sicher auch einige nicht von mir vertreten sehen. Zumindest von dem, was ich nach 89 gemacht habe. Da sind wir doch sehr verschiedene Wege gegangen. Aber das Engagement um 89 haben viele mitgetragen.

 

Haben Sie schon Reaktionen von damaligen Weggefährten erhalten?

Es hat sich rumgesprochen. Es gab viele sehr freundliche, sehr schöne Reaktionen. Und die, die sich aufregen, die sagen es mir eh nicht ins Gesicht. Einige können mit meinem Engagement nach 89 schlecht umgehen.

 

Stört Sie denn diese Personifizierung?

Wenn es eine Chance gibt, dadurch für die Sache, für das Thema was zu bewirken oder jemanden damit emotional anzusprechen, dann finde ich, ist es ein gutes Mittel, Geschichte lebendig zu erzählen. Aber ich möchte dann weiterführend gern Fragen zum gesamten Kontext provozieren und Neugier wecken.

 

In einem Interview mit dem kreuzer 2019 haben Sie gesagt, Sie hätten sich im Herbst 89 immer mehr zwischen den Gruppen bewegt: die einen seien Ihnen zu »konspirativ«, die anderen zu »ökofreakig« gewesen. Wie stark ist denn heute noch Ihre Identifikation mit den Bürgerrechtlerinnen und -rechtlern?

Was mir gut tut, ist, dass es immer wieder Ereignisse gibt, zu denen wir, ohne unsere Positionen genauer anzuschauen, miteinander agieren. Zum Beispiel bei den Mahnwachen zur Ukraine, zu Belarus. Da findet man ganz schnell zusammen und da ist auch dieser Ort Nikolaikirche total wichtig. Irgendwie ist es toll, dass sich die Tradition erhalten hat, dass man diese starken, emotionalen, gemeinsamen Momente dort pflegt.

 

Spätestens die Corona-Pandemie war eine Zäsur, nach der die Rede von einer DDR 2.0 immer häufiger zu hören war. Wie kann es sein, dass Menschen die damals selbst erlebte Diktatur heute so verharmlosen?

Das ist absurd und enttäuschend. Dass Mitstreiterinnen von damals das so formulieren, habe ich aber noch nicht gehört. Es ist notwendig, die Zeitgeschichte sichtbar zu halten, dass wir Diktaturerfahrung immer wieder vermitteln und klar machen: Was ist Autokratie? Was bedeutet Diktatur? Was bedeutet demokratische Mitgestaltung? Es ist eine ganz große Aufgabe, dass man das Jahr 1990 und die Selbstdemokratisierung der DDR-Gesellschaft in dieser Zeit noch viel mehr betrachtet und erzählt.

 

Es sind aber auch viele Hoffnungen und Erwartungen nicht in Erfüllung gegangen. Sie meinten selbst einmal, dass Sie es fast ein bisschen bereuen, dass Sie sich in dieser Zeit nicht noch mehr engagiert haben.

Ja, das sehe ich jetzt noch ein bisschen stärker so. Klar, es gab diesen großartigen Erfolg der Friedlichen Revolution, der im März 1990 zur ersten freien Volkskammerwahl geführt und damit auch die DDR-Gesellschaft grundlegend verändert hat. Und dieser Aushandlungsprozess zu Möglichkeiten und Visionen, der war durch das Wahlergebnis demokratisch gesetzt. Auf den Demonstrationen war man sich sehr einig, man wollte Veränderung, man wollte Verantwortung übernehmen. Aber die Zeit war einfach zu kurz, um Reformen so zu entwickeln, dass sie gesellschaftstauglich waren.

 

Das klingt sehr rational. Sind Sie nicht emotional oder enttäuscht?

Enttäuschung würde ich es nicht nennen, denn wir haben ja was sehr Gutes bekommen, das besser war denn je in Ostdeutschland. Aber was natürlich mitschwingt, ist, dass man denkt, man hätte mehr draus machen können, neue Ansätze für die gesamte Bundesrepublik finden können. Man hätte damals schon die Zukunftstauglichkeit von gesellschaftlichen Visionen stärker prüfen können.

 

Mit Tobias Hollitzer, einem anderen DDR-Bürgerrechtler, liegen Sie über Kreuz, weil er als Leiter der Runden Ecke einen anderen Ansatz bei der Erinnerungskultur verfolgt. Hollitzer will konservieren. Mit der Stiftung Friedliche Revolution haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, die Ideen von damals ins Heute zu übersetzen. So richtig scheint das noch nicht zu funktionieren, wenn sogar aus der CDU heute wieder DDR-Vergleiche zu vernehmen sind.

Das deprimiert mich und macht mich sehr nachdenklich. Haben wir bei der Aufarbeitung der DDR-Diktatur wirklich genug geleistet? Für mich sind drei Themen entscheidend: Das ist einmal die DDR-Geschichte, von Opposition und Widerstand, das ist die Geschichte der Friedlichen Revolution bis zur Volkskammerwahl und dann eben dieser große Impuls für die Gestaltung einer neuen, demokratischen Gesellschaft. Gerade aus der letzten Etappe leitet sich der Auftrag ab, sich heute einzumischen und Gefahren zu sehen.

 

Aber können Sie das erklären, warum das noch nicht verfängt?

Die Generation heute blickt ganz anders auf die Geschichte als die vor 15 Jahren. Wir haben eine große Chance, weil uns junge Leute mit einer großen Neugier begegnen. Zum anderen sehe ich aber auch, dass es eine Erzählung gibt zwischen Enkeln und Großeltern. Das ist jetzt die Zeit, in der Enkel fragen und Großeltern gerade noch leben. Zeitzeugen können sehr authentisch berichten, haben die Zeit des Umbruchs aber auch ganz vielfältig erlebt, mit biografischen Brüchen, mit neuen Positionen, die sie einnehmen mussten. In diese Erzählungen müssen wir uns mit einbringen, um gar nicht erst nostalgische Verfärbungen aufkommen zu lassen. Das schließt natürlich das persönlich Lebensfrohe und Gelungene keineswegs aus, das darf in der Erzählung nicht fehlen.

 

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat dieses Jahr den Diskurs um die Erinnerung an die DDR mit seinem Buch »Freiheitsschock« neu belebt. Er kritisiert genau diese Form der Erzählungen in den Familien, weil Erinnerungen an die DDR individuell stark verklärt weitergegeben würden. Braucht es insofern nicht ein viel stärkeres Korrektiv aus der politischen Bildung?

Politische Bildung mit authentischer Familienerzählung zu verbinden, ist ja eine große Chance. Klar, vieles wird immer öfter sehr nostalgisch und beschönigend wiedergegeben. Es ist eine Frage der Bildungsarbeit, das zu kontextualisieren, was Kinder aufnehmen oder Jugendliche erfragen können. Denn sie hören in der Schule das Eine, zu Hause das Andere. Und daraus ergeben sich neue Fragestellungen, für die inzwischen tolle Angebote der politisch-historischen Bildung zur Verfügung stehen, aber das muss in die Lehrpläne und schon in der Grundschule begonnen werden, das ist Demokratie-Bildung.

 

Was halten Sie von Kowalczuks These, dass die plötzliche Erfahrung der Freiheit in den neunziger Jahren ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger überfordert habe und heute in ein reaktionäres Abdriften führe.

Ich schätze Kowalczuk sehr in seiner Bereitschaft, darüber zu sprechen, und es ist interessant, wie viele er damit erreicht. Die Freiheit in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat die Mehrheit Ostdeutschlands selbst gewählt. Den Einen rüttelte es damals an den Wurzeln, der Andere konnte irgendwie damit besser umgehen und hat sich in der neuen Freiheit total schnell zurechtgefunden. Da schließt sich der Kreis zu den heutigen Zukunftsthemen: Wie können wir mit den katastrophalen Prognosen umgehen, ohne komplett zu verzagen? Vielleicht sollten wir uns deshalb an diesen Aufbruch und seine Hoffnungen, das Aufrappeln aus Enttäuschungen und die großen Erfolge bewusst sehen: Wer hat 1990 von einem solch wundervollen Leipzig zu träumen gewagt, in dem wir jetzt leben dürfen?

 

Ihre meiste Zeit widmen Sie aktuell der Arbeit am Leipziger Einheits- und Freiheitsdenkmal, für das Sie die Projektleitung innehaben. Wie kann ein Denkmal dazu beitragen, dass anders über das Damals gesprochen wird?

Es war schon etwas gewagt, diesen Ball noch mal aufzunehmen, der ja eigentlich geprägt war vom ersten Anlauf, der nicht gelang. Wir haben die Chance, im öffentlichen Raum nicht nur ein Zeichen zu setzen, sondern verstetigt das Andenken an die Friedliche Revolution zu positionieren, was wahnsinnig viel Anregung geben kann. Man kann über die weißen Flächen des Preisträgerentwurfes streiten, aber die bringen so viel Tiefsinn, Offenheit und so viele Möglichkeiten, damit zu arbeiten. Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass in dem Park Schulklassen ihre Projekttage verbringen, mit dem Denkmal arbeiten, eigene Gedanken entwickeln und dass dadurch auch eine Aneignung der Stadtgesellschaft von diesem Denkmal wächst.

 

Joachim Gauck hat vorgeschlagen, einfach das Bild von Ihnen und Katrin Hattenhauer, auf dem Sie das Banner »Für ein offenes Land mit freien Menschen« auf dem Nikolaikirchhof hochhalten, in Beton zu gießen und als Denkmal aufzustellen. Was hätten Sie davon gehalten?

Gar nichts. (lacht) Dass dieser Spruch über die Zeit hinweg immer aktuell geblieben ist, das finde ich schon sehr beeindruckend. Ich habe ihn auch immer stärker für mich angenommen. Aber ich sehe es halt wirklich als eine Aktion, die von vielen mitgetragen wurde, und deshalb fände ich es total unpassend. Und trotzdem: Es gibt ja die Meinung, man solle doch alles nur im Kontext 89 lassen und gar nicht interpretieren. Aber wir können mit den Bildern von damals die Brücke schlagen zu dem, was uns heute bewegt, zu den Fragen, die wir noch haben und denen wir nachgehen müssen und wollen.

> Mit dem am selben Tag wie Oltmanns zum Ehrenbürger ernannten Wolf-Dietrich Freiherr Speck von Sternburg – laut OBM Burkhard Jung »unser städtischer Geheimdiplomat in vielerlei Beziehungen« – beschäftigen wir uns in der Februar-Ausgabe.


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